Das magische Erbe (Autorin: Christel Scheja; Genre: Fantasy)
 
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Leseprobe: Das magische Erbe

1. Kapitel

Abschied von der Feenwelt

 

»Jeder Wald hat seine Eigenarten. Der eine ist dunkel, und dich fröstelt, wenn du ihn durchschreitest. Hinter jedem Baum vermutest du Schatten, und das Rascheln der kleinen Tiere im Unterholz macht dir angst. Das feuchte Moos an den Bäumen verrät dir, daß die Stämme noch nie Licht gesehen haben, und du fragst dich, wie in diesem Gehölz etwas leben kann. Alles wirkt alt und abgestorben, als habe Tsas Gabe es schon lange nicht mehr berührt.

Dann gibt es die lichten Haine, in denen junge Bäume den Lichtflecken entgegenwachsen, die über ihnen tanzen. Das Grün ist jung und frisch wie im Frühling. Dort möchtest du umhertollen und das Laub vom Vorjahr aufwirbeln. Du beugst dich hinunter und berührst die warme Erde, die würzig duftet. Das Sonnenlicht hüllt alles in glitzernden Dunst.

Doch euer Wald, Lyret, ist nichts davon und alles zugleich. Ich brauche mich nur umzusehen, mit jedem Schritt verändert er sich«, erklärte die junge Frau mit den rotbraunen Haaren und berührte vorsichtig, als handle es sich um filigranes Zauberwerk, einen Busch. »Selbst die Spinnweben scheinen hier ein eigenes Licht auszustrahlen. Ich spüre, ich atme die Magie, aber ich kann sie nicht verstehen.« Sie seufzte und drehte sich zu ihrer Begleiterin um, die sie verständnisvoll anlächelte.

»Sie ist dir so fremd, wie du uns fremd bist, Rhuna«, sagte die hochgewachsene goldenhaarige Frau. Ihr Gesicht lag im Schatten, ihre feingliedrigen Finger berührten in einer flüchtigen Geste Rhunas Wange. »Ihr Sterblichen lebt, ohne die Welt um euch zu verstehen - wie also solltest du diesen Ort hier begreifen können?«

Die Magierin nickte. »Da wirst du wohl recht haben. In den Monaten, die ich bei euch verbrachte, habe ich Dinge gesehen, von deren Existenz ich bisher nicht einmal etwas geahnt habe. Wer weiß, welche Geheimnisse sich sonst noch auftun.« Sie hielt inne und zog eine Augenbraue hoch. »Lyret, was ist mit dir? Warum bist du so still?«

Ihr Gegenüber trat in das Licht eines verirrten Sonnenstrahls. Ihr lindgrünes Gewand begann zu funkeln. Die Gesichtszüge der Frau wirkten fremdartig, schmal und spitz wie die einer Maus. Tiefbraune Rehaugen musterten die Menschenfrau traurig. »Ich muß dir etwas mitteilen.«

Rhuna senkte den Kopf. »Ich verstehe. Du willst mir sagen, daß die Zeit gekommen ist, euch zu verlassen.«

Ein Nicken. »Du bist eine Sterbliche und gehörst nicht in die Feenwelt. Allein schon deine Anwesenheit stört den zeitlosen Frieden. Nun, da deine Wunde, die Elathalion schlug, verheilt ist«, sie berührte die Menschenfrau am Schlüsselbein, »mußt du gehen. Ohne Umschweife - so fordern es die anderen meines Volkes!«

»Aber ich bin darauf nicht vorbereitet, Lyret!« Rhuna ergriff die Hand der anderen. »Ich will gehorchen, aber ich bitte noch um Aufschub!« rief sie verzweifelt. »Ich muß meine Sachen zusammensuchen ... die Aufzeichnungen, meinen Stab, die Bücher ... Ich muß mich vorbereiten. Oder glaubst du, ich wüßte nicht, daß ich eine veränderte Welt vorfinden werde? Wieviel Zeit ist jenseits der Nebel vergangen?« Sie musterte ihr Gegenüber ernst. »Lyret, du warst immer eine Freundin der Menschen. Ich bin mir sicher, daß du ungefähr weißt, wie viele Jahre verstrichen sind.«

»An die Zeit, in der du gelebt hast, erinnern sich die Sterblichen nur noch in Legenden.« Die tiefblauen Augen der Magierin weiteten sich - sie ahnte, was das zu bedeuten hatte. Die Holden zählten die Jahre nicht in der Art der Menschen, so daß sie von Lyret keine genaue Nennung erwarten konnte, es mußte aber gewiß mehr als ein Jahrhundert vergangen sein.

Ungerührt sprach Lyret weiter: »Du mußt noch mehr wissen: In der Menschenwelt herrscht eine Zeit der großen Umwälzungen. Kriege brachten Leid und Schmerz über die Sterblichen. Ein jeder ward des anderen Feind. Leichtsinnig stießen Sterbliche, die sich für allwissend hielten, Tore auf, die sie besser endgültig geschlossen hätten. Das öffnete den Weg für die dunkle Seele, die nun Wald um Wald und Feld um Feld in ihren Schattenmantel hüllt.« Lyret befreite sich aus Rhunas Griff und faßte ihrerseits die Gelenke der Menschenfrau. »Keine Sorge. Ich kümmere mich um deine Habseligkeiten. Du wirst sie auf der anderen Seite des Tores vorfinden. - Ich habe noch einen Grund, dich fortzuschicken: Du wirst in deiner Welt gebraucht. Dem Unheil nicht genug, hat die Torheit der Menschen die Mauern zwischen den Welten durchlässig gemacht, und in der Folge ist auch dein Feind aus seinem Gefängnis entkommen.«

»Du meinst ... Elathalion ist frei?«

Lyret nickte. »Ja, der Fürst wandelt wieder zwischen den Welten hin und her. Ich spürte seine Aura nur für einen Lidschlag, als ich den Nebelweiher aufsuchte, aber ich las in ihr wie in den Linien eines Blattes: Elathalions Geist ist besessen von dem Ziel, das er sich selber gesetzt hat. Und zerfressen von dem Haß, den er gegen dich und die beiden Liebenden hegt - gegen die Menschen, die seine Pläne durchkreuzten.«

Rhuna nickte düster. »Unser Kampf hat mich fast das Leben gekostet. Doch Brannon ist - wenn ich richtig vermute - längst zu Staub verfallen, und seine Seele hat Eingang in Borons Hallen gefunden, wo er mit seiner Caellin vereint ist.«

