Im Reich der Schlangenkönigin (Herausgeber: Erika Glassen und Hasan Özdemir)
 
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Im Reich der Schlangenkönigin herausgegeben von Erika Glassen und Hasan Özdemir

Märchen, Schwänke, Helden- und Liebesgeschichten

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Ein Bektaşi wurde gefragt: "Warum ist die Welt eigentlich so bergig und buckelig und nicht einfach ganz eben?" Darauf der Bektaşi: "Sie wurde in sieben Tagen erschaffen, was kann man da schon erwarten?"

 

Im Reich der Schlangenkönigin. Märchen, Schwänke, Helden- und Liebesgeschichten ist eine Sammlung von volkstümlichen Geschichten aus der Türkei. Die Herausgeber Erika Glassen und Hasan Özdemir haben insgesamt dreiundfünfzig Geschichten und Tekerleme zusammengestellt. Einige der Geschichten sind allerdings ausgesprochen kurz wie etwa die obrige Bektaşi-Geschichte; die Geschichten variieren in der Länge zwischen wenigen Zeilen und über vierzig Seiten. Gemein ist ihnen allen ein leicht zugänglicher Stil; die Geschichten wurden oftmals lange Zeit mündlich weitergegeben, bevor sie verschriftlicht wurden, und so sind sie sprachlich eher schlicht. Einzelne Geschichten weisen sogar noch typische Wendungen als Reste dieser Erzähltradition auf. Die Herausgeber haben sie in sieben grobe Abschnitte unterteilt: Tekerleme, Volksromane, Meddâh-Erzählung, Märchen, Unheimliche Geschichten und Sagen, Volkstümliche religiöse Überlieferungen und Humoresken. Die Geschichten stammen, wie gesagt, aus dem Türkischen; ihre Wurzeln reichen zum Teil jedoch tiefer: Einiges leitet sich indirekt von der Tora ab, anderes von christlichen Erzählungen aus dem kleinasiatischen Raum, anderes von dem Koran, der Textsammlung Tausendundeine Nacht und dergleichen mehr. Nun jedoch zu den Werken im Einzelnen:

 

Den Anfang machen drei Tekerleme. Tekerleme sind eine Art von Nonsense-Gedichten, die die Widersprüche der menschlichen Welt spiegeln. Sie zeigen zweierlei: Zum einen ist der Sprachfluss fremd, es fällt schwer hierin Verse zu erkennen, und zum anderen, dass groteske Widersprüche anscheinend universell komisch sein können.

 

Es folgen acht Volksromane. Der erste dürfte vom Stoff her einigermaßen bekannt sein: Die Schlangenkönigin Şahmeran. Protagonist ist der Tunichtgut Camsap. Er stammt zwar aus guter Familie, doch bringt er es zunächst zu nicht mehr als zum Holzsammler. Er hat Glück im Unglück und stößt auf ein geheimes Honiglager, das er mit seinen Bekannten plündert. Diese sperren ihn aber darin ein, um nicht teilen zu müssen. Dann stößt er auf Şahmeran, die Königin aller Schlangen und Drachen. Ihr gehört das Honiglager. Die Geschichte ist natürlich eine Variante des Stoffs, den man als Die Erzählung der Schlangenkönigin aus Tausendundeine Nacht kennen kann; die hier abgedruckte Variante fällt allerdings um einiges kürzer aus.

