Blumen für Algernon von Daniel Keyes
Rezension von Ralf Steinberg
Verlagsinfo:
Charlie Gordon, ursprünglich kaum des Lesens mächtig, ist zu Forschungszwecken operiert worden und entwickelt eine überragende Intelligenz; schließlich überflügelt er intellektuell und fachlich sogar die Professoren, die das Experiment leiten. Zu seinen Freunden zählt die Maus Algernon - das erste Lebewesen, das mit derselben Methode erfolgreich behandelt wurde.
Rezension:
Klassische Science Fiction, die über Generationen SF-Begeisterter zu überschwänglichen Lobeshymnen veranlasst, ist rar gesät. Blumen für Algernon von Daniel Keyes gehört zu diesen seltenen Kostbarkeiten.
Die Geschichte von Charlie, der sich durch eine Gehirnoperation von einem Mann mitgeringer Intelligenz zu einem Genie entwickelt, berührt vor allem durch die Perspektive. Wir verfolgen von Anfang die Entwicklung Charlies durch seine selbstverfassten Fortschrittsberichte. Die zunächst wegen der schlechten Orthografie kaum lesbaren, tagebuchartigen Notizen, offenbaren nach und nach nicht nur die Veränderungen seiner Ausdrucksmöglichkeiten, sie erzählen auch von Charlies Leben.
Die steigende Intelligenz geht einher mit dem Erinnern. Charlie findet in seinen Träumen Erinnerungen an Ereignisse, die er erst jetzt in ihrer Bedeutung versteht.
Diskriminierungen und Misshandlungen, aber auch die Probleme seiner Umwelt mit ihm, werden ihm langsam klar. Schmerzhafte Selbsterkenntnisse begleiten so seine innere Suche nach sich selbst und es sind sehr ergreifende Stellen, wenn er die wahren Motive seiner Mitmenschen erkennt.
Als Leser fühlt man mit diesem sensibel dargestellten Erkennen und Entdecken mit.
Doch Daniel Keyes wollte nicht nur dieses Erwachen der Persönlichkeit schildern oder die Lebenswirklichkeit eines geistig im frühen Kindesalter stehen geblieben Mannes in den USA untersuchen.
Er stellt sich im Mittelteil auch den ethischen Fragen, die sich aus dieser plötzlichen Klugwerdung ergeben. Charlie bricht aus der Rolle des Versuchsobjektes aus. Will aktiv mitforschen. Seine immer höher aufstrebende Intelligenz entfremdet ihn von den durchschnittlich schlauen Menschen genauso, wie es vorher der Mangel daran tat.
Das bringt nicht Probleme mit den Mitarbeitern seiner Forschungseinrichtung mit sich, auch die neu entdeckten emotionalen Bindungen oder Liebe und Sex leiden unter seiner rasend schnellen Weiterentwicklung. Was heute oft genug als soziale Folgen einer Hochbegabung geschildert wird, beruht meist auf Keyes Darstellung von Charlie.
Im Umgang mit seiner Lehrerin, deren Zuneigung sich zu Liebe auswächst, hindern ihn aber die Grenzen, die ihm seine Mutter einpflanzte. Darin treffen sich Angst vor unschicklichen Dingen und die Unfähigkeit, mit einem Kind umzugehen, dass sich niemals so entwickeln wird wie die Nachbarskinder.
Aus der anfänglichen Verzweiflung, die sich in manischer Verweigerung der Realität äußert, wird Hass, als sie eine Tochter zur Welt bringt, die sich geistig normal entwickelt.
Als Charlie sie und seine Schwester besucht, wird das ganze Ausmaß der Familientragödie ersichtlich.
Die zunehmende Düsternis der Handlung generiert sich aus diesen Konflikten. Von Anfang an steht die Möglichkeit im Raum, dass die geistige Verbesserung nicht von Dauer sein wird. Als Charlie das erkennt und den hoffnungslosen Kampf dagegen aufnimmt, wandelt sich der Roman.
Das Experiment zwingt zum Nachdenken über die eigene Humanität. Der kluge Charlie fragt sich, ob er das Recht hat, den dummen Charlie zu verdrängen, den er noch irgendwo, tief im Innersten, zu warten wähnt. Diese fast schizophrene Teilung erscheint heute nicht ganz schlüssig, gibt Keyes aber die Gelegenheit, den schnellen Verfall wieder auf die Persönlichkeit des Anfangs zurückzuführen. Dieser Rückzug des Erwachsenen Ichs für den kindlichen Charlie mutet fast freiwillig an. Dies wird besonders deutlich im Besuch des Warren-Heimes, das sich Charlie mit dem Wissen anschaut, dass es ihn dorthin führen wird.
Keyes Beschreibungen der Patienten und Angestellten dort zeigen großes Mitgefühl und den Wunsch nach Emanzipation der Menschen, die nicht selbst dafür einstehen können. Dieser Verantwortung ist der gesamte Text gewidmet und wird ihr mehr als gerecht und am Ende möchte man selbst Charlies Wunsch erfüllen, Blumen an Algernons Grab niederzulegen. Jener Maus, die Charlies Schicksal teilte.
Fazit:
Es mag Stellen geben, die deutlich ihre Entstehungszeit erkennen lassen, aber in all seiner Sanftheit und Kraft in der Darstellung von Charlies geistigen Veränderungen hat Daniel Keyes ohne Zweifel ein grundlegendes Werk der Weltliteratur geschaffen.
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