1Q84 (Autor: Haruki Murakami)
 
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1Q84 von Haruki Murakami

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Mit dezentem Chic gekleidet sitzt eine junge Frau in einem überraschend noblen Taxi auf einer Tokioter Autobahn im Stau. Sie trägt den seltsamen Namen "Aomame", was "grüne Erbse" bedeutet, und muss zu einem dringenden Termin. Der Taxifahrer erklärt ihr zweierlei. Erstens kommt in wenigen Metern eine Treppe für Notfälle, über die man die Autobahn verlassen kann; die wenigsten wissen davon. Wenn es ihr wirklich wichtig mit dem Termin ist, kann sie darüber zur U-Bahn gelangen. Zweiten – wenn man so etwas macht, dann erscheinen manchmal die Dinge etwas seltsam. Es ist aber wichtig, sich zu versichern, dass es nur eine Realität gibt. Sie bedankt sich artig und macht sich auf den Weg. Beim Hotel angekommen prüft sie ihr Erscheinungsbild, begibt sich zu einem bestimmten Hotelzimmer, gibt vor, zum Hotelservice zu gehören, und ermordet den Bewohner des Zimmers, indem sie ihm eine Nadel in den Nacken sticht – es bleibt nur eine winzige Wunde, dem Toten wird wahrscheinlich ein Herzinfarkt attestiert werden. So eliminiert Aomame Männer, die ihre Frauen schwer misshandeln. Noch am selben Tag bemerkt sie Seltsames: Die Polizisten tragen seit dem Mittag neue Uniformen – und am Himmel steht plötzlich ein zweiter Mond.

Anderswo in Tokyo trifft sich Tengo mit Komatsu. Letzterer ist Redakteur bei einer Literaturzeitschrift und fördert Tengo. Bislang mit mäßigem Erfolg – keines von Tengos eingereichten Werken wurde je abgedruckt. Aber Tengo hat noch Zeit, er wird erst in den nächsten Wochen dreißig und braucht kein Geld, da er Mathematik unterrichtet. Für Komatsu liest er die vielen eingereichten Manuskripte, die sich um den Debütpreis der Zeitschrift bewerben. Dieses Mal ist ein ganz außergewöhnliches Werk dabei: "Die Puppe aus Luft". Der Stil ist zwar sehr schwach und es steckt voller Fehler, aber dennoch – man liest es zu Ende, es lässt einen nicht mehr los. Aber es so einreichen – keine Chance. Da bringt Komatsu seine kuriose Idee auf den Tisch: Tengo soll das Werk überarbeiten. Er wird das können. "Die Puppe" wird einschlagen und den Preis abräumen. Tengo ist sich nicht sicher – wäre das nicht betrügerisch? Nun ja, herauskommen sollte es besser nicht, aber Betrug ist ein zu hartes Wort. Tengo will es sich überlegen, aber eigentlich steht es schon fest – er kann gar nicht anders, als die "Puppe" zu bearbeiten. Doch die Sache muss mit der Autorin Fukaeri abgesprochen werden. Die Siebzehnjährige ist sehr seltsam – glaubt sie vielleicht wirklich, ihre Geschichte mit den zwei Monden selbst erlebt zu haben?

 

Die Geschichte spielt 1984 in Tokyo, sieht man von ein paar Ausflügen ins Umland ab. Allerdings stellt Aomame ziemlich bald fest, dass mit diesem Tokyo etwas nicht stimmt. Meist sind es Kleinigkeiten wie die neuen Polizeiuniformen; am auffälligsten ist der zweite Mond. Aomame nennt diese andere Realität "1Q84". Dem westlichen Leser werden die kleinen Unterschiede vermutlich nur dann auffallen, wenn sie im Roman selbst thematisiert werden. Es ist Tokyo, 1984, es gibt Heinecken und Linquini mit Meeresfrüchten, Tengo unterrichtet an einer Yobiko und schreibt mit einem Textverarbeitungsgerät (vulgo: Computer). Trotz der großen Situativität der Geschichte verwendet Murakami nicht übermäßig viel Zeit auf die Beschreibung des Settings. Es scheint ein mittelmäßig stark ausgeführtes Setting zwischen Ambiente und Milieu zu sein; gelegentlich spielt noch eine Note atmosphärischer Untermalung hinein.

