Argentinische Erzählungen (Hrsg: Jorges Luis Borges )
 
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Argentinische Erzählungen

Reihe: Die Bibliothek von Babel, Band 2

Rezension von Oliver Kotowski

 

Argentinische Erzählungen ist der zweite Band der Bibliothek von Babel, einer Reihe von J. L. Borges herausgegebener phantastischer Geschichten. Die Erzählungen enthalten acht Geschichten von neun argentinischen Autoren. Die meisten Autoren werden europäischen Lesern unbekannt sein, nur Casares, Láinez, Ocampo und natürlich Cortázar sind bisher ins Deutsche übersetzt worden.

Bei den Geschichten lassen sich nun einerseits große Vielfalt, andererseits aber auch Gemeinsamkeiten feststellen. Schauplatz ist immer Argentinien, zumeist die Stadt der guten Luft, Buenos Aires. Der Blick geht eher ins Detail als über die Breite des Schauplatzes; es wird knapp ein Gefühl für das Leben dort vermittelt; damit sind die Settings eine Art von Milieu.

Die Figuren sind zwar sehr unterschiedlich, doch einige zentrale Eigenheiten tauchen häufiger auf: Dorfbewohner oder städtische Arbeiter, die pikaresk sind und verarmte Frauen aus dem Großbürgertum. Aufgrund der Kürze der Geschichten sind die runden Figuren nur skizziert; bisweilen wird eine Eigenschaft, die für die Geschichte wichtig ist, stärker entwickelt; sie neigen häufig zur Exzentrik.

Die Plots sind in einem gewissen Maße alle Wundergeschichten – jedoch die Wunder treten nie mit schrillen Hollywood-Spektakel auf, sondern still und leise. Zum Teil spiegeln sie sich nur sanft im Verhalten der Figuren. Eine Reihe von ihnen könnte man als minimalistische Phantastik todorovscher Prägung lesen, wenn man will; nur Casares' Geschichte legt es wirklich nahe. Damit passen die Wunder zum Plotfluss, der mal ironisch oder pikaresk humorvoll und mal tragisch, aber nie actionreich ist.

Stil und Plotfluss sind häufig hervorragend aneinander angepasst – die Erzählmuster sind zum Teil echte Glanzstücke, was im Rahmen der Phantastik doppelt so schwer wiegt, da deren Verhältnis, als ganzes gesehen, schwer gestört ist.

 

Die Geschichten im Einzelnen sind:

Adolf Bioy Casares; Der Tintenfisch bleibt bei seiner Tinte (23 S.): Der Erzähler der Geschichte, ein Dorflehrer und selbsternannter Intellektueller, bemerkt Sonderbares: Mitten in einer Hitzeperiode lässt der angesehene Juan Camargo den Sprinkler einer Grünanlage abbauen. Dazu kommt für einige Tage einer der Abendschüler, Tadeo, der Patensohn Camargos, um eigenwillige Lektüre für seinen Ziehvater auszuleihen. Aufgeregt diskutiert man im Dorf die möglichen Zusammenhänge. Man kommt überein: Tadeo soll Camargo aushorchen. Er hat Außergewöhnliches zu berichten. Die Geschichte entspricht genau der Dorfgemeinschaft: Sie ist träge, feige und neugierig – was der junge Tadeo so lakonisch an Ungeheuerlichen zu berichten hat, könnte ihre Welt aus der Fassung bringen. Humorvoll und gleichzeitig bitter ist diese todorovsche SF-Geschichte.

 

Arturo Cancela & Pilar De Lusarreta; Das Schicksal, der Stümper (26 S.): Juan Pedro Reartes ist Straßenbahnfahrer in Buenos Aires. Durch einen grotesken Unfall wird er zum tragischen Helden: Seine Pferdebahn und der letzte Ochsenkarren der Stadt stoßen zusammen, was zum Abschluss der Geschichte der Ochsenkarren in Buenos Aires und einem mehrfachen Beinbruch beim Lenker Reartes führt. Hinkend kehrt er in die Welt zurück, doch sein Ruhm verblasst in Bälde, denn seine Versehrung verhindert, dass er Fahrer einer elektrischen Bahn wird. Dennoch ist das Schicksal noch nicht fertig mit Reartes. Die Biographie Reartes, auf wenige Episoden geschrumpft, ist in einem ironischen Stil gehalten und mit amüsanten Einwürfen des Erzählers gewürzt. Das Phantastische der Geschichte liegt in den sonderbaren Zufällen, die Reartes Leben bestimmen.

 

Julio Cortázar; Das besetzte Haus (10 S.): Der Erzähler und seine Schwester Irene leben, beinahe wie ein Ehepaar, zusammen in einem alten Haus in Buenos Aires. Es ist viel zu groß für die beiden, doch sie stehen um sieben Uhr auf, machen das Haus sauber, essen um zwölf zu Mittag und haben dann den Tag zu ihrer freien Verfügung: Irene strickt und ihr Bruder liest. Eines Tages poltert es im wenig benutzten Teil des Hauses und dieser muss rasch abgesperrt werden. Eine höchst ungewöhnliche "Haunted House" Geschichte, denn das schreckliche Geschehen wird massiv tabuisiert – der Leser spürt, dass in die bürgerliche Idylle ein unfassbares Grauen einbricht – aber gezeigt wird es nie.

