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Das Wunderland vor der Haustür

Die Spiderwick Geheimnisse: Fantasy für Jung und Alt

 

Redakteur: Christian Endres

 

Es gibt unzählige Bücher mit fantastischem Einschlag, die ihren Anfang in „unserer Welt“ nehmen und dann in einem Wunder- oder Nimmerland enden (bzw. dort zumindest einen längeren Zwischenhalt einlegen, der einen Großteil der Geschichte ausmacht). Lewis Carrolls Alice brauchte allerdings noch Kaninchenlöcher und Spiegel, um in ihr Wunderland zu kommen, und selbst C. S. Lewis’ Schützlinge Polly und Digory benötigten die Hilfe magischer Ringe, um nach Narnia zu gelangen, während Frank L. Baum seine Heldin Dorothy Gale mit dem Wirbelsturm-Express von Kansas nach Oz brachte.

 

Anders die Zwillinge Jared und Simon und ihre ältere Schwester Mallory. In ihrem Fall genügt es bereits, dass sie mit ihrer Mutter in ein altes Haus in Neuengland ziehen und dort ein ebenso altes Buch in einer vergessenen Geheimkammer entdecken: „Arthur Spiderwicks Handbuch für die fantastische Welt um dich herum“. Schnell erkennen die Kids jedoch, dass das darin beschriebene Wunderland mit Feen, Kobolden, Elfen, Greifen und anderen Wesenheiten (und Ungeheuern) kein Produkt der regen Fantasie ihres verschollenen Urgroßonkels war, sondern überall um sie herum existiert - und zwar direkt vor ihrer neuen Haustür!

 

Damit wird auch klar: Die Spiderwick-Geheimnisse sind zeitgenössische Fantasy in Reinform, wobei sie trotz aller Modernität dem Märchen noch ein Stück näher sind als der aktuell so trendigen Urban Fantasy, die ihr von Klappentextern verfälschtes Etikett ja auf alles klebt, was die Contemporary Fantasy hergibt.

 

2003 konzipierten Autorin Holly Black und Illustrator Tony DiTerlizzi die Jugendfantasy-Reihe, um ein jüngeres Publikum zum Lesen zu motivieren und es über die Fantasy seine reale Liebe zu Büchern ergründen zu lassen. Die Resonanz auf die ersten fünf wunderschön aufgemachten, üppig illustrierten Hardcover und das Interesse am Franchise waren groß, die Filmrechte demzufolge schnell verkauft.

 

Mit „Das Lied der Nixe“ verschwamm die Grenze zwischen Realität und Fantasie dann – konsequenterweise – endgültig. Denn ab diesem sechsten Band wird das eben schon erwähnte Franchise, die Marke „Spiderwick“ auch in den Büchern als solche dargestellt, die Reihe also auch in sich, in der Fiktion, zur Belletristik. Da sind zwar immer noch die Grace-Kinder, ihre Abenteuer und das Handbuch, doch wurden sie im Buch nun ebenfalls in literarischer Form veröffentlicht. Plötzlich sind die Zwillinge auf Lesereise in Florida und in ihren eigenen Büchern kleine Berühmtheiten. Selbst Black und DiTerlizzi haben hier ihren Auftritt, während andere Kinder sich Hilfe suchend an sie wenden, da sie ihre eigenen Probleme mit Riesen und Nixen haben. Im Herbst erscheint der zweite Band dieser Staffel, die von den Fans mit gemischten Gefühlen betrachtet wird.

 

Gelinde gesagt. Viele der gerne auch etwas jüngeren Leser reagierten sogar recht ungehalten auf die neuen Hauptcharaktere und verurteilten den sechsen Band rasch. Dennoch: Der Stilbruch zur ersten, angenehm homogenen Pentalogie nimmt der Serie letztlich nichts von ihrem Charme – und erst recht nichts von ihrem Artenreichtum. Den wiederum fängt Tony DiTerlizzi (der sich schon vor 10 Jahren mit seiner Arbeit für die Rollenspiel-Mutter Dungeons&Dragons, das Sammelkartenspiel-Urgestein Magic und als Kinderbuch-Illustrator einen Namen gemacht hat) so oder so in stimmungsvollen Bildern ein, egal ob schwarzweiße Tuschezeichnung oder aufwendiges, farbiges Gemälde.

 

Bei dieser gelungenen visuellen Vorlage war es im Zuge der großen Fantasy-Blockbuster um Hobbits und Harry Potter praktisch nur eine Frage der Zeit, bis die Spiderwick-Geheimnisse auf die Leinwand springen würden. Und nachdem mit dem viel zitierten „Handbuch“ der Traum eines jeden Bibliophilen wahr wurde und auch Hörbücher und dergleichen längst erhältlich sind, liefen „Die Geheimnisse der Spiderwicks“ am 20. März in den deutschen Kinos an, fünf Monate später scheint nun die DVD. Der erste Leinwandausflug der Spiderwicks entpuppte sich als technisch hochwertiger Familienfilm, der den spritzigen Geist der Bücher geschickt einfing und von Kritikern und Zuschauern gut angenommen wurde. Ein Budget von 90 Mio. Dollar verrechnete sich mit einem gemäßigten Startwochenende in den USA (ca. 19 Mio. Dollar), während am Ende weltweit 162,3 Mio. Dollar eingespielt wurden – von der DVD-Ausschlachtung und der Vermarktung des kinderfreundlichen Franchise – Figuren bei McDonalds inklusive – ganz zu schweigen.

 

Ob trotz des kommerziellen Erfolges der ersten Verfilmung letztlich wirklich weitere Konsolen- und TV-Jünger zum Leserattentum bekehrt werden können und sich auch die Originale zu Gemüte führen, bleibt dennoch abzuwarten und wird sich wohl erst über die Monate zeigen – anhand der Reflexion in den Buchläden.

 

Doch vielleicht ist die filmische Vermarktung ja tatsächlich ein Mittel zum Zweck, das sich am Ende selbst legitimiert.

 

Quasi ein 90-minütiger Appetizer für ein Leben im literarisch-fantastischen Wunderland um uns herum.

 

 

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Erstellt: 13.08.2008, zuletzt aktualisiert: 16.10.2023 21:13, 7114