Die Wellenläufer (Autor: Kai Meyer; Genre: Fantasy)
 
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Leseprobe: Die Wellenläufer

Die Wellenläufer

Kai Meyer

384 Seiten, ab 12 Jahren

Loewe Verlag

ISBN 3-7855-4848-4/EAN 9 783785 54848 6

€ 14,90 (D) / € 15,40 (A) / SFr 25,80

Erhältlich bei Amazon

 

Disclaimer:

Freigabe zur Weiterveröffentlichung der Leseprobe besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.

 

 

Leseprobe:

 

1. Kapitel: Die Quappe

 

Mit weiten Schritten lief Jolly über den Ozean. Ihre nackten Füße versanken fingerbreit im Wasser. Unter ihr gähnte der tintenblaue Abgrund der See, bis zum Meeresboden mochten es einige hundert Mannslängen sein.

 

Jolly konnte seit ihrer Geburt über Wasser gehen. Mit den Jahren hatte sie gelernt, sich mühelos auf der schwankenden Oberfläche zu bewegen. Für sie fühlte es sich an, als liefe sie durch eine Pfütze. Flink sprang sie von einer Woge zur nächsten und wich den schaumigen Wellenkämmen aus, die manchmal zu tückischen Stolperfallen wurden.

 

Um sie herum tobte eine Seeschlacht.

 

Kanonenkugeln pfiffen ihr um die Ohren, aber selten kam ihr eine so nahe, dass sie den Luftzug spürte. Beißender Rauch trieb über das Wasser zwischen den beiden Segelschiffen und vernebelte Jollys Sicht. Das Knarren der Planken und Flattern der großen Segel mischte sich mit dem Geschützdonner. Der Qualm des entzündeten Schwarzpulvers brannte in ihren Augen. Sie hatte diesen Geruch noch nie gemocht, ganz im Gegensatz zu den anderen Piraten:

 

Ihre Freunde von der Mageren Maddy sagten, nichts rieche so gut wie der Duft abgefeuerter Kanonen. Und wenn dann in der Ferne die Bordwände feindlicher Schiffe barsten und das Geschrei der Gegner über das Meer wehte, war das besser als jedes Gelage mit Rum und Gin.

 

Jolly mochte Rum nicht besonders, genauso wenig wie den Qualm der Bordkanonen. Aber ganz gleich, was ihre Nase davon hielt, sie kannte ihre Aufgabe und würde sie zu Ende bringen.

 

Bis zu dem gegnerischen Schiff, einem spanischen Dreimaster mit zwei Kanonendecks und dreimal so vielen Geschützen wie auf der Mageren Maddy, waren es noch fünfzig Schritt. Die Galeone war rundherum mit prachtvollen Verzierungen geschmückt, geschnitzten Gesichtern, die dann und wann wie vorwitzige Fabelwesen durch die Rauchwände lugten. Manche wirkten selbst auf die Entfernung so echt, dass sie jeden Augenblick zum Leben erwachen mochten. Die Beiboote des Spaniers befanden sich an den Seiten des Rumpfes; eines war von den Kugeln der Maddy gestreift worden, ein Teil der Aufhängung war zerfetzt, und nun schaukelte das kleine Boot bei jeder Erschütterung gegen den mächtigen Rumpf und erzeugte dunkle, hohle Laute.

 

Die Strömung war auf Jollys Seite und trieb sie während ihres Laufs noch schneller auf die Galeone zu. Jolly musste nur einen Fuß auf das Wasser setzen, um zu spüren, in welche Richtung sich die See bewegte, manchmal gar, ob hinterm Horizont Unwetter aufzogen oder Stürme tobten. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, längere Zeit an Land zu verbringen. Sie brauchte die Vertrautheit des Ozeans, das Gefühl des bodenlosen Abgrunds unter ihren Füßen. So wie andere in großen Höhen Schwindel packte, so wurde Jolly von Panik ergriffen, wenn sie sich allzu weit vom Meer und seiner tosenden Brandung entfernte.

 

Inzwischen lief sie ein wenig geduckt, auch wenn auf dem Deck des Spaniers noch niemand auf sie aufmerksam geworden war. Sonderbarerweise entdeckte sie hinter den gedrechselten Geländern der Reling keine Menschenseele. Eine Galeone wie diese trug mindestens zweihundert Mann an Bord, und alle mussten damit rechnen, dass die Piraten von der Mageren Maddy versuchen würden, das spanische Schiff zu entern. Warum also zeigte sich niemand an Deck ? Normalerweise hätte Captain Bannon, der Anführer der Freibeuter und Jollys bester Freund, sich von einem Schiff wie diesem fern gehalten: zu groß, zu stark, zu schwer bewaffnet. Ganz zu schweigen davon, dass auf der Mageren Maddy gerade einmal siebzig Piraten Platz fanden und sie den Spaniern im Kampf Mann gegen Mann zahlenmäßig weit unterlegen waren.