Die Holde schüttelte den Kopf. »Nein!« sagte sie. »Manchmal lausche ich den Stimmen des Windes, und sie erzählen mir erstaunliche Dinge. Die Alveranischen haben den beiden ein neues Leben gewährt, jedoch um den Preis des Vergessens. Du mußt die beiden finden und ihnen helfen, ihre Erinnerung wiederzugewinnen. Allein mit dem alten Wissen sind sie gegen die Grausamkeit Elathalions gefeit. Denn nur gemeinsam könnt ihr gegen Elathalion bestehen: die Hand, die das Eisen führt, der Geist, der die Hohen Mächte lenkt, und das Herz, das voller Liebe ist, werden sein Untergang sein!«

Rhuna drehte ihre Hand und betrachtete das Akademiesiegel, das durch ihren Aufenthalt in der Anderswelt verblaßt und kaum noch zu erkennen war. Sie entsann sich ihrer Vorgehensweise, ein Problem zu lösen. »Wo werde ich Brannon und Caellin finden? Wie soll ich ihre Erinnerungen wecken?«

»Du wirst die Antworten auf der anderen Seite finden!« Der Tonfall der Holden duldete keinen Widerspruch. »Geh jetzt!«

Rhuna zeigte Tatkraft. »Ich gehorche. Bring mich nach Dere!«

Die Holde nickte und deutete zwischen die Bäume des Waldes. Das Unterholz verschwamm in den milchigen Schwaden des Nebels, der an diesem Ort kam und ging, wie es ihm gefiel.

Rhuna atmete tief ein, als sie dort ein Glitzern und Funkeln sah, und warf einen Blick über die Schulter. Am Rande einer Lichtung standen schattenhafte Gestalten, wie sie sie oft während ihres Aufenthaltes in der Anderswelt gesehen hatte: Die meisten Holden hatten sich Rhuna auf diese Weise gezeigt, nur wenige waren freundlich und neugierig genug gewesen, um sich für die Menschenfrau zu interessieren. Sie umarmte Lyret noch ein letztes Mal. Dann straffte sie die Schultern und ging mit weit ausholenden Schritten auf den Nebel zu. Furchtlos stellte sie sich zwischen die Schwaden und blickte auf die Freundin zurück, der sie so viel zu verdanken hatte. Lyret hob einen Arm, als wolle sie Rhuna zum Abschied winken. Goldene Funken fuhren aus ihren Fingerspitzen und trübten die Sicht der Menschenfrau.

 

Als die Benommenheit wich, wußte Rhuna im ersten Augenblick nicht, wo sie war. Ihre Hände krallten sich in sonnengewärmte Erde. Benommen starrte sie auf einen Holunderbusch. Mit einem Stöhnen versuchte die Magierin aufzustehen, aber eine unerwartete Schwäche lähmte ihre Glieder. War etwas falsch gelaufen?

Verwirrt setzte sie sich auf.

Die Umgebung war ihr fremd, aber das wunderte Rhuna nicht: Sie war kaum in Albernia herumgereist. Und wie sie aus den Büchern wußte, veränderte sich die Landschaft unaufhörlich. Sie durfte nicht vergessen, daß sehr viel Zeit vergangen war.

Vor ihr lag ein weites Tal mit kleinen Hügeln, zwischen denen sich ein glitzernder Fluß hindurchwand. Ein lauer Wind malte Wellenlinien in das Schilfgras an seinen Ufern. Die Erlen und Buchen der bewaldeten Hügel standen in frischem Grün. Blumen und junge Pflanzen sprossen auf den Wiesen, und über allem lag der würzige Duft des Jasalinkrautes. Eine Biene summte an Rhunas Ohr vorbei.

Die Frau lauschte eine Weile dem Gesang der Vögel in den Bäumen, dem Knacken und Rascheln um sie herum. Gedankenverloren strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ den Blick schweifen. Bis auf eine zur Hälfte von Gestrüpp überwucherte Turmruine auf einem der Hügel konnte sie keine Anzeichen menschlicher Ansiedlungen erkennen.

Ich muß mich wohl auf ein paar Stunden Wanderschaft vorbereiten, dachte Rhuna. Sie erstarrte. Verwirrt hob sie ihre Hände, drehte sie im Sonnenlicht, zog die Locke, die sie eben noch aus dem Gesicht gestrichen hatte, wieder nach vorne.

Rhunas Augen weiteten sich. »Mögen mir die Zwölfe gnädig sein!« keuchte sie entsetzt und hob noch einmal die Hand, als könne sie es nicht glauben. »Was ist nur mit mir geschehen?«

Dort, wo ihre Haut sich gestern noch glatt und makellos über die Finger gespannt hatte, waren nun Falten und Flecken, die Adern traten deutlich hervor. Die rotbraune Farbe ihres Haares war einem blassen Grau gewichen.

Vorsichtig tastete Rhuna über ihr Gesicht. »Nein! Gnädige Tsa, laß das nicht wahr sein!« Sie schluchzte verzweifelt und schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich bin alt ... steinalt!«

 

Rhuna konnte es nicht fassen. Immer wieder betrachtete sie ihre faltigen Hände. Längst waren alle Tränen geweint, die Augen brannten. »Warum bin ich so rasend schnell gealtert?« schluchzte sie verzweifelt und sackte in sich zusammen. »Mir sind meine kostbarsten Jahre geraubt worden!« schrie sie und reckte den Kopf gen Himmel. »Warum nur?« Dann wieder erfaßte sie kalte Wut. »Wieso hast du mich nicht darauf vorbereitet, Lyret? Du hättest doch wissen müssen, daß es geschieht!« krächzte sie. »Wäre ich nur in Havena geblieben und nicht meinem törichten Drang gefolgt, hinter das Geheimnis der blauen, runenverzierten Steine zu kommen! Wie soll ich den jetzt noch gegen Elathalion bestehen? Ich habe gar nicht mehr die Kraft dazu.« Rhuna schlug mit den Fäusten gegen den Boden und vergrub ihre Finger in dem weichen Erdreich. Zornig zerfurchte sie Erde mit ihren Händen und riß alle Pflänzchen aus, die sie erreichen konnte. »Ich hasse dich Lyret! Du hättest mich damals im Wald sterben lassen sollen! Und nicht erst heilen, um mich dann einem solchen Schicksal zu überantworten!« schrie sie und ballte die Fäuste. »Ich bin eine tattrige Greisin! Mein Leben ist dahin!«

Rhuna sackte in sich zusammen, als ihre Kräfte schwanden und rang heftig nach Atem. Vor ihrem inneren Augen tauchten Bilder aus ihrem verlorenen Leben auf: Sie sah sich selber als junge Frau in einem Studierzimmer, eifrig schreibend oder über ein Buch gebeugt. Vor den Toren der Thaumaturgischen Akademie im Gespräch mit den Magistern. In den Armen ihres Geliebten. In der abagundischen Heide, einen runenübersäten Stein in den Händen. Im Nebel, auf der Flucht vor dem Wolfsrudel. An der Seite des schwarzhaarigen Ritters Brannon. In der Anderswelt - die zeitlosen Wunder bestaundend. Im verzweifelten Kampf gegen den Feenfürsten ...

