Aufruhr der Engel (Autor: Anatole France)
 
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Aufruhr der Engel von Anatole France

Rezension von Ralf Steinberg

 

Rezension:

Es gibt unter den Literaturnobelpreisträgern eine ganze Reihe Autoren, deren Namen heute fast vergessen sind. Zu ihnen kann man auch Anatole France zählen.

Während er zu Lebzeiten ein berühmter und sehr erfolgreicher Autor war, scheint er heute fast weitgehend aus den Fokus der literarischen Öffentlichkeit gerückt zu sein. Zu Unrecht, wie ich finde.

Meine erste Begegnung mit Aufruhr der Engel liegt etwa 25 Jahre zurück und es ist wenig verwunderlich, dass der Autor in der DDR verlegt wurde und zu den großen Klassikern der Weltliteratur gezählt wurde, wie auch im Nachwort von Christa Bevernis.

Die Tendenz, Literatur danach auszuwählen, ob sie in die ideologische Schiene passt, hat viele Werke und Autoren für die Leser verbraucht oder sie zumindest uninteressant gemacht.

Doch das Erstaunliche ist, dass France weder unmodern noch so einfach in Schubladen zu stecken ist. »Aufruhr der Engel« entstand in einer besonderen Zeit. Es roch nach Krieg, nach technischen Revolutionen. Paris steckte voller Dissidenten, Anarchisten, Künstler. Ideen und Taten schwangen in der Luft und Anatole France mittendrin. Vergleicht man Gegen den Tag von Thomas Pynchon mit »Aufruhr der Engel«, findet sich dieselbe Elektrizität zwischen den Zeilen, dasselbe Aufatmen vor der Entladung.

 

Das Haus d’Esparvieu wird im Jahre 1912 Schauplatz seltsamer Zwischenfälle. In der berühmten Bibliothek geschehen merkwürdige Dinge. Bücher bewegen sich, verschwinden gar und treiben den peniblen Bibliothekar zur Verzweiflung. Die wertvollen theologischen und philosophischen Werke werden zwar bald wiedergefunden, doch ihre nächtliche Verwendung bleibt rätselhaft und kann trotz eingeschalteter Überwachungsexperten nicht aufgeklärt werden.

Da die Bibliothek aus testamentarischen Gründen und weniger aus literarischem Verlangen gepflegt wird, interessiert sich die Familie zunächst nicht für die Sorgen des alten Bibliothekars, bis der leichtlebige Sohn Maurice während eines Schäferstündchens Bekanntschaft mit dem Verursacher macht. Es handelt sich um seinen Schutzengel, der durch die Lektüre zu der Erkenntnis gekommen ist, dass Gott ein Betrüger ist und gestürzt werden müsse. Da ein Rebell schwerlich hauptberuflich Schutzengel sein kann, verlässt er Maurice.

Arcade, so nennt sich der in der Hierarchie ganz unten stehende Engel, sucht in Paris nach anderen Engeln um den Sturz Gottes in Angriff zu nehmen. Dabei begegnet er Bombenbauern, Feingeistern, abgeklärten Engeln, die seit Luzifers Fall auf der Erde wandeln, Angsthasen und jeder Menge Lebensphilosophen, die sich auf der Erde eingerichtet haben.

Maurice hingegen wird durch den Verlust seines Schutzengels zunehmend aus der Bahn geworfen und sucht verzweifelt nach Arcade. Als er ihn findet, beschließt er erschreckt durch dessen lästerliche Ideen, nun im Gegenzug sein Schutzengel zu werden, um das Schlimmste zu verhindern: einen erfolgreichen Putsch der Dämonen und Teufel ...

 

Wer Freude daran hat zu bestimmen, ob »Aufruhr der Engel« Phantastik ist, wird sich mit dem Glauben beschäftigen müssen. Im Wesentlich sind Engel mythologische, also phantastische Wesen, denen nur in der Religion eine tatsächliche Existenz zugesprochen wird.

Da France sie hier recht deutlich als Karikatur der Pariser Boheme verwendet und ihre übernatürlichen Kräfte nur begleitende aber nicht tragende Handlungselemente sind, liegt die eigentliche Verfremdung in der Symbolik. Nicht als schwer entschlüsselbare Zeichen, sondern klar lesbar. Zumindest für ein christlich bewandertes Publikum, wie es Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts noch üblich war.