 

Aber als das Schiff am Horizont aufgetaucht war, hatte trotz allem einiges dafür gesprochen, dass es ein lohnender Fang sein könnte. Captain Bannon persönlich hatte den Ausguck der Maddy erklommen und die Silhouette der Galeone lange mit dem Fernglas studiert. „Sie haben die Segel gerefft“, hatte er zu seiner Mannschaft hinabgerufen. „Sieht aus, als wären sie in Schwierigkeiten.“

 

Das Meer war an dieser Stelle zu tief zum Ankern. Das bedeutete, dass der Spanier sich trotz guter Windverhältnisse treiben ließ – was einfach keinen Sinn ergab. Aber Bannon wäre nicht einer der durchtriebensten Piraten der Karibischen See gewesen, hätte er sich in solchen Fällen nicht von seiner Nase und seiner Neugier leiten lassen.

 

„Ich habe ein seltsames Gefühl dabei“, hatte er gesagt, bevor er seine Männer an die Kanonen schickte, „aber vielleicht werden wir alle von dieser Sache noch mehr haben, als es jetzt den Anschein hat.“ Captain Bannon sagte oft solche Dinge, deshalb wunderte sich niemand. Seine Mannschaft vertraute ihm – vor allem Jolly, für die Bannon so etwas wie Vater und Mutter zugleich war, seit er sie als kleines Kind auf dem Sklavenmarkt von Tortuga gekauft und zum Mitglied seiner Crew gemacht hatte.

 

Kanonendonner, lauter als zuvor, ließ Jolly einen Satz zur Seite machen. Sie spürte den Sog der schweren Eisenkugel und glaubte sie, kaum eine Armeslänge entfernt, an sich vorüberpfeifen zu sehen. Als sie sich umschaute, bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen.

 

Die Magere Maddy war getroffen.

 

Eine Wolke aus Wasser und Holzsplittern stieg vom Heck der schnittigen Schebecke auf, einem Schiffstyp, den man in dieser Gegend nicht of sah. Die Reling der Maddy bestand nicht aus Schmuckpfeilern wie die der Galeone, sondern aus einer hüfthohen, schlichten Holzwand, in die man Öffnungen für die Geschützrohre eingelassen hatte. Das Schiff war blutrot angestrichen, und im vorderen Teil hatte Bannon weiße Fangzähne auf den roten Rand malen lassen, sodass der Bug den Eindruck eines offenen Raubtiermauls erweckte.

 

Aufgebrachtes Gebrüll schallte zu Jolly herüber, Stimmfetzen, die durch die grauen Qualmwände zwischen den Schiffen herüberwehten.

 

Jolly wandte sich halb ab und zögerte. Von hier aus ließ sich nicht erkennen, ob die Maddy ernsthafte Schäden erlitten hatte. Bitte lass ihr nichts passiert sein !, flehte Jolly in Gedanken.

 

Dann aber erinnerte sie sich an Bannons Befehl, an ihre Verpflichtung ihm und den anderen gegenüber, und sie wandte sich wieder nach vorn. Mit wenigen Schritten erreichte sie den Rumpf der spanischen Galeone und lief daran entlang, bis sie unter einer der hinteren Geschützpforten stehen blieb. Das untere Kanonendeck befand sich drei Meter über der Wasseroberfläche. Jolly war nicht einmal fünf Fuß groß, aber es würde ihr keine Mühe bereiten, eines der Wurfgeschosse aus ihrer Umhängetasche durch die Öffnung zu befördern.

 

Sie schlug die Klappe ihrer Ledertasche zurück und zog eine der Flaschen heraus, die bei jedem Schritt gefährlich gegeneinander klirrten. Sie waren mit eine bronzefarbenen Flüssigkeit gefüllt, die Hälse mit Wachs versiegelt.