Dann kommen sechs Liebesgeschichten. Yusuf und Züleyha ist recht kurz, nur dreizehn Seiten lang; der Volksroman ist also ein eher kurzer 'Roman'. Die wunderschöne Züleyha verliebt sich in einen Mann, den sie im Traum sah. Mit großem Aufwand sucht man nach dem Palast, in dem der Fremde leben soll. Als er endlich gefunden wird, stellt die Schöne erschrocken fest: Der Traummann ist nicht der Palastbesitzer, sondern dessen Sklave. Die unmögliche Liebe wird hier mit dem Josef-Stoff des Alten Testaments verknüpft, denn der Sklave Yusuf ist niemand anderes als der biblische Traumdeuter Josef. Die nächsten vier Liebesgeschichten sind einander recht ähnlich: Leyla und Mecnun, Ferhat und Şirin, Kerem und Asli, Tahir und Zühre. Sie sind wiederum zwischen sechs und dreizehn Seiten lang. Es sind jeweils Tragödien, die die unmögliche Liebe behandeln; meistens sind die Eltern des Mädchens die trennenden Faktoren, weil der Junge aus verschiedenen Gründen als Bräutigam nicht infrage kommt. Den Abschluss der Liebesgeschichten macht Derdiyok und Zülfisiya, das mit einundvierzig Seiten etwas länger ist. Derdiyok und Zülfisiya, die Kinder zweier Migranten, die wie Brüder aufgewachsen waren, verlieben sich ineinander. Da die Liebe zu einer Frau in der Öffentlichkeit nicht besungen werden darf – das ist ehrrüchig – und Derdiyok genau dieses törichterweise macht, legen die Eltern des Mädchens dem Jungen allerlei Steine in den Weg. In dieser Geschichte werden Elemente der Queste mit der der Liebesgeschichte vereint; der Held ist hier interessanterweise kein Krieger, sondern ein 'Barde'.

Danach kommt Köroğlu. In der Stadt herrscht der tyrannische Bey mit eiserner Hand. Er nimmt sich von seinen Untertanen, was ihm gefällt, und foltert oder henkt, wer ihm missfällt. Der Stallknecht Yusuf fällt bei ihm in Ungnade, weil er einen Raub nicht beging und stattdessen nur ein mageres Fohlen mitbrachte. Geblendet wird der Stallknecht davongejagt. Das Pferd bringt ihn in das Dorf, in dem sein Sohn Ali aufwächst. Yusuf will Rache. Dazu schmiedet er seinen Sohn und das Pferd zu der Waffe, die als Räuber Köroğlu bekannt wird und dem Bey zusetzt. Dies ist ein Auszug – der Anfang – einer viel längeren Geschichte. Es ist eine Mischung aus Rache- und Abenteuergeschichte: Köroğlu geht mit mehr List als Gewalt gegen den schurkischen Landesfürsten vor. Interessant sind die homoerotischen Untertöne, denn statt eines Mädchens holt sich der Räuber einen Jungen als Gefährten.

 

Das Mädchen in der Truhe ist die einzige enthaltene Meddâh-Erzählung. In ihr geht es um eine indische Prinzessin, die sich in einen jungen Istanbuler Edelmann verliebt und seinetwegen allerlei Unbillen erleidet. Nach den vielen Liebesgeschichten der Volksromane mit völlig passiven Frauen ist dieses eine mit einer cleveren und sehr aktiven Frau – interessanterweise eine Ausländerin (aus türkischer Sicht).

 

Weiter geht es mit vier Märchen. Den Beginn macht Der Kristallpalast und das Diamantschiff. Um das Leben seines Kindes zu schützen, lässt der Sultan seine Tochter unterirdisch aufwachsen. Als Frau lebt sie dann in einem Kristallpalast mitten im Meer. Als daran ein kecker Jemenit vorüberfährt, nimmt sie die Verfolgung auf. Eine weitere Protagonistin, die hartnäckig und trickreich um ihren Liebsten kämpft. Außerdem wird hier wunderbarer Reichtum zu einem luxuriösen Wunder. Der Smaragdvogel Zümrüt Anka ist nun überhaupt nicht mehr von dieser Welt – er lebt in einer phantastischen Unterwelt, in die es den Fürstensohn verschlägt; ihm steht eine wahre Odyssee bevor. Der Wundervogel ist eine Variante des Simurg aus Tausendundeine Nacht. Auch in Keloğlan und das Ali-Cengiz-Spiel geht es wunderbar zu. Der Hirte Keloğlan will die Tochter des Herrschers freien. Der hingegen fordert halb amüsiert, der Junge solle erst das Ali-Cengiz-Spiel erlernen – Ali Cengiz ist ein Zauberer, der jeden seiner Lehrlinge auf eine tödliche Probe stellt. Zentral für die Geschichte ist eine Abfolge von Wundern, die westliche Leser vielleicht als Duell der Magier aus anderen Zusammenhängen kennen werden. Der Geduldstein beginnt mit einer unheimlichen Prophezeiung – ein Sperling weissagt einem Mädchen, dass es vierzig Tage am Haupte eines Toten wachen würde. Eine Prophezeiung, der das Mädchen nicht entkommen kann. Ein Märchen, das Ehrlichkeit und Ausdauer belohnt – aber doch nicht ganz.

