Das Geheimnis der Silberwölfe (Autor: Dirk Wonhöfer)
 
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Das Geheimnis der Silberwölfe

Autor: Dirk Wonhöfer

 

Die kalte Nachmittagssonne brannte auf meinen Schädel, während ich mich durch die Schneewehen quälte.

Meine Kleider waren zerrissen und fast ebenso mitgenommen wie mein Mut. Überall an meinem Körper fühlte ich die Stichwunden, die mir meine ehemaligen 'Freunde' zugefügt hatten. Ich stolperte, kippte nach vorn und rutschte ein paar eisige Hänge hinab, nur, um an ihrem Fuße zum Liegen zu kommen. Daß ich noch keine Knochenbrüche hatte, grenzte an ein Wunder. Die spitzen Steine, die hier allenthalben aus den eisigen Stellen ragten, konnten einen Mann in zwei Hälften schneiden.

Ohne auf die Schmerzen zu achten, stiefelte ich weiter. Die unbarmherzige Sonne war in diesen Höhen kaum zu ertragen. Zum einen verbrannte sie meine Haut, doch andererseits brachte sie meinem Körper keine Wärme. Was für eine Verschwendung von Sonnenlicht, schoß es mir durch den Kopf. Nichtsdestotrotz, ich kämpfte mich weiter nach unten. Irgendwo dort, wohin mein Blick nicht reichen konnte, weil eine massive Wolkendecke mir die Sicht versperrte, mußte ein im Frühlingsduft erblühendes Tal liegen. Ich mußte es nur schaffen, dorthin zu kommen, ohne vorher hier oben einzuschlafen. Aber die Luft war so dünn und machte schläfrig. Es gestaltete sich schwierig, wach zu bleiben.

Die Elben, dachte ich an die kleine Karawane zurück, mit der ich gereist war. Ich hatte eine lange Zeit unter ihnen zugebracht und dachte, daß sie mich, einen Menschen, langsam akzeptiert hätten. Natürlich wußte ich, daß ich Onanga, dem Anführer der Sippschaft, schon immer ein Dorn im Auge gewesen war. Aber daß sie mich auf einer unserer gemeinsamen Reisen einfach abstechen und mich auf einem verschneiten Bergpass zurücklassen - an so etwas hatte ich nicht einmal gedacht. Um so überraschter hatte mich der Schlag auf den Hinterkopf um die eigene Achse fahren lassen, als wir die Nebelbrücken passierten. Bevor ich mehrere Stiche in der Magengegend spürte, sah ich Onanga in die kalten Elbenaugen, dann rammte auch er mir sein geschnitztes Messer in den Leib. Aber sie wollten mich nicht töten. Ich hatte zu viele Schlachten mit ihnen gemeinsam geschlagen, als daß ich so blind hätte sein können, zu denken, daß sie mich töten wollten. Jedenfalls wollten sie mich nicht sofort tot sehen. Ich sollte Schmerzen erleiden und mich in meiner Qual verzehren, bevor der Tod mich holte.

Doch ich würde ihnen diesen Gefallen nicht tun. Meine Hände schoben den hüfthohen Schnee beiseite, während ich die uralten Massen gefrorenen Wassers zu besiegen versuchte. Als meine Finger schon längst taub und gefühllos waren, dämmerte es mir allmählich, daß ich einen Kampf gegen das ewige Eis nicht gewinnen würde, und sollte er tausend Jahre dauern. Ich würde mich mit der Kälte anfreunden müssen, um zu überleben. Anpassung war das Zauberwort. Ich mußte einen Weg finden, meiner bedrohlichen Lage ein Schnippchen zu schlagen.