 

Jolly holte aus, atmete tief durch – und schleuderte die Flasche durch die erste Geschützluke, knapp vorbei an der Mündung des Kanonenrohrs. Jemand stieß einen Alarmruf aus, laut genug, dass sie ihn hier draußen hören konnte. Dann schoss eine grüne Rauchwolke aus der Luke, so dicht und stinkend, dass Jolly rasch zur nächsten Öffnung lief. Dort zog sie eine zweite Flasche hervor und warf. So arbeitete sie sich von Öffnung zu Öffnung, bis aus den meisten Luken grüner Dunst wölkte. Keine der unteren Kanonen feuerte mehr. Die Kanoniere hinter den Geschützen mussten blind sein vor Rauch, und aus Erfahrung wusste Jolly, dass der Gestank selbst dem abgebrühtesten Seemann auf den Magen schlug.

 

Zur Abwechslung versuchte sie, die nächste Flasche auf das höher gelegene zweite Kanonendeck zu werfen. Auch hier traf sie zielsicher in eine der Luken. Wenn es so weiterging, würde ihre Mission zu einem vollen Erfolg werden. Mit etwas Glück würde sie die Mannschaft der Galeone im Alleingang außer Gefecht setzen. Bannon und seine Piraten mussten das Schiff nur noch entern und ihre hustenden und halb blinden Gegner an Deck in Empfang nehmen. Ernsthaften Widerstand hatten sie nicht mehr zu erwarten.

 

Doch Jollys nächstem Wurf zum oberen Kanonendeck war weniger Erfolg beschieden. Die Flasche flog gerade in jenem Moment durch die Luke, als die Männer im Inneren die Kanone nach außen schoben, um die nächste Kugel abzufeuern. Das Glas zerschellte am Stahl des Kanonenrohrs, die Flüssigkeit spritzte gegen den Schiffsrumpf und verdampfte augenblicklich zu ätzendem Dampf. Jolly hechtete vorwärts und warf sich flach auf die Wasseroberfläche, um dem Dunst zu entgehen. Zugleich wurde über ihr die Kanone gezündet. Einen Herzschlag später ertönte aus der Richtung des Piratenschiffs ein weiterer Einschlag. Holz zerbarst, gefolgt von einer Explosion – die Kugel war durch den Rumpf der Mageren Maddy gedrungen und hatte das Munitionslager getroffen.

 

Jolly schossen Tränen in die Augen, als sie sah, wie Flammen aus der klaffenden Öffnung loderten. Sie wusste, was ein solcher Treffer bedeutete – sie hatte es oft genug miterlebt. Sonst waren es immer die gegnerischen Schiffe gewesen, die ein solches Schicksal ereilt hatte. Aber jetzt bestand kein Zweifel mehr. Die Maddy würde untergehen. Verdammt, wie hatte Bannon solch einen Fehler machen können! In ihrer Zeit als Zögling des Captains hatte Jolly auf drei Schiffen gelebt, doch die Maddy war ihr von allen am vertrautesten geworden. Sie sinken zu sehen war, als verlöre sie auf einen Schlag ihr Zuhause und einen guten Freund.

 

Für die Piraten gab es nur eine einzige Hoffnung: Es musste ihnen gelingen, in der wenigen Zeit, die ihnen blieb, die spanische Galeone zu kapern. Sonst würden sie mitsamt der Maddy auf den Grund des Meeres sinken.

 

Verzweifelte Entschlossenheit brachte Jolly erneut auf die Beine. Sie zog eine weitere Flasche hervor, und diesmal traf sie. Genauso mit der nächsten und übernächsten. Noch immer beugten sich keine Schützen über die Reling, um sie unter Feuer zu nehmen. Dann aber schob jemand den Kopf aus einer der Geschützpforten, entdeckte Jolly und brüllte:“ Sie haben eine Quappe ! Sie haben eine gottverdammte Quappe dabei!“

 

Ein zweiter Kopf erschien. „Es gibt keine Quappen mehr. Sie sind alle.... „ Da entdeckte er Jolly. Seine rußumrandeten Augen weiteten sich. „Oh Gott, verflucht, sie haben tatsächlich eine Quappe!“

Jolly schenkte den Männern ein verbissenes Lächeln. Sie zielte und war eine Flasche haarscharf an den Gesichtern vorbei ins Innere der Galeone. Wirbelndes Grün schoss hinter den Köpfen hervor, einen Augenblick später waren sie nicht mehr zu sehen.

 

Jolly rannte weiter. Warf. Rannte. Und warf erneut. Der Gedanke an ihre Freunde trieb sie vorwärts. Sie achtete nicht mehr auf mögliche Gegner, auf ihre Deckung oder auf die Umrisse der Haie, die vor ein paar Minuten unter der Wasseroberfläche erschienen waren. Hier und da sah sie silbergraue Rückenflossen durch die Wogen schneiden wie Säbelklingen, aber sie verschwendete keinen Gedanken daran. Stattdessen schleuderte sie eine Flasche nach der anderen, bis ihre Umhängetasche leer war.