Die Anzahl der phantastischen Elemente ist daher auch recht schwer zu bestimmen; eigentlich ist es eine Alternativweltgeschichte, doch ob die Polizisten nun Revolver oder Pistolen tragen, die meisten Unterschiede erkennt man nicht, wenn nicht darauf hingewiesen wird. Später kommen noch die "Little People" hinzu. Das ist wohl eine Anspielung an die englischen Feen, doch sonderlich feenhaft sind sie nicht. Wer sie sind und was sie vermögen, dies herauszufinden ist Teil der Spannungsquellen, darum will ich nicht mehr dazu sagen.

 

Das Dramatis Personae ist für eine Geschichte dieser Länge ebenfalls überraschend – und zwar überraschend klein ausgefallen. Zentral sind Aomame und Tengo, die jeweils einen eigenen Handlungsstrang haben. Aomame stammt aus einer zu den Zeugen Jehovas gehörigen Familie, hat sich aber als Jugendliche von ihnen losgesagt; ihr Seelenleben wurde aber dennoch schwer durcheinandergebracht. Sie studierte später Sportmedizin und unterrichtet Kampfsport, vor allem für Frauen. Außerdem hat sie eine Technik entwickelt, wie man einen Menschen mit einem Nadelstich in den Nacken tötet. Und sie hasst feige, gewalttätige Männer, die ihre Familien prügeln, engstirnige religiöse Fanatiker und Verstopfungen. Sieht man von einem vorsichtigen, aber nicht minder manischen Sexleben ab, lebt sie ein sehr genügsames Leben.

Tengo ist wie Aomame neunundzwanzig Jahre alt. Sein Leben sieht allerdings viel normaler aus: Nach der Schule studierte er Mathematik, und dieses Fach unterrichtet er auch seither. Außerdem versucht er sich als Schriftsteller. Doch auch bei ihm finden sich Eigenheiten. Sein Vater war Gebühreneintreiber für den japanischen Staatsrundfunk und nahm am Sonntag stets seinen Sohn mit auf seine Runde. Tengo stellte sich gerne vor, nicht sein leibliches Kind zu sein – eine Vorstellung, die er sich als Erwachsener erhalten hat. Tengos Mutter ist angeblich früh verstorben – Tengo glaubt, sie habe seinen 'Vater' nur verlassen. Als Kind war Tengo ein Mathegenie und auch als Erwachsener findet er den Umgang mit Zahlen beruhigend – er hat allerdings nur wenig aus dieser Begabung gemacht. Auch im Umgang mit anderen Menschen ist er seltsam – Freunde hat er keine und seine Intimfreundin ist eine zehn Jahre ältere, verheiratete Frau mit sehr genauen Vorstellungen. Gleichaltrige Frauen sind Tengo zu anstrengend. Auch Tengos Seelenleben ist ziemlich durcheinander. Darüber hinaus haben Tengo und Aomame einiges gemeinsam.

Es scheint, als wäre es Fukaeri, die alles ins Rollen bringt. Sie ist ein siebzehnjähriges Mädchen, das bis zum zehnten Lebensjahr in der Sekte der Vorreiter lebte. Dann tauchte sie unvermittelt bei Ebisuno, einem Freund ihrer Eltern auf, der sie bei sich aufnahm. Sie ist ein seltsamer Mensch. Sie leidet unter schwerer Legasthenie und kann kaum lesen oder schreiben. Sie spricht sehr einsilbig und stets ohne Intonation. Man weiß nie so richtig, was sie denkt oder ob sie überhaupt zuhört. Aber sie sieht umwerfend aus. Zu diesen drei Figuren gesellen sich noch einige Randfiguren: Da ist Komatsu, der ehrgeizige Redakteur, Aomames Freundin Ayumi, eine einsame Polizistin, Tamaru, ein schwuler Bodyguard, die ältere Dame und Tengos lange Zeit namenlos bleibende Freundin.

Wie immer gehören die exzentrischen und vielschichtigen Figuren zu Murakamis Stärken. Besonders die beiden zentralen Figuren werden sehr detailliert ausgeführt.