Rhunas Augen brannten heftiger. Ich habe alles verloren, dachte sie. Und warum? Nur weil ich zur falsche Zeit am falschen Ort war! Sie schluchzte. Warum hast du mich so hart geprüft, große Hesinde?

Eine Weile lauschte Rhuna nur dem Raunen des Windes in den Bäumen und dem Rascheln der Tiere im Unterholz. Eine kühle Windböe ließ sie schaudern, langsam richtete sie sich auf, blinzelnd, als die untergehende Sonne sie blendete. Bald würde es dunkel sein.

Die Magierin stöhnte verärgert, strich sich das Haar zurück und verteilte dabei Schmutz über ihr Gesicht. »Statt nach einem Dorf zu suchen, solange es noch hell ist, hadere ich mit meinem Schicksal und bemitleide mich selber«, schalt sich Rhuna. Die überraschende Veränderung ihres Körpers hatte Gefühle in ihr erweckt, derer sie sich schämte. Betreten blickte Rhuna auf den zerwühlten Boden und ihre schmutzige Kleidung. »Ich führe mich auf wie ein trotziges kleines Kind!« Diesmal betrachtete sie ihre Hände gefaßter. »Und weiß dabei nich einmal, ob Hesindes Weisheit vielleicht diesen Weg für mich vorherbestimmt hat.«

Dann fiel Rhuna etwas ein. Suchend sah sie sich um. »Wo sind mein Stab und meine Bücher?« Sie seufzte erleichtert, als sie die Gegenstände einige Schritt neben sich unter einem Baum liegen sah. Lyret hatte ihr Versprechen gehalten und sogar noch mehr getan: Neben dem Magierstab lagen ihre Tasche und ein Bündel, aus dem es verführerisch duftete.

Rhuna wollte aufstehen und stöhnte im nächsten Augenblick vor Schmerz. Erschreckt stellte sie fest, wie steif ihre Gelenke waren. Sie konnte sie längst nicht mehr so geschmeidig beugen wie früher. Rhuna stolperte zu ihren Habseligkeiten und umklammerte den Stab. Sie preßte das kühle, mit Runen beschnitzte Blutulmenholz an ihren Körper und schloß für einen Moment die Augen, um klare Gedanken zu fassen. Zuerst einmal mußte sie irgendein Dorf oder eine Stadt finden und herausbekommen, in welcher Gegend Albernias sie sich aufhielt und wieviel Zeit wirklich vergangen war. Erst dann konnte sie weitere Pläne schmieden.

 

 

2. Kapitel

Von Pflicht und Ehre

 

Lughaid hatte das Gefühl, bei jedem Schritt in den matschigen Waldboden einzusinken. Am vorangegangenen Tag hatte es in Strömen geregnet, die Erde war völlig aufgeweicht, und das knöchelhohe Laub klebte zusammen. Jetzt schlug sich der Nieselregen auf der eisenbesetzten Lederrüstung nieder. Die Wollkleidung darunter juckte auf seiner Haut, und das Wasser tropfte ihm vom Helmrand ins Gesicht.

Ärgerlich wischte sich Lughaid über die Wangen. Warum hatte sich sein Herr gerade am heutigen Tag in den Kopf gesetzt, die Wilderer aufzuspüren? Warum hatte er nicht auf besseres Wetter warten wollen?

Aber wenn Aethelred von Thunderbach zu Falkraun sich zu etwas entschlossen hatte, konnte ihn niemand davon abbringen. Die Worte des Edlen klangen noch in Lughaids Ohren: »Jetzt müssen wir handeln und uns nicht wie zimperliche Höflinge aus Gareth hinter den Burgmauern verstecken. Bei den Zwölfen! Diese Mörder und Schlächter haben mich lange genug geärgert! Ich werde ihrem Treiben ein für allemal ein Ende setzen!«

Lughaid erinnerte sich an den Wilderer, den sie während der gestrigen Jagd auf frischer Tat ertappt hatten. Junker Aethelred selber hatte aus dem Strolch herausgeprügelt, wo sich seine Kumpane aufhielten, die seit ein paar Monaten im Drausteinischen ihr Unwesen trieben.

Der Junker hatte entschieden, das Wilderernest auszuheben, bevor die Halsabschneider Wind davon bekamen, daß die verpfiffen wurden und sich womöglich aus dem Staub machten. Deshalb war er in der Dämmerung mit Waffenmeister Bran, Lughaid und ein paar anderen Knechten von Burg Falkraun aufgebrochen und am Großen Fluß entlang in Richtung Schilteck geritten. Ihre Pferde hatten sie bei einem Schäfer zurückgelassen, denn die Gegend bei den Madasteinen war für die Tiere unwegsam. Angeblich versteckten sich die Wilderer zwischen den grau-weißen Felsen, die in den Wald hineinragten und von den Ansässigen gemieden wurden. Legenden um verschwundene Menschen und das Wirken boshafter Feen rankten sich um die Steine, verschreckten das abergläubische Landvolk.

Lughaid umrundete eine Stechginsterhecke und blieb im Schatten einer Eiche stehen. Die Madasteine ragten auf der Anhöhe vor ihm auf. Keine Menschenseele war zu sehen, nur ein Fuchs huschte zwischen den Büschen in seinen Bau. Der schwarzhaarige Waffenknecht packte sein Schwert fester und sah sich wachsam nach allen Seiten um. Warum fühlte er sich plötzlich so unwohl? Wo waren der Junker und die anderen Waffenknechte? Hatte er sich zu weit von ihnen entfernt?

Ein Rascheln zu seiner Rechten schreckte Lughaid auf. Er wirbelte herum, das Schwert zur Abwehr erhoben. Seine Augen suchten nach dem Übeltäter, doch er sah nur noch eine schwache Bewegung unter dem Laub, die wohl kaum von einem Menschen stammen konnte.

Der Waffenknecht preßte ärgerlich die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Jetzt ließ er sich auch schon von einer Maus erschrecken. Der Regen machte ihn noch ganz wirr.

