Machlath (Autorin: Sabine Ludwigs)
 
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Machlath

Autorin: Sabine Ludwigs

 

Irgendwann in der Nacht steht Lilian auf. So leise wie möglich schleicht sie aus dem Schlafzimmer, um Mike nicht zu wecken.

Noch nicht.

An ihrem Schreibtisch sinkt sie in den Sessel und

knipst das Licht an.

Es ist soweit, gesteht sie sich ein. Er. Will. Mich. Loswerden.

Von dem Versprechen »in guten wie in schlechten Tagen« gibt es nur noch die schlechten.

Vorbei die anderen, an denen Mike und sie in jeder Minute, die sie voneinander getrennt waren, einem Wiedersehen entgegenfieberten.

Es gibt keine gemeinsamen Abendessen mehr, keine Gespräche bis zur Morgendämmerung, keine Nächte, angefüllt mit geflüsterten Zärtlichkeiten und samtiger Leidenschaft. Allmählich waren diese Tage weniger geworden und schließlich ganz verschwunden.

Unwiderruflich.

Das verraten seine Blicke, die Lilian entweder übersehen oder sie warnen, ihn in Ruhe zu lassen.

Bei dem Gedanken zuckt sie zusammen.

Sie hat geweint, gebettelt, ihm sogar gedroht.

Trotzdem. Er will mich verlassen. Aber ehe das geschieht, bringe ich es selbst zu Ende. Es ist schließlich nicht das erste Mal.

Sie weiß, was zu tun ist, hat es von ihrer Mutter gelernt, diese wiederum von ihrer Mutter. Lilian kann nicht sagen, wie lange das schon so geht. Vermutlich seit Generationen.

Sorgfältig faltet sie ein weißes Blatt Papier in der Mitte und schlägt es wieder auf. Bedächtig zieht sie ein Schubfach heraus – und da liegt er vor ihr.

Der Dolch.

 

 

Er ist beängstigend schön. Furchterregend. Und irgendwie bösartig.

Der schwarze, klauenartige Griff schillert leicht metallisch, wie der Chitinpanzer eines Käfers. Die Hauptklinge, in der Mitte der Länge nach durchbrochen, ist scharf und nach unten hin zugespitzt. Der Stahl, oder was immer für ein Material es sein mag, glänzt silbrig. Unterhalb des Hefts stechen zwei zusätzlich kurze Klingen wie Dornen hervor.

Archaisch, denkt sie. Numinos. Aber schließlich ist er auch nicht von dieser Welt.

Ihr Herz schlägt ungestümer, als sie ihn herausnimmt. Sein Gewicht ist kaum zu spüren, er schmiegt sich in ihre Faust, als wäre er lebendig oder ein Teil ihres Körpers.

Die Waffe einer Frau.

Sie presst ihre linke Hand flach auf die Schreibtischplatte. Zwei Finger fehlen. Die Stellen sind seit Jahren verheilt.

Nur ab und zu spürt sie noch ein Kribbeln, wenn das Wetter umschlägt.

Ohne zu zögern setzt Lilian die Klinge an der Wurzel des Mittelfingers an. Das Blatt fährt durch Muskeln, Sehnen und Knochen, als wäre ihr Finger nicht mehr als ein Brocken Fleisch – doch es fühlt sich an, als ob kleine, scharfzahnige Biester an der Wunde reißen.

Lilian fühlt, dass sie ohnmächtig zu werden droht, kämpft dagegen an und versucht sich aufrecht zu halten – was ihr schließlich auch gelingt.

Stöhnend nimmt sie den abgetrennten Finger und hält ihn über das Papier, dahin, wo der Knick verläuft. Blut tropft träge und dunkel auf das Blütenweiß. Als es aufhört, klappt sie das Blatt sorgfältig zu, presst es kurz zusammen und öffnet es wieder.