 

Fünf Geschichten aus der Sparte Unheimliche Geschichten und Sagen schließen an die Märchen an; tatsächlich sind die Unterschiede zwischen den Arten von Geschichten nicht immer leicht zu erkennen; die folgenden Geschichten sind allerdings zumeist mit einem realen Ort verknüpft. Buckel auf Buckel thematisiert ein Badehaus, in dem sich Dschinnen versammeln und völlig launenhaft dem einen Sterblichen helfen und dem nächsten schaden. Die alte Frau und die Katze zeigt, dass Freundlichkeit gegenüber Tieren gut ist; hier wird sie sogar belohnt. In Die teuflische Tafel stößt ein Förster an einem abgelegenen Flecken im Walde auf eine Hochzeitsgesellschaft – die Feiernden sind alles Teufel. İbrik Kalfa, der ungehorsame Peri, wird wiederholt von der Alten gerufen, die die ängstliche Schwiegertochter necken will – doch dieses Mal gehorcht die Fee. Die Gefährten der Höhle ist schließlich eine Geschichte, die aus der christlichen Zeit Kleinasiens stammt: Dakyanus, der Tyrann von Tarsus, drängt seine Untertanen mit allerlei Grausamkeiten dazu, vom christlichen Glauben abzufallen und den (im eigentlichen Sinne) heidnischen wieder anzunehmen. Sechs ehemalige Gefährten des Tyrannen stellen sich gegen ihn.

 

Es folgen die volkstümlichen religiösen Überlieferungen. Hier machen die Prophetengeschichten den Anfang. Es gibt Varianten und dem Alten Testament unbekannte Details zu Noah (wie seine Gespräche mit Gabriel), zu Abrahams Weg zum Glauben, den Bau der Kaaba und Abrahams Tod. Jüdischer, christlicher und islamischer Glaube gehen auf dieselben Grundlagen zurück, werden aber zuweilen erheblich variiert. Darauf Der schiitische Imam Dschafar as-Sadiq über die Familie des Propheten; in dieser gleichnishaften Geschichte fliegt Gabriel mit Adam zu einem prächtigen Palast im Paradies, um ihm die Herrlichkeit Mohammeds Familie zu offenbaren.

 

Zum Schluss gibt es die Humoresken. Dieses sind einerseits zehn kurze Bektaşi-Geschichten, in denen die gewitzten und den religiösen Dogmen gegenüber respektlosen Anhänger des illustren Scheichs ihre Lebensweisheit zum Besten geben, und andererseits siebzehn Nasreddin-Hoca-Geschichten. Nasreddin ist eine Schelmenfigur, die Till Eulenspiegel ähnelt. Mit verborgener Weisheit und offenkundiger Einfalt stellt er die gewohnten Strukturen auf witzige Art infrage.

 

Ein achtzehnseitiges, kleingedrucktes Nachwort von Erika Glassen nimmt die Mammutaufgabe auf, den Leser knapp über historische und literarische Hintergründe im Allgemeinen und Details zu den abgedruckten Geschichten im Besonderen zu unterrichten.

 

Fazit:

Die tragische Schlangenkönigin Şahmeran, die Liebenden Leyla und Mecnun, der Räuberhauptmann Köroğlu, der Wundervogel, ein Duell der Magier, Dschinnen und Peri, Noah und Abraham und die schelmischen Anhänger des Scheichs Bektaş sowie Nasreddin Hoca; Glassen und Özdemir haben eine breite Auswahl aus der volkstümlichen Literatur der Türkei zusammengestellt. Eine wunderbare Gelegenheit, die Kultur des Landes von einer anderen Seite aus kennenzulernen.

 

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Anthologie:

Titel: Im Reich der Schlangenkönigin

Reihe: Türkische Bibliothek

Original: -

Herausgeber: Erika Glassen und Hasan Özdemir

Übersetzer: Sabine Adatepe, Angelika Gillitz-Acar, Erika Glassen u. a.

Verlag: Unionsverlag (Februar 2010)

Seiten: 342 Gebunden

Titelbild: Ein volkstümliches Hinterglasbild

ISBN-13: 978-3-293-10017-6

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 05.08.2010, zuletzt aktualisiert: 17.12.2023 14:02, 10839