An meiner Seite fühlte ich das schier tonnenschwere Gewicht meines Schwertes. Die Elben hatten sich nicht die Mühe gemacht, es mir abzunehmen, und ich selbst hatte viel zuviel Angst vor Wölfen oder sonstigen Angreifern, die hier oben ihr Unwesen treiben konnten, als daß ich bereit gewesen wäre, mich um diese Last zu erleichtern. Und wer weiß, vielleicht konnte ich mir ja jetzt meine eigene Dummheit zu Nutze machen. Mit der starren Klinge hieb ich Blöcke aus dem Eis und formte mir in mühseliger Arbeit ein kleines Iglu. Es würde mich durch die Nacht bringen, die bald hereinzubrechen gedachte. Bevor der Horizont seine rötliche Farbe verloren hatte, saß ich bereits in meinem kleinen Häuslein und kaute auf kaltem Schnee, um meinen unsäglichen Durst zu stillen. Das wenige Wasser, das ich gewann, schmeckte abgestanden und widerlich, doch es belebte meinen Geist und erfrischte meinen wunden Körper. Wie lange würde ich es wohl in dieser Eiswüste aushalten? Wie lange konnte ein Mensch, noch dazu in meinem bitteren Zustand, in dieser Einöde seinen Weg beschreiten? Mit diesen und anderen gräßlichen Gedanken wälzte ich mich durch den Schlaf, bis der nächste Morgen mich mit blendender Helligkeit weckte. Die Eisblöcke, aus denen mein kleines Heim gefertigt war, spiegelten und reflektierten die aufgehende Sonne in allen Farben des Regenbogens. Einerseits war es wunderschön, andererseits hielt es mir nur wieder schmerzlich vor Augen, daß ich in einem Gefängnis aus Kälte saß.

Schon früh an diesem Morgen brachte ich die ersten Bergkuppen hinter mich, und nun wanderte ich in dunkle Wolkenbänke hinein. Die Luftfeuchtigkeit war hier viel höher als in den Gefilden, aus denen ich kam. Obwohl es kalt war, schwitzte ich in meinen Lumpen, und mein Schwert schien mit jedem Schritt an Gewicht zuzulegen. Ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken, es zurückzulassen. Glücklicherweise setzte ich ihn nie in die Tat um - sei es aus Stolz oder einfach, weil ich ein Narr bin - , denn schon bald führte mich meine ziellose Route an eine Klamm. So tief hinab erstreckte sich die Schlucht, daß ich ihr Ende ob des Nebels nicht zu erkennen vermochte, doch von den Wänden hallte ein dumpfes, plätscherndes Geräusch herauf. Ein Fluß schlängelte sich durch diese Berge, aber da ich nicht wußte, wo mich die Elben von ihren Karren geworfen hatten, konnte ich nicht genau sagen, welcher Strom es war. Meine geographischen Kenntnisse waren gut, doch war ich kein Hellseher.

Ich begann, an der Klippe der Klamm entlang zu wandern, und als ich eine Gruppe mächtiger Schierlingstannen nah an ihrem Rande vorfand, machte ich mir mein Schwert zu Nutze und fällte einen der Bäume. Es war die wohl härteste Arbeit, die ich je in meinem Leben verrichtet hatte. Das Holz des Baumes war fest und stark und voller Leben, und mit jedem Schlag meiner Waffe, die für weiß Gott andere Dinge bestimmt war als ein solches Unterfangen, verließ mich ein Teil meiner Kraft. Ich hackte bestimmt den halben Tag, denn als die riesige Tanne endlich kippte, war die Sonne längst über den Zenit gekrochen und wanderte langsam auf die Berge zu, über die ich gerade gekommen war.

Ich atmete erleichtert auf, als der Baum genau so fiel, wie ich es wollte: Direkt über die Schlucht. Ich hatte mir eine Brücke geschaffen und konnte meinen Weg fortsetzen. Die kleinen Äste und Zweige mit den Händen beiseite schaffend und die größeren mit meiner Klinge zerhackend, kroch ich Stückchen für Stückchen über die Tanne. Ich wollte einen Blick nach unten riskieren, doch der wurde mir von den Nadeln versperrt. Als ich mich schon fast am Ende der Schlucht wähnte und meine erregten Füße immer unvorsichtiger wurden, geschah das Unglück.