Es hat funktioniert, denkt sie, während sie das Gebilde betrachtet, das an einen Rorschachtest erinnert. Nur, dass man überdeutlich erkennt, was es darstellt: ein groteskes, totenkopfähnliches Gesicht, einen entsetzten Blick aus Augenhöhlen und einen wie zu einem Schrei aufgerissenen Mund.

Die Luft, eben noch kühl, fühlt sich warm an, schwer und spannungsgeladen. Im selben Augenblick ziehen sich die Schatten in den Ecken zusammen. Lilian hört ein sachtes Rauschen aus der Düsternis, das allmählich anschwillt.

Und sie weiß, dass sie da sind.

 

 

Wie es das Ritual gebietet, legt sie den abgeschnittenen Finger neben das Rorschachbild und wendet sich ab.

Am liebsten würde sie sich die Ohren vor diesem trockenen Rascheln zuhalten, das sich anhört wie zahllose Flügelpaare umherschwirrender Nachtfalter. Die Luft hinter ihr vibriert, die Schwingungen berühren sie, gleich tastenden Fingerspitzen. Hände legen sich auf ihre Schultern und eine Stimme befiehlt: »Gib ihn mir.«

Es ist die Stimme einer Frau.

Sie klingt verführerisch, ein wenig heiser, leicht amüsiert. Jedenfalls überhaupt nicht unheimlich.

In Lilians Rücken ist es jetzt so heiß, als wären die Feuer für Sodom und Gomorrha vom Himmel gefallen, und sie fürchtet einmal mehr, sie könnte zur Salzsäule erstarren, wenn sie sich umdreht.

Denn sie weiß, wer sie erwartet.

Oder besser, was.

Langsam wendet Lilian sich um.

 

 

Machlath, mit den rubinroten Augen, ist makellos schön.

O ja. Engelsgleich – sieht man von dem bösen Funkeln in den Tiefen ihrer Pupillen einmal ab. Ihr schattenfarbenes Haar, das ihr Gesicht umrahmt, verschluckt jedes Licht, das darauffällt, und betont ihren mondbleichen Teint.

Und sie ist nicht allein gekommen.

Natürlich nicht!

Sie sind bei ihr und umschwirren Machlath mit diesem leisen, unheimlichen Geknister. Ein ganzer Schwarm . . . Gesichtshäute.

 

 

Die abgebalgten Gesichter sind grotesk verzerrt, sie scheinen zu verlaufen, erinnern an flüssiges Schmalz, in dem aufgerissene Münder und Augen treiben. Augen, in denen nackte Verzweiflung flackert.

Munchgesichter nennt Lilian sie und registriert, dass sie leise weinen. Das ist noch grauenhafter, als wenn sie schreien würden.

Sie entdeckt Tom. Für ihn hat sie den kleinen Finger gegeben. Auch Ronald sieht sie – ihren Ringfinger.

In diesem Augenblick deutet Machlath auf den Dolch in Lilians Hand. »Gib ihn mir«, wiederholt sie ungeduldig – und wirkt höchst befriedigt, als sich ihre Faust um das Heft legt. Ihre Augen sind rotes Licht.

»Es kann beginnen«, sagt sie.

Das Grauen.

 

 

Wie von selbst öffnet sich die Tür zum Schlafzimmer. Die ersten Munchgesichter bewegen sich darauf zu, es folgen Machlath und schließlich die übrigen Häute. Die Nachhut bildet Ronalds Gesicht.

Sie alle bewegen sich im selben Takt, vielleicht zu einer unhörbaren Melodie, wie bei einem Danse Macabre und ergießen sich durch den Spalt in das Zimmer dahinter.

Wäsche knistert und das Bett knarrt, als sich Mike aufsetzt.

»Lilian?«, murmelt er verschlafen. Und dann, lauter: »O mein Gott.«

Sein Atem geht schwer.

Wie ein Träumender schaut er um sich, auf den Schwarm der abgezogenen Gesichter, auf Machlath, die, schön wie Mondlicht auf einem zugefrorenen Teich, lächelnd neben seinem Bett steht.