Vorsichtig stieg Lughaid über die knorrigen Wurzeln eines Baumes. Im nächsten Moment horchte er auf und hielt die Luft an. Das waren Schritte! Jemand näherte sich ihm von hinten!

Lughaid hob das Schwert und wirbelte herum. Er ließ die Klinge wieder sinken, als er den hochgewachsenen, stämmigen Mann im Lederwams erkannte. Junker Aethelred schob seinen Helm ein Stück nach oben. »Halt ein, Lughaid! Ich bin keiner von denen!«

In diesem Augenblick nahm Lughaid über sich eine Bewegung wahr. Er hechtete instinktiv einen Schritt zur Seite. Die Frau, die ihn zu Boden reißen wollte, sprang ins Leere und landete unsanft auf dem Waldboden. Mit einem heftigen Fluch rollte sie sich zur Seite, ehe Aethelreds Hieb sie treffen konnte.

Katzengleich kam das Weib wieder auf die Beine und stürzte sich mit dem Todesmut der Verzweifelten auf den Junker. Aethelred von Thunderbach wich ein paar Schritte zurück. »Zu mir, Männer!« brüllte er aus Leibeskräften. »Das Pack ist hier!«

Ärmlich gekleidete Gestalten sprangen hinter Felsen und Büschen hervor, schienen geradewegs aus dem Boden zu wachsen. Lughaid fluchte. Verdammt, sollten sie die Bande unterschätzt haben? Wie vielen standen sie gegenüber? Zehn? Zwanzig?

Mehr Zeit blieb Lughaid nicht. Er schlug mit der Klinge nach der Zerlumpten, die in seinen Rücken gelangen wollte, und streckte den Mann nieder. Dann hatte er sich einer kreischenden Grauhaarigen zu erwehren, die sich an seinem Schwertarm festklammerte und ihn zu entwaffnen versuchte, während ein knüppelbewehrter Jüngling auf ihn zustürmte.

Lughaid zerrte die Frau mit sich, so daß der für ihn bestimmte Hieb die Alte traf. Sie schrie auf und sackte zusammen. Der Griff lockerte sich. Wieder befreit sprang Lughaid dem Burschen entgegen, der angesichts der blanken Klinge den Mut verlor und die Flucht ergriff. Aber er lief genau in das Schwert Brans, der endlich mit den anderen Knechten heran war.

»Steh nicht herum, Junge, und glotze wie 'ne Kuh wenn's blitzt!« brüllte der Waffenmeister Lughaid an und stürmte dann hinter einer Gruppe von Wilderern her, die ihrer aussichtslosen Lage zu entfliehen versuchten.

Lughaid entdeckte Aethelred, der sich gleich fünf Gegnern erwehren mußte. Obgleich der Junker den Wilderern im Umgang mit dem Schwert überlegen, schnell und wendig war, machten ihm die Übermacht zu schaffen. Er blutete aus Wunden am Arm und der Schulter, der Helm war ihm vom Kopf gerissen worden.

»Kommt her, ihr räudigen Hunde! Ich bin auch noch da!« schrie Lughaid und stürzte sich dem ersten, der sich ihm zuwandte, entgegen. Er streckte den Halunken mit einem gezielten Hieb nieder und eilte an dem zusammenbrechenden Mann vorbei an Aethelreds Seite.

»Gut gemacht, Lughaid! Der kleine Junge ist erwachsen geworden!« lachte der Junker. So stellten sie die drei letzten Wilderer gemeinsam und trieben diese auf die Stechginsterhecke zu. Zwei Männer sanken schließlich tot auf den Waldboden.

Der letzte erkannte, daß er keine Chance hatte. Mit gehetztem Gesichtsausdruck sah der Jüngling sich um und warf schließlich den schartigen Säbel beiseite. »Habt Gnade! Ich ergebe mich!« schrie der Wilderer voller Angst und sank mit flehend erhobenen Händen auf die Knie.

»Du betteltst um dein Leben, du Wurm?« Aethelred von Thunderbach stand über dem Wilddieb, der mit weit aufgerissenen Augen zu ihm aufsah. »Gnade? Du willst Gnade?« schnaubte der Adlige und hob das Schwert. Lughaid spürte deutlich, daß der Junker seine aufgestaute Wut an dem jungen Wilderer auslassen wollte. Doch das widersprach allen Schwüren von Gerechtigkeit und Ehre, die Aethelred bei seinem Ritterschlag geleistet hatte.

Lughaid handelte ohne nachzudenken. Er konnte nicht zulassen, daß sein Herr seine Ehre durch die Tötung eines Wehrlosen befleckte. Nicht vor den Augen von Waffenmeister Bran, der die ritterlichen Tugenden noch immer sehr ernst nahm und ein gewichtiges Wort in der Versammlung der Ritter von Draustein hatte.

»Nein, Herr! Haltet ein!« Lughaid blockte das Schwert Aethelreds kurz über dem Kopf des Wilderers ab und drückte die Klinge zur Seite. Erst dann durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Blitz: Er hatte es gewagt, das Schwert gegen seinen Herrn zu richten!

Lughaid wünschte sich, im Boden zu versinken. Bei Rondras Schwert, von was hatte er sich da nur leiten lassen?

Junker Aethelred starrte ihn zornig und verblüfft zugleich an. »Bei den Zwölfen, Lughaid, was mischt du dich hier ein? Und wagst, es der Gerechtigkeit Einhalt zu gebieten?« brüllte er den Schwarzhaarigen an.

Lughaid nahm allen Mut zusammen, hob den Kopf und erwiderte den Blick der funkelnden Augen. Schlimmer als die Lage jetzt schon war, konnte sie nicht werden. »Ich gebiete nicht der Gerechtigkeit Einhalt, sondern der Unehre!« hielt er der Anschuldigung entgegen und deutete mit dem Schwert auf den jungen Wilderer, der immer noch zitternd und schluchzend auf den Knien verharrte. »Herr, seht doch: Der Mann hat sich ergeben und seine Waffe weggeworfen. Ihn zu erschlagen, widerspricht allen ritterlichen Schwüren! Überlaßt es dem Gericht Baron Tuachalls, über den Mann zu urteilen - nicht Eurem Schwert!«

Es wurde still um Lughaid. Einen Augenblick schien es, als wolle Junker Aethelred den aufsässigen Waffenknecht statt des Wilderers erschlagen. Dann aber schwand der Zorn aus dem runden, dennoch feingeschnittenen Gesicht des Adligen und machte einem breiten Grinsen Platz. Lachend schüttelte Aethelred von Thunderbach den Kopf. »Lughaid, du solltest dem Ruf der göttlichen Löwin folgen und ihr dienen! Bei Rondra, du bist ja ritterlicher als ich, der die goldenen Sporen erhielt!« stellte er amüsiert fest und winkte den Waffenmeister heran.

