Druckversion: Der Ausbruch oder der Fall Gengelstedt(Autor: Wolfgang Kellner)

Der Ausbruch oder der Fall Gengelstedt von Wolfgang Kellner

Rezension von Ralf Steinberg

 

Inhalt:

Die Erde in ferner Zukunft. Das gesellschaftliche Leben ist geprägt von Harmonie und ethischer Reife. Probleme werden gemeinsam von allen Betroffenen erwogen und erst geklärt, wenn sich Ein-Sicht herausbildet, also tatsächlich von allen begriffen und akzeptiert wird.

Für die besonders kniffligen Fälle gibt es das KKsF, das Komitee zur Klärung schwieriger Fälle. Bereits 1974 hatte Wolfgang Kellner den KKsF-Klärer, Leo Lex, in seiner Erzählung „Der Rückfall“ zum Einsatz gebracht.

Diesmal werden die drei ZBVs (zur besonderen Verwendung) des KKsF, Klärer Leo Lex, Banause Henry und Psychosoph Scharfblick, zu einem besonders schweren Konflikt hinzugezogen.

Eine Gruppe Jugendlicher hat sich der Prozedur unterzogen, an deren Ende sie als vollwertige Erwachsene anerkannt werden sollen. Während dieser Prozedur müssen sie beweisen, dass sie Denkende, Fühlende und Handelnde sind. Ziel ist das Erreichen der vollen Verantwortung.

Während die ersten zwei Eigenschaften problemlos bewiesen wurden, hat sich die Gruppe für das letzte Thema etwas Besonderes einfallen lassen. Sie wollen etwas Unmögliches versuchen, nämlich ein Stein ihrer Stadt Gengelstedt finden, die vor Jahrhunderten komplett umgesetzt wurde und nun im Zentrum eines riesigen Waldes liegt.

Die Gengelstedter verstehen sich als Pfleger und Bewahrer dieses Waldes. Als nun die sieben jungen Menschen enthusiastisch mit ihrer Idee ankommen, im Wald nach einem Stein des ursprünglichen Gengelstedts zu buddeln, sagt das verantwortliche KO-Zentrum (Koordinations-Zentrum) einfach: Nein! Man könne als Gengelstedter doch nicht einfach im Wald Unordnung anrichten.

An dieser Stelle also übernimmt das KKsF die Klärung des Konfliktes.

Doch trotz aller fortschrittlicher Denk- und Verhaltensweisen vertieft sich der Spalt zwischen den Gruppen, bis er zum Ausbruch der Jugendgruppe aus der Gesellschaft führt.

 

„Der Ausbruch oder der Fall Gengelstedt“ ist ein Stück Geschichte. Ein historisches Zeugnis einer untergegangen, fast vergessenen Kultur. Die utopische Erzählung ist so typisch DDR-Literatur, wie ihr Inhalt auch zugleich untypisch dafür ist.

Wie das?

Das eine utopische Gesellschaft in erster Linie Spiegelbild der Realität ist, scheint normal. Das der DDR-Leser zwischen den Zeilen nach Kritik und Aufmüpfigkeit suchte und damit der Autor indirekt auch gezwungen war, Verstecktes zu liefern oder recht deutlich auf das Fehlen von Anspielungen hinzuweisen, ist bereits eine jener historischen Erkenntnisse, die ein heutiger Leser nicht notwendigerweise besitzt.

Diese veränderte Zielgruppe führt auch zu einer veränderten Sicht auf ein solches Buch. Bestenfalls ignoriert der Leser die zeitliche und geografische Herkunft des Buches. Somit entginge ihm der ganze selbstreflexive Kladderadatsch und übrig bliebe eine sehr exotische Utopie.

Im schlimmsten Fall allerdings wird er durch das belastete Image einer hier zu vermutenden kommunistischen Ideologie abgelenkt oder ganz von der Lektüre abgehalten.

Allein schon die Erwähnung von Karl Marx könnte dieses Vorurteil ausreichend genug bestätigen.

 

Worin besteht aber die offensichtliche Exotik in der Kellnerschen Utopie, die heute über ihre DDR-spezifischen Inhalte zu Tage tritt? Ist die Welt von Gengelstedt eine kommunistische Welt, der Traum des hoffenden DDR-Autors?

 

Das Problem liegt wahrscheinlich in der Benennung. Während ein westlicher SF-Autor unbekümmert jede beliebige Gesellschaftsform skizzieren kann, ohne dass gleich das Wort Kommunismus fällt, ist dieser Namensmakel bei den DDR-Büchern quasi systemimmanent.

Aber der Trend geht in vielen Büchern hin zu einer vollversorgten Gemeinschaft, in der die Menschen ihren eigenen Interessen nachgehen, ohne sich um die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse kümmern zu müssen. Dabei bleiben natürlich jene Utopien unbetrachtet, in denen es keine gesellschaftliche Weiterentwicklung gibt.

Die wie im Schlaraffenland lebenden Menschen, kostenlose Forschungsexpeditionen in die Tiefen des Weltraums oder bewusst in Überfluss gehaltene Zivilisationen - stets kann man auch eine freie Bedürfnisbefriedigung des Individuums erkennen.

Dieser Teil der Utopie ist also gar nicht einmal ideologisch, sondern in aller erster Linie denkbar, vorstellbar – ein Traum.