An einer Stelle hatte ich einen Ast übersehen, in dem sich mein Fuß verfing und mich längelang zu Boden schickte. Ich fiel in die raschelnden Zweige, die mich abfedernd auffingen und zur Seite schleuderten. In ohnmächtiger Verzweiflung griff ich nach den Ästchen, die sich mir entwanden und nur Harz in meinen Handflächen zurückließen. Meine Haut zerrieb sich an der Borke und meine Schuhe mußten irgendwo im Geäst hängengeblieben sein, da ich sie plötzlich nicht mehr trug. Ich rutschte immer weiter ab, und nur ein wohlwollendes Schicksal bewahrte mich vor ernsthaften Verletzungen, da ich noch immer mein Schwert in der Rechten umklammert hielt und nicht loszulassen gedachte. Letztendlich gab es keinen Baum mehr, der mich hielt, und ich stürzte wenige Meter tief auf einen verschneiten Vorsprung der Klamm ab. Etwas verwirrt betrachtete ich meine Waffe und schob sie zurück in ihre Scheide. Durch die Bewegung merkte ich, wie etwas unter mir nachgab. Die pappigen Schneemassen glitten hinweg, und ich krallte mich an nichts als Eis und gutem Glauben fest und versuchte, nicht mit ihnen in die Tiefe zu rauschen. Doch all meinen Bemühungen zum Trotz schob sich mein Körper mit den Brocken zusammen auf den Abgrund zu, bis ich mich nicht mehr halten konnte und die Schwerkraft an mir zog wie ein Angler an einer Schnur. Kühle Luft ließ meine Haare flattern und blies mir Schneestaub in die Augen. Ich rechnete jeden Moment mit einem harten Aufprall, der mir das Leben aus dem Leib stoßen würde, doch ich prallte in einen weiteren Hügel aus Eis und Matsch, der meinen Fall verlangsamte. Schneebrocken, Steine und allerlei Eisklumpen mit mir reißend schlitterte ich den Hang hinunter, bis ich über einen kleinen Vorsprung geschleudert wurde und mitten in der Luft hing.

In der nächsten Sekunde schon umklammerte mich plötzlich eisiges Wasser. Ich stöhnte entsetzt auf und konnte nicht mehr atmen, so kalt war es. Die Fluten spülten mich fort, und ich tauchte unter und versuchte, meinen Schwertgurt zu lösen, doch meine steifen Finger waren nicht mehr zu gebrauchen. Dann schwappten die Wellen über meinem Kopf zusammen, und das brennende Wasser in meiner Lunge ließ mich hilflos zappeln. Das letzte, was ich sah und fühlte, bevor mich die Besinnungslosigkeit mit sich nahm, war das schwarze, wilde und ungebändigte Wüten des Flusses...

 

Ich hatte Sand unter meinen Fingernägeln. Das war alles, woran ich dachte, als ich aufwachte. Ich zuckte ein wenig mit den Kuppen. Noch mehr loser Sand - oder war es nasse Erde? - grub sich unter meine Nägel. Dann begann ich, meinen Kopf wieder zu spüren. Besser gesagt, ich spürte ein hämmerndes Pochen an der Stelle, an der sich mein Kopf befinden sollte. Mit unendlichem Kraftaufwand brachte ich ein leichtes Zwinkern zustande. Verschwommene Bilder boten nicht viel von dem Ort dar, an den es mich hier verschlagen hatte. Ich raffte mich vom Boden auf und robbte auf den Knien nach vorn. Meine Handflächen standen auf irgendetwas Weichem, das sich bei näherer Betrachtung als Gras herausstellte. Gras? Wie kam es, daß hier kein Schnee mehr lag? Ich drehte mich im Kreis, und überall um mich herum sprossen Büsche und kleine Bäume aus dem gesunden, grünen Boden. Auch war es merklich wärmer geworden, meine nassen Kleider ließen mich nicht einmal frieren. In der Luft zwitscherten Vögel, und an den Sträuchern hingen wundervoll anmutende Beeren. Ich wähnte mich schon tot oder in einem Traum, bis ich die Beeren in meinen Mund stopfte und hastig herunterschluckte. Sie schmeckten genauso gut, wie sie aussahen, und im Nu hatte ich den ersten Busch kahl gegessen. Ich verzichtete zuerst sogar auf das Kauen, doch ich zwang mich dann doch dazu, die Nahrung zu zerkleinern.