Bran kam herbei und blickte fragend auf Aethelred, der auf Lughaid deutete. »Du hast den Jungen während meiner Abwesenheit viel gelehrt und ihm mehr als nur das Waffenhandwerk beigebracht!«

Lughaid sah verlegen zu Boden. »Euer Wohlgeboren, ich habe nur meine Pflicht getan«, murmelte er.

»Aber was für eine Pflicht!« Aethelred klopfte dem jungen Mann wohlwollend auf die Schulter »Bran, an unserem Lughaid ist ein Ritter verlorengegangen! Schade, wirklich schade, daß er nicht von edlem Blut ist.« Dann erzählte er dem Waffenmeister kurz, was geschehen war.

Der alte Mann runzelte die Stirn, dann nickte er zufrieden. »Ich stimme Euch zu, Euer Wohlgeboren.« Sein freundliches Lächeln erfüllte Lughaid mit Stolz. Der junge Mann straffte seinen Rücken und hob den Kopf.

Dann musterte der Waffenmeister den Wilderer, der noch immer am Boden hockte. »Deiner gerechten Strafe wirst du trotzdem nicht entgehen, Bursche! - Lughaid, fessle den Kerl und bring ihn zu den anderen Halunken.«

 

Die Wilderer, die den Kampf überlebt hatten, wurden in das Verlies von Burg Falkraun gesperrt, nachdem der Dorfbader die Verwundeten versorgt hatte. An einem der nächsten Tage sollten die Gefangenen nach Draustein gebracht werden, damit der Baron über sie richten konnte. Kein Burgbewohner zweifelte daran, das die Strafe für die Wilderer hart ausfallen und zur Abschreckung anderer dienen würde.

Lughaid verschwendete keinen weiteren Gedanken an die Männer und Frauen im Kerker. Er biß in das frisch gebackene Brot und nahm sich ein weiteres Stück Fleisch von der Platte, die an seinem Tisch herumgereicht wurde. Schließlich mußte er es ausnutzen, daß es Rehbraten gab, denn den ließ die Herrin sonst nur zu besonderen Gelegenheiten auftischen.

Nachdenklich ließ der junge Mann den Blick durch die große Halle schweifen, verweilte bei den Wandbehängen, die die Seiten des Raumes zierten und Szenen aus der bewegten Geschichte der Edlen von Thunderbach zeigten, beginnend mit dem tapferen Recken Aelfred von Norddrakenburg im Kampf mit einem Drachen.

Schließlich blickte Lughaid zur Hohen Tafel, die quer zu den beiden anderen Tischen in diesem Raum stand. Dort saßen Junker Aethelred, seine Mutter Traviynla, seine Schwester und Idra, die verwaiste Nichte der Herrin. Die drei Frauen lauschten aufmerksam dem gutgelaunten Junker, der mit weit ausholenden Gesten von dem Kampf mit den Wilderern erzählte. Während die beiden jungen Frauen mit großen Augen zuhörten und aufgeregte Fragen stellten, zeigte die Herrin keine Regung. Wie immer saß sie stocksteif und mit verkniffenem Mund da.

Lughaid zuckte heftig zusammen, als Junker Aethelred plötzlich auf ihn deutete, und sich alle Augen auf ihn richteten. Rasch blickte er zur Seite und senkte den Kopf.

Warum mußte der Edle unbedingt über Lughaids ritterliches Verhalten scherzen? Nachher dachte die Herrin noch, daß Lughaid, der Sohn einer Frau aus dem Volk, davon träumte, den Adelsstand zu erringen, obgleich er nicht einmal seinen Vater kannte. Aethelreds Mutter war voller Standesdünkel und stolz auf ihre lange Ahnenreihe, die bis in die Tage des Alten Bosparan reichte.

Ich kenne meinen Platz, dachte Lughaid. Ich bin nur der Sohn einer einfachen Kriegerin, die mir nie den Namen und die Herkunft meines Vaters verraten hat. Selbst wenn die Möglichkeit bestünde, daß er höheren Standes war, so muß meine Mutter Gründe für ihr Schweigen gehabt haben. Ich gebe mich keinen Träumen und vagen Hoffnungen hin, daß ich vielleicht doch von adligem Blut bin.

Erst nach einer Weile und ein paar tiefen Schlucken Wein wagte es Lughaid wieder, zur Hohen Tafel zu sehen.

Aethelred hatte seine Mutter und Schwester längst in ein neues Gespräch verwickelt. Nur ein braunes Augenpaar ruhte noch auf ihm.

Lughaid schluckte und wandte den Blick hastig wieder ab. Er wußte, daß die schlanke blonde Frau ihn weiter beobachtete. Idra von Venaigh-Stephahan, die Nichte der Herrin, wurde von den Männern der Burg gleichermaßen geschätzt und gefürchtet. Die junge Frau besaß eine rahjengefällige Gestalt, ein liebliches Gesicht mit großen Augen, die kokett lächeln und herzerweichend um Trost flehen konnten ...

Idra wußte um die Macht ihrer Schönheit. Sie vermochte Männer mit wenigen Worten und Gesten um den Finger zu wickeln und huldigte der heiteren Göttin voller Leidenschaft und Inbrunst.

Lughaid wagte einen weiteren Blick. Idra hob den Becher geziert zum Mund und nahm einen winzigen Schluck. Er ahnte, was sie mit den kleinen Gesten bezwecken wollte. Bei Rahja, er war ein junger Mann, der einer Liebschaft nicht abgeneigt war, doch er kannte die Gefahr, die es mit sich brachte, der Edlen zu verfallen. Wer würde ihm schon glauben, daß Idra ihn und nicht er sie verführt hatte, wenn er auf ihre Tändellei einging?

Lughaid seufzte. Idra war durch Aethelreds Erzählungen auf ihn aufmerksam geworden. Sie würde nicht eher ruhen, bis sie ihn an der Stelle hatte, an der sie ihn haben wollte!

Die blonde Edeldame kam im letzten Sommer auf das Rittergut. Seitdem stellte sie aus Langeweile den jungen Männern nach. Wann immer sie die Gelegenheit dazu fand, hat sie es getrieben: in ihrer Kammer, in einer versteckten Ecke des Wehrganges, draußen im Wald, ja sogar in der Speisekammer auf den Mehlsäcken - zumindest behauptete Idras schwatzhafte Zofe das.