Die ökologische Basis wird in den wenigsten Werken wirklich erläutert, vermeiden die Autoren eine ideologische Festlegung.

Kellners utopische Gesellschaft steht am Ende der DDR-Literatur und damit nicht mehr unter dem unbedingten Erfordernis Schlagworte unterbringen zu müssen, damit das Buch erscheinen kann. Der Wortschatz bleibt zwar kulturell bodenständig und aus der Ferne zweier Jahrzehnte recht geschwollen und umständlich, aber auch konkreter. Es gibt keine ethischen Grundsätze der utopischen Gesellschaft, die Kellner dem Leser nicht erklärt. Mit Hilfe des geschichtsbewanderten Banausen Henry werden immer wieder Beziehungen zum Heute hergestellt und dabei sind nicht wenige Bezügen immer noch aktuell, wenn etwa Rowdytum oder Umweltverschmutzung zur Sprache kommt.

Die Menschen in Kellners Utopie haben eine Streitkultur entwickelt, die es ihnen erlauben soll, einen funktionieren Ausgleich zwischen Individuum und Gemeinschaft herzustellen.

Denn darin liegt stets das große Problem derartiger Konzepte.

Der Mensch als Individuum hat jede Menge Bedürfnisse, deren Erfüllung sich nicht unbedingt mit den zivilisatorischen Zielen seiner Menschengemeinschaft, der er angehört, deckt.

So bleibt etwa mein Bedürfnis nach diversen Büchern unbefriedigt, weil ich sie mir nicht leisten kann. Eine kostenlose Verteilung von Büchern führte aber zu letzter Konsequenz zum Zusammenbruch der Gesellschaft, da sie auf einen direkten Wertausgleich aufgebaut ist. Von meinem Lob oder Tadel kann der Autor eines Buches eben nicht leben.

Genau hier aber muss das Konzept einer utopischen Welt eine Lösung anbieten.

Bei Kellner sieht das so aus, dass nicht nur die Gesellschaft in der Lage ist (eine ökonomische Erklärung liefert auch Kellner nicht), sowohl Grund- als auch Luxusbedürfnisse der Menschen zu erfüllen, sondern diese wiederum in ihren Bedürfnissen an den Staat angepasst sind. So wie bei Wells findet sich eben immer jemand, der das Notwendige tut, weil er es will, es ihm ein Bedürfnis ist.

Der Gesellschaft dienen ist heute so fehlbesetzt. Eine freiheitliche Ordnung verdammt den Diener. Schon bei Brecht hieß es:

„Und weil der Mensch ein Mensch ist,

Drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern!

Er will unter sich keinen Sklaven sehn

Und über sich keinen Herrn“.

Die Befreiung des Menschen aus den Hierarchien führte zu einer Verstärkung seiner Individualität. Anette Humpe sagte kürzlich zum Hintergrund ihres Liedes „Dienen“: „Das Miteinander ist noch wie ein Warenaustausch.“ Es ist eine Richtung, an deren Ende das Zusammenbrechen der Gemeinschaft steht. Eine Utopie mit umfassender Bedürfnisbefriedigung muss den Menschen auch etwas zu tun anbieten. Bei Kellner ist es das Dienen als ethische Grundlage, als Sinn des Lebens quasi. Der Kitt der Gemeinschaft ist ein einheitlicher Konsens, eine Ein-Sicht. Was durch das tragische Ende des Ausbruchs der Jugendlichen an gesellschaftlicher Veränderung offenbar wird, nämlich eine Weiterentwicklung in der Menschlichkeit, führt zu einer globalen Auseinandersetzung, zu einer Welt-Erwägung.

Es erstaunt, wie strickt Kellner auf demokratische Regeln pocht. Er setzt der Gängelei die Erkenntnis entgegen, dass sie eine Überbewertung der eigenen Person darstellt, dass Führung immer zu Unterdrückung neigt.

Und hier liegt das DDR-untypische, dass in diesem Buch liegt. Weg von Parolen wie „Die Partei hat immer Recht“, oder „Diktatur des Proletariats“. In Kellners Welt wird weder unterdrückt, noch gleichgeschaltet. Die Menschen haben sich gleichberechtigt, weil es ihr Bedürfnis ist, weder höher, noch tiefer, als andere zu stehen.

Die daraus sich entwickelnden Strukturen und Handlungen sind das eigentlich Spannende am „Ausbruch“. Kellners Menschen sind zwar immer noch Menschen, aber sie sind tatsächlich anders. Im positiven Sinn weiterentwickelt. Und das wird nicht nur behauptet, Kellner schafft es auch, sie so sein zu lassen.

 

Fazit:

„Der Ausbruch oder der Fall Gengelstedt“ ist kein moderner SF-Roman. Aber er ist ein Exot aus der Vergangenheit, der wesentlich weiter in die Zukunft blickt, als es das Übliche heute bietet.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404170028597806c722

Titel: Der Ausbruch oder der Fall Gengelstedt

Utopische Erzählung

Mit Illustrationen von Hans Ticha

Verlag Das Neue Berlin, 1987

Hardcover mit Schutzumschlag, 420 Seiten

ISBN: 3360000854

Erhältlich bei: Amazon

, zuletzt aktualisiert: 10.04.2024 18:52