Voller neuer Kräfte und gestärkt wankte ich von den Gewächsen fort und wunderte mich über das kleine Paradies, das sich hier inmitten der eisigen Berge erstreckte. Mein Blick wanderte an den Klippen, die den nahen Wald umgaben, empor, und etwas weiter oben konnte ich die Schneemassen ausmachen, die hier zu fehlen schienen. Seltsam. Ganz so, als ob das Eis sich nicht trauen würde, diese Stätte des Lebens zu zerstören, wunderte ich mich, doch ein markerschütterndes Heulen riß mich aus meinen Gedanken. Auf einer nahen Hügelkuppe stand ein Rudel von Wölfen. Ich hatte sie nicht bemerkt gehabt. Voller Angst erkannte ich, daß meine Unvorsichtigkeit mich Kopf und Kragen kosten würde. In Panik fingerte ich nach meinem Schwert, als der erste Wolf auf mich zusetzte. Ich bekam den beruhigenden Griff meiner Klinge zu fassen und zog sie erschöpft aus ihrer Scheide. Der Wolf, nun nur noch wenige Fuß von mir entfernt, blieb plötzlich stehen und betrachtete mich mit wachsamen Augen. Zorn und Gier blitzten in seinen Pupillen, doch er schien mich nicht angreifen zu wollen. Als auch die anderen Tiere des Rudels näher kamen und sich in einer Traube um mich herum scharten, überkam mich eine Gänsehaut. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, doch keiner der Wölfe fiel mich an. Ihre hellblauen Augen funkelten, und ihr silbernes Fell wogte wie glitzernde Wellen, während sie mich neugierig umrundeten.

Ich machte ein paar vorsichtige Schritte, und dort, wo die Wölfe einen Kreis um mich bildeten, öffnete sich eine kleine Schneise. Die riesigen Tiere wichen erhaben beiseite, doch ich wußte, daß sie es aus freiem Willen taten. Sie hätten mich jederzeit töten können. Mit meinem Schwert hätte ich es nicht einmal fertig gebracht, auch nur einen von ihnen zu verwunden, geschweige denn, ihnen allen entfliehen zu können.

Langsam stolperte ich davon, in irgendeine beliebige Richtung. Die Wölfe sahen mir nach, fixierten mich mit ihren wissenden Blicken, doch sie folgten mir nicht. Aus Angst, sie würden darauf warten, daß ich mich umdrehte, wandte ich ihnen nicht den Rücken zu. Ich sah über meine Schulter nach hinten und erkannte eine Höhle, die in einer Felswand klaffte wie ein gigantisches Maul. Ich wußte nicht, wovor ich mich mehr fürchtete: Vor den Wölfen oder vor der Höhle. Trotzdem ließ ich die sattgrüne Ebene hinter mir und betrat den düsteren Schlund, der in den Berg hineinführte. Der Gang beschrieb eine Biegung, und bevor ich ganz hinter der nächsten Wand verschwunden war, sah ich noch, wie die Wölfe aufholten und am Rande der Höhle Aufstellung bezogen. War ich nun ein Gefangener, oder hatte dieses Loch noch einen zweiten Ausgang?

Der Tunnel fiel leicht abwärts, und mit dem Gefälle kehrte auch ein wenig Kälte wieder. Das Licht wurde hier dämmriger, und mit jedem weiteren Schritt verdichteten sich die Schatten um mich herum. Ich schrie laut auf, als ich über eine Unebenheit am Boden fiel und mit dem Kinn auf den harten Fels schlug.