Bisher war die Edeldame von ihrer Tante noch nie auf frischer Tat ertappt worden. Sollte dies einmal geschehen, würde sich Idra sicher mit ein paar Tränen und gestammelten Worten herausreden: Der Mann habe sie armes, unschuldiges Ding verführt.

Die Herrin duldete weder ungebührliches Verhalten noch unstandesgemäße Liebschaften in ihrem Umkreis, seit ihr Gemahl verstorben war und sie Burg Falkraun mit ihrem Sohn verwaltete. Dafür gab es einfache Gründe: Ihr Gemahl Aelmir hatte oft hübsche Mädchen auf die Burg und in sein Bett geholt. Und auch Aethelred, ihr Sohn, trank lieber unbeschwert aus Rahjens Kelch, als sich mit einer jungen Frau aus standesgemäßem Hause zu vermählen. Um so mehr wachte die Herrin mit Adleraugen über Tochter und Nichte. Wehe dem, der den Ruf der jungen Frauen zu beflecken wagte. Lughaid wollte nicht unbedingt das gleiche Schicksal erleiden wie der Stallknecht, der Idras Verführungskünsten zum Opfer gefallen und deshalb mit Schimpf und Schande von der Burg geprügelt worden war.

Schaudernd stellte er nun fest, daß Idra ihn noch immer unverhohlen musterte und sich über die Lippen leckte, als freue sie sich schon darauf, ihre Beute zu schlagen.

 

 

3. Kapitel

Freundschaftsbande

 

Die braunrot gefleckte Katze lag reglos ausgestreckt auf der Fensterbank und ließ die warmen Strahlen der Nachmittagsonne auf ihr Fell brennen. Der Lärm der Straße schien sie nicht zu stören, weder das Rattern eines Karrens voller Bierfässer, noch das Kreischen einer Schar Kinder, die vorüberrannten. Ein Windhauch trug die Klänge eines Tamburins und Stimmengewirr aus der nächsten Gasse heran. Aber nicht einmal die Fliege, die immer wieder frech um den Kopf des Tieres summte, konnte die Gefleckte aus ihrem Schlaf reißen. Nur ihre Ohren zuckten hin znd wieder. Als ein Hund bellte, öffnete sie die Augen ein wenig.

Merydwen lächelte versonnen und nippte an ihrem mit Wasser verdünnten Wein. Sie beneidete die Katze um ihre Gelassenheit.

Seufzend blickte sie durch die Taverne. Zwei Tische weiter saß ein alter Mann vor einem Krug Bier und starrte Löcher in die Luft. Direkt hinter ihm hockten drei Matrosen, ließen die Würfel klappern und die Becher kreisen. »Ha, zwölf Augen! Versuch das besser zu machen, Djannan«, rief einer gerade. Eine junge Frau stand hinter dem Tresen und war damit beschäftigt, Zinnbecher zu polieren.

Merydwen holte tief Luft, atmete den Seewind ein, der vom Hafen herüberwehte, und rieb sich die Augen. Seit vorgestern weilte sie mit ihrer Freundin Tjorbi in Havena. Noch immer summte ihr Kopf von den Eindrücken, die sie seit ihrer Ankunft in Havena gesammelt hatte: Der weitläufige Hafen, in dem sich Schiffe aus aller Herren Länder trafen. Die vielen Menschen, die sich am Kai einfanden: Schauerleute, Händler, Soldaten der Hafenwehr und die unvermeidlichen Zöllner. Kurz hinter dem Hafen begannen die verwinkelten Tweten von Nalleshof, in denen Gaukler und Tänzern die Menschen unterhielten und hübsche Burschen den jungen Frauen auffordernd zuzwinkerten. Gestern hatten Tjorbi und sie sich in die schmutzigen Gassen des Orkendorfes verirrt. Merydwen schauderte noch immer, als sie an die schiefen, baufälligen Häuser, die Ruinen und all das Elend mittendrin dachte. Keine andere Stadt, die sie bisher gesehen hatte, weder Grangor noch Bethana oder Elenvina, war mit Havena vergleichen. Hier trafen sich sprichwörtlich alle Völker Aventuriens: Am vorigen Abend hatte sie dem feurigen Tanz einer dunkelhaarigen Tulamidin und den akrobatischen Darbietungen eines Mohas zugesehen, zusammen mit Tjorbi zwei Thorwaler beim Ringkampf angefeuert und sich mit einem almadanischen Barden gestritten.

Wenn mein Leben so verlaufen wäre, wie es sich meine Eltern wünschten, dachte Merydwen, hätte ich diesen Teil der Stadt niemals zu Gesicht bekommen. Ich wäre nicht über die Neustadt oder gar Oberfluren herausgekommen, dafür hätten sie schon gesorgt. Wie für alles andere ...

Rasch vertrieb sie diese Gedanken. Die weckten nur düstere Erinnerungen an die Vergangenheit und verdarben ihre gute Laune. Wo blieb nur Tjorbi? Hatte ihre Freundin nicht versprochen, bald vom Hafen zurück zu sein, wo sie sich nach einer Passage in den Süden umhören wollte? Merydwen bezweifelte allerdings, daß sie ein Handelsschiff finden würde, das nach Grangor oder Bethana segelte, denn die Gerüchte, daß zwischen Alten und Neuen Reich Krieg drohte, schienen sich immer mehr zu bestätigen. In einer so unsicheren Zeit wäre wohl kaum ein Kapitän so verrückt, eine Fahrt in die Hafenstädte des Lieblichen Feldes zu unternehmen.

Merydwen biß sich auf die Lippen. Tjorbi und sie würden wohl ins Landesinnere oder in den Norden reisen müssen, wenn sie nicht in Havena bleiben wollten. Ihre Freundin hatte den Hafen bestimmt schon wieder unverrichteter Dinge verlassen, um über den Markt zu schlendern.

Pünktlichkeit war keine von Tjorbis Stärken, und die junge Thorwalerin würde sich bestimmt wortreich entschuldigen, wenn sie endlich kam. Merydwen lächelte, als sie an die Ausreden dachte, die ihre Freundin vorbringen würde. »Tut mir leid, das ich erst jetzt komme, aber um den hübschen Dolch zu bekommen, habe ich mich mit einem Zwerg im Armdrücken gemessen, weil der ihn auch haben wollte! Und dann kam ich an diesem Stand mit den bunten Tüchern vorbei ...«

Sie konnte Tjorbi gar nicht böse sein. Die Thorwalerin mit der weißblonden Haarmähne brachte seit zwei Jahren Abwechslung in ihr Leben. Kein anderer Mensch, den sie auf ihren Reisen kennengelernt hatte, nahm das Leben so leicht. Tjorbi dachte nicht weiter als bis zum morgigen Tag.