 

Sie war jetzt fast am Bug der Galeone angekommen. Aus allen oberen Geschützpforten quoll giftgrüner Rauch. Schüsse wurden keine mehr abgefeuert. Das Deck des Spaniers war mit dichten Schwaden eingenebelt, die einen weiteren Kampf unmöglich machten. Selbst die geschnitzten Gesichter rund um die Reling schienen vor lauter Qualm Grimassen zu schneiden.

 

Wenn es Bannon nun gelingen sollte, die Maddy – Ein Knirschen ließ Jolly herumwirbeln. Sie jubelte vor Erleichterung. Das sinkende Piratenschiff steuerte mit vollen Segeln auf das Heck der spanischen Galeone zu. Es sah aus, als hätte das aufgemalte Maul am Bug der Maddy die Lefzen hochgezogen, um ein letztes Mal spöttisch die Fänge zu blecken. Jolly brachte sich mit ein paar Sätzen in Sicherheit. Kurz darauf prallte Heck gegen Heck. Enterhaken und Wurfleinen flogen zum Deck des Spaniers hinüber. Eine wilde Piratenhorde, die sich gegen den grünen Qualm Tücher vor Mund und Nase gebunden hatte, kletterte am Rumpf des größten Schiffes empor. Jolly kannte jeden Einzelnen von ihnen, manche schon ihr Leben lang, andere erst einige Monate. Die Piraten trugen Kleidung aus aller Herren Ländern: orientalische Pluderhosen, Baumwollhemden aus den Kolonien; Westen aus Italien und immer wieder Stückwerk aus Resten spanischer Uniformen. Manche hatten sich breite Schärpen umgebunden, einer trug als Umhang gar eine ausrangierte Totenkopfflagge. Wie kunterbunte Ameisen schwärmten sie am Holz hinauf, hangelten sich an Seilen entlang oder schwangen von den Spieren der Mageren Maddy hinüber in die Takelage ihrer Gegner.

 

Ganz kurz erhaschte Jolly einen Blick auf Captain Bannon, strohblond und wütend wie ein Derwisch, der an einem Strick und mit dem Säbel zwischen den Zähnen zu den Spaniern hinüberfegte. Ihr war, als träfen sich ihre Blicke in dem kurzen Moment, und sie spürte, dass er zu ihr herablächelte, trotz des Tuchs vor seinem Gesicht; sie erkannte es nur seinen Augen, die so viel Freundlichkeit ausstrahlen konnten, dass Jolly sich manches Mal wunderte, warum seine Opfer ihm ihre Schiffe nicht freiwillig übergaben, allein aufgrund der Wärme in diesem Blick, die so gar nicht zu seiner wilden Entschlossenheit und Skrupellosigkeit passen wollte.

 

Jolly riss triumphierend einen Arm in die Höhe, stieß einen Jubelruf aus, dann war auch sie an der Bugwand der spanischen Galeone, packte eines der herabhängenden Seile und kletterte flink wie eine Katze daran empor.

 

Der grüne Rauch an Deck verflog rasch. Noch während Jolly das Seil erklomm, hörte sie, dass der Kampf bereits endete, bevor er wirklich begonnen hatte. Die hustenden, spuckenden Spanier ergaben sich mit tränenden Augen und triefenden Nasen. Kaum einer erhob seine Waffe gegen die Piraten, und wenn doch, so war es nur ein müder Reflex, nicht der ehrliche Wille zu kämpfen.

 

Jolly schwang sich über die Reling. Bannon sah sie und eilte zu ihr herüber. „Gut gemacht“, sagte er und klopfte ihr mit seiner Pranke so kräftig auf die Schulter, dass sie fast in die Knie ging. Er wandte sich seinen Männern zu, die gerade die gefangenen Spanier auf dem Mitteldeck zusammentrieben.

 

„Kappt alle Seile zur Maddy, damit sie uns nicht mit in die Tiefe reißt. Die anderen entwaffnen unsere Freunde. Dies hier ist fortan unser neues Schiff !“ Mit einem Grinsen in die Richtung des Mädchens an seiner Seite rief er noch lauter: „Ich schätze, der Kahn braucht einen neuen Namen. Von heute an heißt er Jumping Jolly!“

 

(...)

S. 7-17, obere 2/3

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Erstellt: 29.04.2005, zuletzt aktualisiert: 30.01.2015 21:21, 139