Als ich mich aufrappelte, sah ich, worüber ich da gestolpert war: Es war ein schuppiger, heller Schwanz, dicker als ein menschlicher Körper. Ich folgte dem Gebilde mit meinen Augen, bis ich an einer weitaus monströseren Gestalt hängen blieb, als ich sie hier unten erwartet hätte. Ein Drache lag vor mir, sein großer Leib war zwischen die Wände gequetscht und sein langer Kopf mit der reptilartigen Schnauze ruhte auf seinen Pranken. Er stieß mit dem Rücken an die Höhlendecke und mit dem Schwanz gegen die andere Seite des Tunnels. Seine Pupillen folgten jedem meiner Blicke. Er musterte mich.

Ich taumelte rückwärts, bis ich gegen die Wand stieß. War es Angst, die ich empfand? Oder Entsetzen? Ich hatte nie zuvor einen Drachen zu Gesicht bekommen, doch hatte ich in Büchern fiel über sie gelesen. Sie waren nicht weniger intelligent als alle anderen Rassen. Drachen konnten sogar Sprechen, und sie mußten es nicht einmal erlernen, da sie einen Großteil ihres Wissens von ihren Eltern erbten. Aus diesem Grunde waren sie wohl die von Geburt an weiseste Rasse, die das Licht der Sonne erblickt hatte. Sie gaben ihre Erfahrungen bei der Geburt an ihre Nachkommen weiter.

Wer bist du? fragte eine wispernde Stimme, die in den Raum hinein erklang. Sie war überall und nirgends zugleich, ganz so, als ob man seinen eigenen Gedanken lauscht. Der schief gelegte Kopf des Drachen hatte sich nicht gerührt.

"Ein Freund" antwortete ich und gab mir Mühe, trotz meines zerrissenen Äußeren möglichst freundlich zu wirken. "Was tut Ihr hier?" fragte ich meinerseits.

Den ewigen Garten am Leben erhalten. Der Drache bewegte seine Beine, und ich sah die wundgeriebenen Stellen, die seine Haut verunstalteten. Ich bin der Grund für den immerwährenden Sommer, der draußen vor der Höhle herrscht.

Der Drache klang traurig und angespannt. Er schien mir verletzlicher als ich selbst es jemals sein könnte. Zuversichtlich machte ich einen Schritt nach vorn und beugte mich über die Tatzen des Drachen. Die Klauen hatten sich, auf Grund von zu wenig Benutzung wahrscheinlich, nicht von selbst abgenutzt und waren tief ins Fleisch der Pranken gewachsen. Die Haut des gewaltigen Tieres schimmerte und glänzte von Innen heraus, und mir wurde gewahr, welches sagenumwobene Wesen hier vor mir lag.

"Ihr seid ein Seelendrachen, nicht wahr?" Vage erinnerte ich mich an die Schriften, die ich studiert hatte. In ihnen hieß es, daß unter all den Drachenarten auch eine Rasse existierte, die die Seelen verstorbener Vorfahren in sich trug und bei ihrem Tod gleichfalls an ihre Nachkommen weitergab. Diese Tiere verfügten über die größte Macht, die es auf der Welt nur gab: Sie konnten Leben schaffen und Wärme geben. Nur ein Seelendrachen konnte imstande sein, aus einer Eiswüste ein Paradies zu erschaffen.

Du sprichst die Wahrheit, bestätigte der Drache. Erst jetzt sah ich, daß es ein weibliches Wesen war, das sich hier voll Pein die Haut zerschürfte. Als Kind kam ich in diese Höhle, um mich von einem anstrengenden Flug zu erholen. Doch ein Rudel von Wölfen fand mich und ließ mich nicht mehr gehen. Ich bat den Leitwolf, mich frei zu geben, aber er hörte nicht auf mich. Er zwang mich, ihnen ein prächtigeres Reich zu erschaffen und mit Leben aller Art zu füllen, auf daß sein Rudel nie wieder Hunger leiden müßte. So kam ich seiner Forderung nach und ließ den Schnee schmelzen und die Bäume blühen. Aber die Wölfe wußten, daß all das satte Grün wieder vom ewigen Eis verdeckt werden würde, wenn sie mich gehen ließen. Also bewachten sie mich Tag und Nacht und ließen mich nicht aus dieser Höhle heraus. Mit den Jahren nahm mein Körper an Größe und Fülle zu, bis ich irgendwann nicht mehr entfliehen konnte.