Besonders deutlich wird der Widerspruch zwischen atheistischem Ulk und christlicher Mythologisierung in der zentral gelegenen Erzählung Nectaires. Über mehrere Kapitel hinweg wird von der ersten großen Schlacht der Engel berichtet, die Luzifer und seine Anhänger verloren. Doch sie gaben selbst in der Hölle nicht auf. Vielmehr wandten sie sich den Menschen zu und lehrten sie göttliches Wissen. France formt aus den gefallenen Engel die griechischen Götter, macht die Antike zum Beweis menschlicher Größe, Schönheit und Schaffenskraft. Logischerweise ist das Mittelalter mit Pest und Inquisition eine Reaktion Gottes auf die mangelnde Achtung durch die Menschen. Gut und Böse wird auf den Kopf gestellt.

Dieses Umdrehen findet man ebenfalls, wenn sich Maurice vom Schutzbefohlen zum menschlichen Schutzengel wandelt und wird im Finale noch gesteigert, als Luzifer in einer Vision erkennt, dass er nach einem Sieg zu Gott und Gott zum Teufel wird.

Es sind nicht einfach Kreisläufe, sondern für France notwendigerweise ablaufende Entwicklungen. Der den Tyrannen Stürzende wird selbst zum Tyrann.

Luzifer sagt daraufhin die Revolte ab. Lieber weiter auf Erden wandeln und den Menschen Lehrer sein.

In diesem Versagen eines dramatischen Finales liegt ein ganz eigener Witz. Die Probleme der niederen Engel etwa, die Arcade erst zum Grübeln und Rebellieren brachten, bleiben weiterhin ungelöst. Nach all die revolutionären Ideen, Diskussionen und Versammlungen ändert sich gar nichts.

Zwar gibt es eine explodierende Bombe und einige Tote, doch das Wesen der Dritten Republik ist zäh genug, um das bisschen Aufregung zu verdauen. France schildert mit offensichtlichem Vergnügen, wie die Ermittlungen zwar zum Ziel, jedoch nicht zur Verurteilung der Schuldigen führen.

Diese in feinem Humor verpackten, kritischen Blicke auf das Leben in der Dritten Republik sind wohl einer der Gründe für den damaligen Erfolg des Buches. Eine ganze Reihe von Nebenfiguren kann sich zwischen der großen Politik frei entfalten, was bei France mehr oder weniger bedeutet, dass sie alle ihre eigenen kleinen Tragödien leben.

Neben dem geschundenen Bibliothekar lernen wir die naive, aber auf ihre gesellschaftliche Würde bedachte Madame des Aubels kennen, leicht zu verführen aber schwer zu ertragen. Bouchotte, die biestige Schauspielerin, den alten Antiquar der seine ihn abgöttisch liebende Frau für eine Jüngere verlässt, die wiederum einem reicheren folgt – das Figurenkarussel ist nicht nur bunt, sondern in erstaunlich deutlicher Weise der Beweis für die Fehler und Schwächen der Menschen. France schafft so einen deutlichen Kontrast zu den abgehobenen Problemen der Engel, die zwischen Frohlocken und Jubilieren Jahrtausende mit philosophischen Fragen verbringen. Dass sich diese beiden so konträren Welten berühren, ist erstaunlich, aber wenn man darüber nachdenkt, was die Menschen nun von der himmlischen Nachbarschaft haben, bleibt wenig übrig.

Der Aufruhr der Engel ist letztlich auch nur eine Empörung über die Zustände ohne eine Alternative in der Hinterhand zu haben. Das Ziel ist eine schnelle Zerstörung, vielleicht auch die Anarchie als Folge der Zerschlagung der bestehenden Ordnung. Aber auf dem Pflaster bleiben gänzlich Unbeteiligte tot zurück.

 

Das Nachwort von Christa Bevernis ist auch heute noch sehr lesenswert, da es fast völlig auf eine ideologische Verbrämung verzichtet und sich dem Leben Frances und dem Roman aus literaturwissenschaftlicher Sicht zuwendet.

 

Fazit:

Mit »Der Aufruhr der Engel« schuf Anatole France eine feinsinnige Karikatur auf die Pariser Bohème und ihre mehr empathisch gelebte Anarchie, die vielleicht auch einfach nur eine Mode darstellte. Zugleich bietet France eine luftigleichte Reise durch den Zeitgeist der Dritten Republik, mit Charme, Witz und einer Prise Erotik.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240328103340a65250db
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Buch:

Aufruhr der Engel

Original: La révolte des anges, 1914

Autor: Anatole France

Übersetzerin: Heidi Kirmße

Nachwort: Christa Bevernis

Aufbau, 1986

gebunden, 279 Seiten

 

ASIN: B002KK06DY

 

Erhältlich bei: Amazon

 


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Erstellt: 10.08.2012, zuletzt aktualisiert: 23.08.2023 08:32, 12662