Mike streckt eine Hand nach ihr aus, und als sie tatsächlich auf Widerstand stößt, beginnt er zu zittern. Das Zittern breitet sich aus, bis sein ganzer Körper geschüttelt wird.

Und dann brüllt er.

Machlath fährt durch Mikes Haar, packt es und zerrt seinen Kopf nach hinten. Mike rührt sich nicht, kann sich nicht rühren, aber sein Herz rast – das erkennt man an der heftig pulsierenden Halsader.

Die Munchgesichter weinen nicht mehr. Stattdessen singen sie in einer Sprache, die Lilian vollkommen fremd ist. Die Töne strömen aus den klaffenden Mündern und, was eigentlich vollkommen unmöglich ist, hallen im Raum wider. Lilian muss unwillkürlich an gregorianische Gesänge in einer Kirche denken.

Schließlich verstummen die Munchgesichter, ziehen sich dichter um das Bett.

Machlath versperrt Lilian die Sicht auf Mike, als sie den Dolch hebt und ihm damit das Gesicht förmlich vom Kopf schält. Und mit ihm Mikes Seele.

Wenn Lilian Fisch ausnimmt, mit der Klinge in den prallen Bauch fährt, schneidet und danach das Gedärm herauskratzt, klingt es genauso: feucht und schmatzend. Nur, dass der Fisch nicht schreit.

Dies ist die letzte Nacht deines Lebens. Aber das ist noch nicht das Schlimmste für dich, mein lieber Mike, sagt Lilian in Gedanken. Längst nicht!

 

 

Als der letzte Stern verlischt, ist es vollbracht.

Das Bett ist leer. Mikes Überreste sind verschwunden, verschlungen von den Munchgesichtern. Lediglich die blutige Bettwäsche liegt nass und zerknüllt auf der Matratze.

Die unheimliche Prozession wiegt sich wieder im Takt, verlässt das Schlafzimmer, zieht an Lilian vorbei, ohne sie zu beachten.

Diesmal bildet Mikes Gesicht die Nachhut.

Machlath, eine der vier von Gott erschaffenen Dämoninnen, legt den Dolch auf den Schreibtisch, direkt neben das Papier mit dem Rorschachgesicht, das jetzt die Züge von Mike trägt.

Sie mustert Lilian aus roten Augen. »Wir sehen uns wieder«, verheißt sie mit ihrer heiseren, verführerischen Stimme und nimmt beiläufig Lilians blutleeren Finger an sich. »Bestimmt . . . «

Die letzten dunklen Flecken der Nacht verdichten sich in einer Ecke des Zimmers und Machlath geht mitten hinein.

Die Munchgesichter folgen mit trockenem Rascheln, ein neues, weinendes Gesicht im Gefolge. Es schaut Lilian noch einmal an: grotesk, totenkopfähnlich, ein entsetzter Blick aus Augenhöhlen und ein wie zu einem Schrei aufgerissener Mund. Lilian kann ihn fühlen, den entsetzlichen, endlosen Schrei einer verlorenen Seele, gefangen in diesem Gesicht. Dann ist sie allein.

Sie zieht die Schreibtischlade heraus und legt Mikes Rorschachgesicht zu den Blutbildern von Tom und Ronald.

Obendrauf den Dolch, beängstigend schön. Furchterregend. Und irgendwie bösartig. Archaisch, denkt Lilian. Numinos. Aber schließlich ist er auch nicht von dieser Welt . . .

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202403281530007c213cf4
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Buch:

DARK LADIES I

Hrsg. Alisha Bionda

Verlag: Fabylon

Anthologie - Mystery-Stories

Broschiert, 248 Seiten - 12.00 EUR

ISBN: 9783927071254

Mar. 2009, 1. Auflage

Erhältlich bei Fabylon

Disclaimer

Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.

Freigabe zur Weiterveröffentlichung besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.


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Erstellt: 05.03.2009, zuletzt aktualisiert: 26.07.2019 10:10, 8347