Accelerando (Autor: Charles Stross)
 
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Accelerando von Charles Stross

Rezension von Jörg Pacher

 

Was macht den Menschen aus? Ist es möglich, dass wir irgendwie und irgendwann zu etwas werden, das man nicht mehr als human bezeichnen kann? Und wäre das als eine gute oder schlechte Sache einzustufen? Solcherlei Grundsatzfragen stellen sich dem Post- oder Transhumanismus. In der Sciencefictionexistiert der als ein Nischengenre, das mindestens genauso stark von spekulativer Wissenschaft, wie von Sciencefiction-Romanen beeinflusst ist.

 

Sciencefiction ist ja ohnehin ein weit gefasster Begriff. Nicht, dass es nicht genügend Weltraumschlachten und Schmugglerepen gebe. Während die aber hauptsächlich intertextuellen Bezügen zu verdanken sind, war Sciencefiction früher ja mal so was wie ‚Gedankenmachen über die Zukunft’. Warum bald eher das Nachahmen der eigenen Lieblingsromane und -serials im Mittelpunkt stand, sei dahingestellt. Gefallen hat es uns ja trotzdem.

Ist man auf der Suche nach zeitgenössischer Sciencefiction, die eher aus der Konfrontation mit der Gegenwart entstanden ist, denn aus pastiche writing wird man früher oder später bei Charles Stross landen.

Nicht nur dass dieser Mann den Hugo- und Nebula-Award gewonnen hat, seine Texten, die mit IT, Recht und Ökonomie jonglieren polarisieren auch das Publikum. So kommt es schon mal vor, dass seine Bücher als „von Nerds für Nerds geschrieben“ kritisiert werden. Leicht macht Stross es seinem Publikum zumindest nicht, darüber sind sich alle einig.

 

In „Accelerando“ setzt sich der Brite mit drei Generationen einer Familie auseinander, die das 21. Jahrhundert durchleben. Wer jetzt denkt: „da leben wir ja selbst, im Grunde kann das nur eine bessere Soap werden“, der irrt gewaltig. Stross ist ein Anhänger der Theorie der Singularität und geht von einer immer rasanter fortschreitenden Computerentwicklung aus. Schon auf den ersten paar Seiten formt er unsere bekannte Umgebung konsequenter technisch um, als es tausende Space-Opera-Schreiber jemals getan haben. Und spätestens wenn der Episodenroman sich in die 2040er aufmacht (noch vor der Hälfte der 560 Seiten) sind die Erde und besonders deren Bewohner nicht wiederzuerkennen. Charles Stross ist aber kein Technik-Fetischist, in dem Sinn, dass er sich an technischer Gigantomanie ergötzt. Die gibt es durchaus, Stross geht es aber eher um den Einfluss dieser Technik auf den Menschen und – was zumindest in „Accelerando“ eine gewisse Rolle spielt – auf Katzen.

 

Die Katze Aineko ist so etwas wie das Bindeglied zwischen den drei Generationen der Macx-Familie: das erste Drittel des Buches ist dem Open-Source-Apologeten Manfred gewidmet, einem der Vorreiter des Transhumanismus, Verfechter postkapitalistischer Wirtschaftssysteme und Förderer künstlicher Intelligenz. Manfred muss sich mit Frauen und Finanzbehörden herumschlagen, kriegt es aber auch mit Problemen zu tun, weil er einen großen Teil seines Hirns an Computer ‚outsourcet’. Ein gutes Jahrzehnt später flieht seine jugendliche Tochter Amber vor einer kontrollsüchtigen Mutter ins Weltall und wird die Königin einer der ersten Jupiter-Kolonien. Schließlich bricht Amber in einem Raumschiff von der Größe einer Getränkedose gemeinsam mit einer Crew in virtueller Form in ein anderes Sonnensystem auf. Denn dort gibt es Überbleibsel von Außerirdischen.

