Rezension von Torsten Scheib
Rezension:
Irgendwo in den tiefen Wäldern Virginias: Eine Kreatur durchstreift die Einsamkeit. Ein Wesen, welches man nur mit sehr viel Fantasie als menschlich bezeichnen würde. Primitiv, abstoßend, bestialisch. Es tötet. Vergewaltigt. Nährt sich an seinen Opfern. Der Bighead!
Unterdessen finden in Washington zwei sehr ungleiche Frauen zusammen. Während die eine, Charity Walsh, ein eher schüchternes Wesen inklusive trauriger Beziehungschroniken ist, stellt die Journalistin Jerrica Perry das absolute Gegenteil dar: sexuell mehr als aufgeschlossen, draufgängerisch – und mit einem Faible für illegale Substanzen, denen sie jedoch abgeschworen zu haben glaubt. Das gemeinsame Ziel: Luntville, eine Kleinstadt irgendwo in der tiefsten Provinz. Hier betreibt Charitys Tante Annie ein kleines Gästehaus. Was für ihre Nichte eine Rückkehr in die eigene Vergangenheit bedeutet, stellt für Jerrica einen weiteren Auftrag dar, soll sie doch für ihren Brötchengeber, der Washington Post, einen ausführlichen Artikel über die Region verfassen.
Gleichzeitig hinterlassen die beiden Gelegenheits-Alkoholschmuggler Dicky Caudill und besonders sein Kumpel, Tritt »Balls« Conner eine Spur des Todes auf ihren mörderischen Touren. Wobei sich besonders Conner als ein Könner der abartigen und/oder qualvollen Todesarten erweist. Unbesiegbar fühlen sich die beiden, doch – wie lange noch?
Ein gänzlich anderes Szenario erwartet Charity und Jerrica bei ihrer Ankunft in Luntville. Der Empfang von Tante Annie ist herzlich, das Essen vorzüglich, die Pension herrlich. Hier machen die beiden jungen Damen auch die Bekanntschaft von Vater Alexander, einem sicherlich recht unkonventionell agierenden Geistlichen, der – ähnlich wie Jerrica – sein Päckchen zu tragen hat. Unauslöschlich hat sich seine grausame Dienstzeit in Vietnam in seine Seele eingeprägt, ihn aber auch zum Glauben gebracht. Wenngleich die für ihn zuständige Diözese alles andere als begeistert von seinen Methoden und vor allem dessen Direktheit ist. Die Folge ist eine Art »Verbannung« nach Luntville, wo er ein ehemaliges Priesterhospiz neu eröffnen soll. Doch wie Jerrica und Charity, nähert auch Alexander schrittweise jenen düsteren, unaussprechlichen Geheimnissen, welche das Hospitz, Luntville und letztlich sogar Charitys Tante umgibt – und das mit einer lokalen Gruselmär in enger Verbindung zu stehen scheint.
Unterdessen haben drei Gestalten den Weg gen Luntville eingeschlagen: zwei davon sind menschlich, die dritte nicht …
Vom Verlag als das »verstörendste Buch« gepriesen und mit einer mehr als berechtigten Warnung versehen, macht Edward Lees »Bighead« praktisch ab der ersten Seite keine Gefangenen. Die Flut der Garstigkeiten (sexuell wie gewalttätig) ist ebenso brachial wie die Woge spritzender Körpersäfte. Insofern ist es auch kein Verbrechen, wenn selbst der abgebrühteste Leser mal innehält, tief durchatmet – oder eventuell einen Eimer neben den Sessel platziert. Selbst ein Marquise de Sade würde wohl rot werden ob der perversen Anhäufungen in diesem Buch. Jedoch ist Bighead nicht bloß eine sinnlose Abfolge hässlicher, unmenschlicher Akte. Mister Lee kann nämlich schreiben und zudem verdammt gute Geschichten erzählen. Mehr noch: Wer genauer hinsieht, erkennt in »Bighead« sogar mehr als bloßen Splatter-Horror. So können die extrem promiskuitive Jerrica Perry und Vater Alexander durchaus als zwei Seiten einer Medaille angesehen werden. Beide sind, auf ihre Art, Süchtige – nach Drogen und Sex beziehungsweise dem Glauben und der damit verbundenen Enthaltsamkeit. Folgerichtig lässt Lee diese zwei Welten aufeinander zu rasen; zunächst verhalten, dann immer schneller. Besonders dieser Konflikt zwischen Heilig und Sünde, Gut und Böse ist großartig gelungen und reflektiert letztlich auch den immer aktuellen Disput zwischen kirchlichen Doktrinen und der Moderne. Ist Alexander wirklich der bessere Mensch, weil er sich vollständig dem Glauben verpflichtet hat? Ist Jerrica wirklich eine Sünderin, weil ihre Fehler sie menschlich machen; weil sie eine, im wahrsten Sinne des Wortes, »Lust am Leben« verspürt?
Eine ähnliche Dualität findet sich auch in »Bighead« und dem Duo Caudill/Conner wieder. Wer ist letztlich das größere Monster; steht für die schlimmeren Gräueltaten? Es ist gewiss kein Zufall, dass Lee diesen drei Antagonisten einen plumpen, provinzialischen Dialekt verpasst hat (der übrigens großartig von Übersetzer Manfred Sanders ins Deutsche übertragen wurde), da der Unterschied eigentlich nur sehr marginal ist, letzten Endes jedoch jeder für sich entscheiden muss. Die narrative Kraft, flüssig und stets präzise, welche durch diese Kontroversen entstehen, lassen »Bighead« definitiv weit über einem Großteil ähnlich gearteter Werke stehen. Ebenso das Grande Finale, welches einerseits sehr clever die unterschiedlichsten Handlungsstränge und Andeutungen zusammenfügt, zugleich aber zum Wildesten gehört, was in letzter Zeit auf Papier gedruckt wurde.
Fazit:
»Bighead« hält, was die Warnung verspricht. Dieses Buch ist verstörend, es ist brutal, es erklimmt bislang unvermutete Höhen des Obszönen – aber auch temporeich, spannend und ungemein clever. Eine Reise in die Hölle, ohne Rückfahrtschein. Trotzdem: mehr davon!
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