Ich hatte der Drachin aufmerksam gelauscht und schüttelte voller Mitleid meinen Kopf. "Aber wieso haben mich die Wölfe nicht angegriffen, als ich vor ihnen stand?"

Das leise Wispern setzte sich fort: Ich fühlte deine Anwesenheit und wandte all meine Kraft auf, um dich vor ihnen zu beschützen.

"Wieso?"

Weil ich dich nicht leiden sehen möchte, so wie ich unter diesen Wölfen leide.

Ich faßte einen Entschluß. "Ich werde Euch helfen." Stolz klang aus meiner Stimme heraus, denn ich wußte, daß es meine Bestimmung war, diesen Drachen zu retten. Warum sonst hatte es mich hierher verschlagen?

Du kannst mir nicht helfen. Du mußt gehen, denn meine Stärke schwindet schnell. Ich werde ihnen nicht ewig einflüstern können, dich in Frieden gehen zu lassen. Geh, solange du noch kannst.

"Und was wird mit dir?"

Ich werde den Wölfen weiterhin Untertan und Diener sein. Geh nun, ich werde das Rudel zurückdrängen.

Ich starrte wie gebannt auf die Augen der Drachin, in denen das Wasser der Trauer wie ein Ozean schimmerte. "Ich werde nicht entkommen können" machte ich das Wesen auf meine schlechte Verfassung aufmerksam. "Seht mich an. Ich habe unzählige Wunden und bin noch erschöpfter, als Ihr es seid. Laßt mich hier bleiben, dann werde ich Euch bis zu meinem Tode Gesellschaft leisten."

Noch im selben Moment, in dem ich aufhörte zu sprechen, durchfuhr mich ein Wärmeschauer, und mein Kopf dröhnte, als würde ein Schwarm Bienen darin wüten. Hitze durchflutete mich von allen Seiten, und als die Wellen meinen Leib durchdrungen hatten, wußte ich, daß mein Körper wieder genesen war. Ich fühlte mich besser als jemals zuvor in meinem Leben. Stärke flutete in meinen Adern und Muskeln.

Nun hast du die Kraft, zu gehen und zu entkommen. Die Drachin hob den Kopf und sah mir in die Augen. Um mich mußt du dir keine Sorgen machen, denn die Wölfe werden mir kein Leid zufügen. Sie brauchen mich.

Ich sah an mir herab und dann wieder auf den liegenden Drachen. Ich traf die einzige Entscheidung, die ich für richtig hielt.

Ohne zu zögern hob ich mein Schwert, holte Schwung und ließ die Klinge mit aller Kraft niedersausen. Ich durchtrennte den Hals des Drachen und versenkte die Schneide sogar noch weiter, bis in die harte Tunnelerde. Ich hatte das majestätische Wesen, das frei durch die Lüfte schweben sollte und nicht eingesperrt sein durfte, von seinen Leiden und seinen Schmerzen befreit, so wie es das selbe für mich getan hatte. In dem Moment, in dem die Drachin starb, spürte ich das stumme Aufschreien von tausenden von Seelen.

Die Wärme um mich herum verebbte schlagartig und ich wußte, daß das wunderbare Reich vor der Höhle nun in sich zusammenfallen würde wie ein Haus aus Zweigen, das von einer Lawine überrollt wird. Wütendes Knurren und Grollen ertönte vom Eingang her und kam näher. Die Wölfe fühlten, daß der Drache tot war. Und nun würden sie sich das letzte bißchen Nahrung holen, das ihnen vor dem erneuten Einbruch des Winters vor die Lefzen kam.

Ich zog mein Schwert aus der Erde, schob es in die Scheide und kniete mich demütig vor den Drachen. Pfoten klopften und scharrten auf dem Höhlenboden, als die Wölfe um die Biegung des Ganges stürzten und auf mich zu hetzten. Ich schloß die Augen und wartete auf meinen Tod.

 

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Erstellt: 27.07.2005, zuletzt aktualisiert: 27.09.2016 09:58, 803