Als die hochgeladene Amber nach 28 Jahren endlich zurückkehrt, ist ihr körperliches Alter Ego schon lange Bankrott gegangen und hat einen Sohn namens in Sirhan geboren. Der ist inzwischen erwachsen und Historiker. Amber ist in gewisser Weise untot, ein Wiedergänger und hat die Finanzprobleme ihrer körperlichen Existenz am Hals. Denn es ist so „dass die Untoten gemeinschaftlich und mehrfach haftbar für die Schulden sind, die einzelne Inkarnationen von ihnen gemacht haben. In juristischer Hinsicht ist es ein Präzedenzfall, der die Leute davon abhalten soll, als Ausweg aus dem Bankrott Selbstmord auf Zeit zu begehen.“

Wer mit solcherlei Sätzen nichts anfangen kann, der ist bei „Accelerando“ wahrscheinlich im falschen Buch gelandet. Eine so konsequent transformierte Umgebung verlangt natürlich auch dem Leser einiges ab. Da kann man sich nicht auf die Standards verlassen, die einen im Jahr 2006 durch den Alltag bringen. Aber das macht „Accelerando“ so spannend: mindestens auf jeder zweiten Seite wird man einer Idee konfrontiert, die unser menschliches Selbstverständnis von hinten aufrollt. Egal ob es um Tod oder Geschlecht geht, um Identität, Zeitwahrnehmung oder Existenz im Allgemeinen. Dabei werden diese Themen nicht in pseudophilosophischer Manier breitgetreten, sondern eher gestreift. In ihrer Selbstverständlichkeit für die Charaktere dieser uns fremden Erde sind sie in die Handlung eingebettet. Und will der Leser ‚verdauen’, was ihm da als Appetithäppchen hingehalten wird, muss er sich schon kurz Zeit nehmen, sprich die Lektüre auch mal unterbrechen, um selbst darüber nachzudenken, was der dargestellte Sachverhalt in letzter Konsequenz bedeutet und mit sich bringt.

 

Das ist popkulturelle Schreibe in großer Perfektion. Sie wirkt nicht prätentiös und bietet dennoch jede Menge Substanz. Aber wenn wir so durch einen Ideenpool gelenkt werden, treten natürlich andere Zutaten eines Romans eher in den Hintergund. Zumindest in der ersten Hälfte des Buchs fällt das aber kaum auf.

 

Erst beim Auftreten von Außerirdischen wird die suspension of disbelieve ein wenig überspannt. Während wir die menschliche Kultur kaum mehr wieder erkennen und das Stross gerne abnehmen, scheint er es sich in diesem Kontext ein wenig zu leicht zu machen. Die Außerirdischen sind zwar in einem ähnlichen Computersystem gefangen wie die Posthumanen, scheinen aber sogar weniger entfremdet als diese.

In solchen Momenten treten dann die Figuren hinter die Oberflächenpsychedelik zurück und der Roman wirkt mitunter ein wenig träge. Stross kriegt aber jedes Mal nach einigen Seiten die Kurve. Die posthumanen Protagonisten treten wieder in den Mittelpunkt.

 

Worüber sich manche Leser eher mockieren könnten, ist, dass der IT-Jargon ziemlich unkritisch in die Zukunft transferiert wird. In fünfzig Jahren gibt es nach Stross zum Beispiel zwar kaum mehr Menschen aber immer noch Blogger und auch Aliens benutzen etwas, was sich Firewall nennt. Aber die Kritiker müssen dann doch eingestehen, dass Sciencefiction in ihrer ursprünglichen Bedeutung eben die Gegenwart immer schon in eine mehr oder weniger ferne Zeit extrapoliert hat, anstatt sie völlig neu zu erfinden. Ersteres macht auch Stross. Sein Zugang bläht allenfalls den Ideenaspekt so auf, dass andere Eigenschaften einer Erzählung zwangsweise ein wenig zurücktreten müssen.

Nur für wen Lesefluss, das zentrale Attribut eines guten Buches ist, wird wirklich enttäuscht werden. „Accelerando“ ist eben keine Einbahnstraße und es liegt am Leser sich jeweils Gedanken über die Abzweigung zu machen, die er wählt. Der Versuch sich auf „Accelerando“ einzulassen, sei aber selbst Flow-Junkies nahe gelegt. Selbst wenn man nur ab und zu irgendeine Seite aufschlägt und ein zusammenhangsloses Fragment liest, sollte es den Preis dieses Buches mehr als nur wert sein.

 

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Buch:

Accelerando

Autor: Charles Stross

Taschenbuch, 558 Seiten

Heyne, September 2006

 

ISBN: 3453521951

 

Erhältlich bei: Amazon

 


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Erstellt: 29.11.2006, zuletzt aktualisiert: 24.11.2023 15:44, 3143