Merydwen streckte eine Hand aus und legte sie auf die Lederumhüllung ihrer Harfe. Ob sie heute Abend wieder aufspielen sollte, um noch etwas Geld zu verdienen? Sie wollte abwarten, was Tjorbi vorschlug.

Die Bardin entsann sich, wie sie die Thorwalerin kennengelernt hatte: Durch ihre ungestüme Art hatte Tjorbi eine Kneipenprügelei begonnen. Merydwens Versuch, ihr Instrument in Sicherheit zu bringen, war gescheitert. Plötzlich hatte die Thorwalerin neben der Bardin gestanden und ihr die Harfe aus den Händen gerissen. Der Rahmen ihres kostbaren Instrumentes war auf dem kahlgeschorenen Schädel einer Matrosin zerborsten. Darauf hatte Merydwen die um einen Kopf größere Frau mit unbändiger Wut an der Bluse gepackt, zu sich hin gerissen und ihr einen kräftigen Kinnhaken verpaßt. Tjorbi war völlig verdutzt zu Boden gegangen.

Durch diesen Zwischenfall begann die Freundschaft zwischen ihnen. Tjorbi ersetzte Merydwens Harfe und wich fortan nicht mehr von der Seite der Bardin. »Ich mag deine Musik. Außerdem habe ich kein Ziel. Niemand wartet irgendwo auf mich«, sagte sie, und Merydwen hatte die Gesellschaft der Thorwalerin nicht zurückgewiesen.

Sie vernahm ein fröhliches Kieksen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Vorgängen in der Taverne zu. Die rotbraune Katze auf dem Fensterbrett neben ihr hob den Kopf und sprang geschmeidig auf, so als spüre sie eine Gefahr. Ein vielleicht zweijähriges Kind lief durch die Stube genau auf das Fenster zu. »Miez, Miez!« lockte das kleine Mädchen mit heller Stimme. »Tomm Miez!«

»Kchh!« fauchte das Tier warnend und machte einen Buckel, als das Kind trotz der Warnung auf die Bank kletterte und nach ihm grabschte. »Miez! Hab dich lieb, Miez!« Scharfe Krallen gruben sich in die Kinderhand und hinterließen rote Kratzer.

Während die Katze mit einem lauten Fauchen nach draußen sprang, starrte das kleine Mädchen verdutzt auf die blutende Hand. Dann kullerten die ersten Tränen über die runden Wangen.

Merydwen zuckte zusammen, als das Kind zu schreien begann. Hilflos starrte sie die Kleine an. Sollte sie das Mädchen etwa in die Arme nehmen und trösten? Was sollte sie nur tun, wenn es nicht aufhörte zu weinen?

Ehe sich die Bardin entscheiden konnte, packten kräftige Hände die Kleine und hoben sie hoch. »Na, na, das ist doch nicht so schlimm!« sagte Tjorbi und pustete über den Kratzer. »Das tut gleich nicht mehr weh. Siehst du!«

Das Kind verstummte. Doch es waren wohl weniger die beruhigenden Worte Tjorbis als die großen, leise klimpernden, Ohrringe, die es den Schmerz vergessen ließen.

»Schnell du, nimm dein Küken!« Die Thorwalerin ahnte die Gefahr und drückte der heraneilenden Mutter das Kleine in die Arme. »Ich brauche meine Ohren noch.«

Dann gesellte sie sich zu Merydwen. »Das war ja eine schreckliche Gefahr, aus der ich dich gerettet habe!« scherzte sie. »War das Kind ein Monster? Du hast ja richtig verängstigt ausgesehen?«

»Ich weiß«, antwortete Merydwen betreten. »Kinder ... ich weiß einfach nicht mit ihnen umzugehen!« antwortete sie und schluckte. »Ich habe es nie gewußt!« Tjorbi setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und winkte ab. »Schon gut. Ich weiß ja, daß du um jeden Dreikäsehoch einen großen Bogen machst!« Dann zupfte sie ihre hochgerutschte Bluse zurecht.

Erst jetzt bemerkte Merydwen, daß ihre Freundin etwas zerrupft aussah. »Was hast du wieder angestellt?« fragte sie streng.

Tjorbi grinste lausbübisch. »Da war so ein aufgeblasener Prahlhans im Rüschenhemd, der mich einfach zur Seite schubste, als ich die Dolche am Stand eines Zwergenschmiedes betrachtete. Sollte ich mir denn gefallen lassen, daß er mich eine abergläubische Barbarin nannte? Bei Swafnir, meine Ottajasko ist bestimmt älter als sein Stammbaum!« Die Thorwalerin klopfte sich ein wenig Staub vom Hemd und schob die Bänder um ihren Hals zurecht. Merydwen zählte fünf verschiedene Anhänger, Amulette, die alle vor etwas anderem schützen sollten: vor Krankheiten, vor dem bösen Blick oder dem Biß einer Schlange. Das waren noch nicht alle Talismane, die Tjorbi besaß. »Warum soll ich nicht den Schutz ausnutzen, den mir die Swafnir, Efferd, Travia und die anderen Götter bieten?« war Tjorbis Ansicht. »Da brauche ich nicht jedesmal nachzudenken, wenn ich etwas tue. Die Amulette werden mich schon vor dem Unheil beschützen!«

Solch ein Vertrauen in die Zwölfe möchte ich auch haben, dachte Merydwen, aber als ich sie am dringendsten brauchte, half mir keiner - weder Gott noch Mensch.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Tjorbi mit der Hand auf den Tisch schlug. »Schau nicht so betrübt drein, Merydwen! Was ist denn heute mit dir los? Komm lieber mit nach draußen. Wir suchen uns ein paar hübsche Jungs und verbringen den Rest des Tages in der Stadt!«

In diesem Moment wurde die Tür mit Wucht aufgestoßen, und eine Schar hochgewachsener Männer und Frauen strömte herein. Helles Haupt- und Barthaar, bunte Kleidung in grellen Farben, fellbesetzte Umhänge, Tätowierungen an Gesicht und Armen zeichneten sie als Landsleute von Tjorbi aus.