 

Nach der Stärke des Romans – eigentlich der Romane, denn es handelt sich bei 1Q84 um die beiden ersten Teile einer Trilogie – zur größten Schwäche: dem Plot. Denselben kann zumindest ich nur sehr diffus ausmachen. Beide Handlungsstränge laufen sehr langsam aufeinander zu. Während Aomame eine Auftragsmörderin für die gute Sache ist – sie erinnert hierin ein wenig an Jane Charlotte aus Matt Ruffs Bad Monkeys, nur dass die Angelegenheit bei Murakami ernster und kleiner ist – die nach etwa der Hälfte der Strecke den entscheidenden Auftrag erhält, schreibt Tengo Fukaeris Geschichte neu und wird so in die Vorgänge um die Vorreiter und Little People verwickelt. Allein die primären Spannungsquellen passen kaum dazu. Sehr genau werden Tengo und Aomame entwickelt, ihr Leben – und Einsamkeit – in extenso dargestellt. Das passt viel besser zu einer doppelten Entwicklungsgeschichte – nur leider entwickelt sich viel zu wenig und bei dem enormen Aufwand (immerhin sind es bisher 1022 Seiten) gibt es viel zu wenig verbindende Ergebnisse. Eingestreut sind gelegentlich groteske Momente, die zum Staunen anregen, und einfach – im doppelten Sinne – komische Szenen mit Fukaeri; es sind diese Szenen, die zumindest mich am Lesen gehalten haben.

Der Plotfluss ist selbst in den schnellsten Momenten nur als gemessen zu beschreiben; zumeist dümpelt er träge vor sich hin.

Daneben finden sich noch zahllose Anspielungen – George Orwells 1984, Anton Tschechows Die Insel Sachalin, diverse Märchen und Filme – eine tiefere Auseinandersetzung ist mir nie aufgefallen.

 

Damit zu Erzähltechnik. Die Stränge werden jeweils aus auktorialer Perspektive erzählt. Oftmals ist diese aber so dicht an den zentralen Figuren, dass sie personal wirkt. Der Handlungsaufbau wirkt wie eine Mischung aus dramatisch und episodisch – z. B. bei Aomame werden die Racheengel-Elemente im Wesentlichen dramatisch und progressiv erzählt, doch dazu kommen viele Episoden, bisweilen regressiv, die etwas mit dem Duktus der Geschichte zu tun haben können oder auch nicht. So weit scheinen die Stränge eher disillusionierend zu sein, auch wenn es gelegentlich Lichtblicke gibt, die eine positive Entwicklung andeuten könnten.

Lange Zeit bleibt der Stil relativ kohärent, gleich ob bei Aomame oder Tengo (wenngleich Aomames Strang vielleicht in der Satzanbindung etwas harscher ist). Die Sätze sind eher kurz, meist gradlinig, auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt. Der Text ist sehr dialoglastig – und hier gibt es nicht nur große Unterschiede zwischen den Sprechenden, hier kann Murakami wieder glänzen: Die Dialoge sind wunderbar pointiert. Recht spät im Text, nachdem der Leser endlich eine Kurzfassung von "Die Puppe aus Luft" zu lesen bekam, nimmt die Kohärenz ab und Fragmente aus anderen Bereichen dringen ein. Das weckt noch einmal das Interesse, was hinter all dem stehen mag, bevor dann auch der zweite Teil der Trilogie endet.

 

Fazit:

Während Aomame, Auftragsmörderin im Namen der Gerechtigkeit, feststellt, dass sie in einer fremden Realität gelandet ist, wird der Amateurautor Tengo nach seiner Überarbeitung von Fukaeris seltsam fesselndem Werk "Die Puppe aus Luft" immer mehr in die Ereignisse um die fanatische Sekte Vorreiter und die mysteriösen Little People verstrickt. Insgesamt sind die hier vorliegenden ersten beiden Teile der Trilogie durchwachsen. Viel zu lange Zeit tappt der Leser im Dunkeln, während er den in extenso ausgearbeiteten Leben der zentralen Figuren folgt; hier hätte Murakami besser die eine Kleidungsbeschreibung und die andere Abendessenbeschreibung gekürzt. Dann gibt es immer wieder großartige Dialoge zwischen Tengo und Fukaeri oder Szenen um Aomames Verunsicherung und dergleichen mehr, bei denen der Autor glänzen kann. Trotz all meiner Vorbehalte bin ich noch immer gespannt auf den dritten Teil, der im Herbst dieses Jahres (2011) erscheinen soll.

 

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Roman:

Titel: 1Q84

Reihe: 1Q84, Bd. 1 & 2

Original: 1Q84, Book 1 & 2

Autor: Haruki Murakami

Übersetzer: Ursula Gräfe

Verlag: Dumont (Oktober 2010)

Seiten: 1022 - Gebunden

Titelbild: Zero

ISBN-13: 978-38321-9587-8

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 14.01.2011, zuletzt aktualisiert: 23.08.2023 08:32, 11445