 

Manuel Mújica Láinez; Die Postkutsche (8 S.): Die alternde Jungfer Catalina Vargans reist mit der Postkutsche von Córdoba nach Buenos Aires. Die Reise verläuft schleppend und unangenehm. Unangenehm ist Catalina auch die Erinnerung an ihre Schwester. Sicher, sie hat viel Gold und Land geerbt – und das Testament zu vernichten war nicht unmoralisch, schließlich war ihre Schwester verwirrt. Als der Kurier der Krone sich im stickigen Wagen eine Pfeife anzündet, will sie ihn anfahren, doch in den Rauchschwaden entdeckt sie einen Fahrgast, der ihr bisher entgangen war. Eine relativ normale Gruselgeschichte mit übernatürlichem Ende; bemerkenswert ist allerdings, wie gut der Erzählstil dem Inhalt angepasst ist.

 

Silvina Ocampo; Die Dinge (5 S.): Camila Ersky ist eine Frau aus ehemals reichem Hause. Sie hatte einst einen wunderbaren Armreif besessen, den sie sehr schätzte. Aber als er im Zuge der Verarmung verschwand, wie all' die anderen Dinge ihrer Kindheit, trauerte sie ihm nur wenig nach, denn ihr Herz hing an ihren Mitmenschen. Jahre später taucht der Armreif wieder auf und Camila beginnt sich an die anderen Dinge zu erinnern. Eine kleine, mysteriöse Geschichte, die sich mit dem Wert von Dingen befasst.

 

Frederico Peltzer; Der Schachlehrer (3 S.): Ein älterer, dandyhafter Fremder kommt in das Dorf. Er schlägt dem Schachanfänger eine Partie vor. Im Laufe der Zeit wird der Anfänger immer besser. Schließlich fordert der Lehrer zu einem letzten Spiel auf. Eigentlich nur eine knappe Erzählung von einem herumvagabundierenden Schachspieler, der mit einem Einheimischen Schach spielt – doch die überraschende Wendung am Ende zwingt zum Überdenken der Geschichte.

 

Manuel Peyrou; Beinahe wäre es geschehen (13 S.): Nach dem Besuch im Büro eines Freundes begegnet der Erzähler auf der Corrientes-Straße einem unbekannten, aber markanten Mann. Kurze Zeit später begegnet er ihm noch mal – nur jetzt trägt er eine Krawatte statt einer Fliege. Es ist doch kaum möglich einen Bogen um den Erzähler und einen Kleidungswechsel in so kurzer Zeit zu machen, oder? Ein Zwilling – ein Zufall? Und dann begegnet er dem Anderen noch einmal – wieder verändert! Der Sache ist auf den Grund zu gehen. Eine typische Mystery-Geschichte: Der Rätselplot wird mit dem Übernatürlichen kombiniert.

 

Maria Esther Vázquez; Der Auserwählte (8 S.): Langsam beginnt das Zeitungslesen ermüdend zu werden. Vor 200 Jahren, als sie eingeführt wurde, hatte er jede Zeile verschlungen. Jetzt liest er nur noch die Sonntagsbeilage, weil er sich dazu zwingt. Der Auserwählte grübelt über seine Situation nach. Es gibt eine Reihe von Andeutungen, die den Leser schon vor der Auflösung ahnen lassen, woher der Auserwählte kommt; mich hat das Ende dennoch ein wenig überrascht. Es gibt weiterhin einen Fehler, der den Erzähler unzuverlässig macht – damit schafft der Autor eine Menge Interpretationsspielraum für die Geschichte um einen – vielleicht – Unsterblichen.

 

Fazit:

Die Kurzgeschichten bieten einen schönen Einblick in die phantastische Literatur. Die Sammlung ist Solchen ans Herz zu legen, die verborgene Wunder suchen mögen oder Phantastik mit gelungenen Erzählmustern schätzen – und natürlich alle, die mehr von den hierzulande wenig bekannten argentinischen Autoren lesen wollen. Wer schrille Wunder oder schnelle Action sucht, sollte allerdings einen weiten Bogen um die Argentinischen Erzählungen machen.

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Titel:

Argentinische Erzählungen

Herausgeber: Jorges Luis Borges

Reihe: Die Bibliothek von Babel, Band 2

Übersetzer: Monika Lopez, Rudolf Wittkopf, Maria Bamberg

edition Büchergilde, April 2007

Gebunden mit Schutzumschlag, 110 Seiten

ISBN-10: 3940111023

ISBN-13: 978-3940111029

Erhältlich bei: Amazon

 

Weitere Infos:


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Erstellt: 22.05.2007, zuletzt aktualisiert: 23.08.2023 08:32, 3912