Mit der Ruhe war es nun vorbei. Die drei Matrosen hielten in ihrem Spiel inne. Einer griff nach den Würfeln, ehe das eine Thorwalerin mit dicken Zöpfen tun konnte. Die zuckte nur bedauernd mit den Schultern und kehrte zu den anderen zurück, die sich lärmend auf zwei Bänken rund um den größten Tisch verteilten und lautstark über den weiteren Verlauf des Tages stritten. Der Älteste von ihnen, ein stämmiger Mann mit fast weißem Haar und rötlichem Bart erhob sich und rief der jungen Frau hinter dem Tresen zu: »Ho, Mädchen, bring uns was Ordentliches zu trinken. Premer Feuer, wenn du hast!«

Tjorbi, die ihre Landsleute genauer gemustert hatte, duckte sich plötzlich. »Laß uns schnell hier verschwinden!« murmelte sie Merydwen zu.

»Warum?« fragte die Bardin verwirrt. »Wer ist das?«

»Frag nicht, das erkläre ich dir später!« Tjorbi angelte sich Merydwens Umhang und wollte sich in diesen einhüllen, als der Rufer von eben sie bemerkte, stutzte und dann hinter dem Tisch hervorkam. »Ja seh' ich denn recht? Bei Hranngars stinkendem Auswurf! Du rennst mir nicht davon Tjorbi Kjaskadottir von der Möwenschreier-Ottajasko. Endlich hab ich dich gefunden!«

 

»Tjorbi meine Kleine, du bleibst hier!« Mit einer Schnelligkeit, die Merydwen bei dem hünenhaften Thorwaler nicht vermutet hatte, stand er neben ihrer Freundin, packte sie am Kragen und zog sie zu sich hoch. Die junge Frau wehrte sich nicht. Sie ließ nur den Umhang, den sie schützend um sich hatte legen wollen, fallen und starrte den Mann mit großen Augen an. »O-Onkel T-Torbrand«, stammelte sie. »W-was m-machst du hier?«

Der Thorwaler setzte eine grimmige Miene auf. Die buschigen Augenbrauen senkten sich bedrohlich. In der Stube war es inzwischen still geworden, denn die restliche Thorwalermeute hatte aufgehört zu lärmen und beobachtete genauso gespannt wie Merydwen, was als nächstes geschah.

Die Bardin angelte sicherheitshalber nach ihrer Harfentasche und warf einen Blick durch die Stube. Die junge Mutter hatte ihr Kind in Sicherheit gebracht und den Wirt gerufen. Der stämmige Mann wartete sprungbereit darauf einzugreifen.

Merydwen hielt die Luft an. Wie lange würde sich Tjorbi die grobe Behandlung noch gefallen lassen? Jetzt hing sie in den Pranken des Mannes und starrte ihn gebannt und willenlos an wie ein Kaninchen die Schlange. Ein Ahnung sagte Merydwen, daß die Freundin selber nicht wußte, was sie tun sollte.

»Was ich in diesem Hafen will, Kleines?« brummte der Thorwaler finster. »Natürlich Handel treiben!« Er ließ Tjorbi los, um sie im nächsten Moment zu umarmen und an sich zu drücken. »Ich hätte nicht gedacht, dich hier zu finden!« rief er dann freudig. »Bei Swafnir, das ist wirklich ein guter Tag! Erst können wir ohne langes Hin und Her mit dem Hafenmeister anlegen, dann läufst du mir auch noch in der erstbesten Kneipe in die Arme!«

»Das habe ich wirklich nicht gewollt, Onkel Torbrand!« murmelte Tjorbi verlegen und befreite sich vorsichtig aus der Umarmung. »Und ich werde auch gleich verschwinden! Bitte sag meinen Eltern nicht, daß du mich getroffen hast«

»Aber warum denn?« Der Mann hielt Tjorbi am Arm fest. Einen Augenblick sah die junge Thorwalerin so aus, als wollte sie zuschlagen, ehe sie mit einem Seufzen die Schultern hängen ließ. »Du weißt genau, warum!«

»Bei Swafnirs Schwanzflosse, das ist doch längst vergessen!« Der Thorwaler lachte polternd und klopfte Tjorbi auf die Schulter. »Deine Eltern haben dir längst verziehen, daß du das neue Schiff in deinem jugendlichen Unverstand auf die Klippen gesetzt hast! Nun ja, als es damals geschah, hat Kjaska dich mit der Axt aus dem Haus gejagt, aber das hat ihr schon am nächsten Morgen wieder leid getan. Nur warst du da bereits auf und davon! Seitdem haben deine Eltern jedem anderen aus der Ottaskin und den Nachbarn in den Ohren gelegen, dir doch zu sagen, wie leid es ihnen tut. Sie wünschen sich nichts so sehr, als daß du zurück nach Hause kommst. Bei Swafnirs breitem Maul, glaube ja nicht, daß du mir entkommen kannst, Mädchen! Ich werde dich den beiden bringen, damit ihr Gejammer endlich ein Ende hat! Das wohl!« Der Thorwaler wandte sich an den Wirt, ohne Tjorbi aus den Augen zu lassen. »Nun bringt was Ordentliches, damit wir dieses freudiges Ereignis begießen können, Wirt! Unsere Kehlen sind durstig!«

Der Wirt nickte und gab der Frau an seiner Seite ein Zeichen. »Bring das Fäßchen mit dem besten Premer Feuer aus dem Keller!«

Merydwen holte tief Luft, nahm die Hand von der Harfentasche und blickte zu Tjorbi auf. Die Thorwalerin schien nicht zu wissen, ob sie lachen oder weinen sollte. Merydwen konnte in ihrem Gesicht Verwirrung, Angst, aber auch Freude und Erleichterung lesen. »Onkel Torbrand, ich komme mit nach Hause, allerdings kann ich meine Freundin nicht allein zurücklassen! Du mußt auch sie mitnehmen!«

Merydwen zuckte zusammen, als Tjorbi auf sie deutete. Die Augen aller Thorwaler richteten sich neugierig auf die Bardin. »Das ist meine Freundin Merydwen ni Laighann! Wir haben schon viel miteinander erlebt, außerdem ist sie eine gute Skaldin!«

Tjorbis Onkel musterte Merydwen von Kopf bis Fuß, dann lachte er. »Das wohl, Tjorbi! Deine Freundin ist herzlich eingeladen, mit uns zu feiern und - wenn sie will, kann sie auch nach Thorwal mitkommen!«

 

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Das magische Erbe

Reihe: DSA Bd.39

Autorin: Christel Scheja

Heyne Verlag, 1999

ISBN 3-453-14944-0

Erhältlich bei: Amazon

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Erstellt: 03.02.2006, zuletzt aktualisiert: 12.02.2015 02:07, 1829