Bund der Raben (Autor: Mirko Thiessen; Genre: Fantasy)
 
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Leseprobe: Bund der Raben

Autor: Mirko Thiessen

Homepage: www.mirko-thiessen.de

 

Disclaimer:

Freigabe zur Weiterveröffentlichung der Leseprobe besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.

 

Mirko Thiessen stellt uns freundlicherweise ein Prolog seines kommenden Romanes "Bund der Raben" zur Verfügung.

 

Leseprobe:

Hilflos trieb das Schiff zwischen den Wellen der wütenden See. Zu allen Seiten türmten sich die Wogen auf wie Berge und rissen und zerrten mit solcher Gewalt an dem Segler, daß es einem Wunder gleichkam, daß er noch standhielt. Die Seeleute klammerten sich an der Reling fest und fragten sich angstvoll, was sie getan haben mochten, um die Götter derart zu erzürnen. Ihre stillen Gebete wurden ihnen vom räuberischen Sturm von den Lippen gerissen und als sinnentleerte Wortfetzen auf das Meer hinausgeworfen.

Kapitän Barangum, der schon manche Unbilden erlebt hatte, klammerte sich am Mast fest und legte den Kopf in den Nacken, um die Kämme der Wellen zu erblicken. Seine Männer mochten beten, doch er fluchte. Nicht unbedacht und nebenher, wie bei allen Völkern der Welt geflucht wurde. Nein, Barangums Lippen formten bedachte Flüche, dazu erdacht, den Zorn der Götter auf die Schuldigen an ihrer Lage zu lenken. Jene Nordländer, die sie aufs Meer getrieben hatten, obwohl offensichtlich war, daß ein Sturm nahte, der den Nordhimmel schwarz wie ein Tintenfaß färbte. Mochten sie alle ihre verdiente Strafe bekommen!

Ein neuer Wellenberg hatte sich aufgebaut und ragte vor dem Schiff auf. Barangum ahnte auf einmal, wie sich ein Käfer fühlen mochte, vor dem sich plötzlich ein ausgewachsener Mann auftürmte, entschlossen, das gepanzerte Insekt zu zertreten. Diese Welle schien ebenso entschlossen zu sein, ein gnädiges Ende mit dem Schiff zu machen, das der Stolz der kongunischen Handelsflotte gewesen war, in diesem Orkan jedoch nicht mehr Schutz bot als ein eilig zusammengeflicktes Floß.

Es gelang Barangum noch, die Luft anzuhalten und mit Armen und Beinen den Mast zu umklammern. Dann brach das Inferno los. Die Wassermassen stürzten auf sie nieder. Manche wurden von der Gewalt von tausend und aber tausend Tonnen Wasser auf das Deck gedrückt, daß ihnen alle Knochen im Leib brachen. Die meisten jedoch wurden ergriffen und von triumphierenden Strudeln in die Tiefe des Meeres gerissen, von wo es keinen Weg nach oben mehr gab. Barangum hielt sich mit aller Kraft fest. Der Ozean zerrte an ihm wie ein hungriger Bär, der noch das Bein eines armseligen Menschen erwischt hatte, als der sich gerade auf einen Baum retten wollte. Doch Barangum ließ nicht zu, daß man ihn von seinem Schiff trennte. Er wußte nicht, ob sich der Segler noch an der Oberfläche befand oder aber dem Grund des Meeres entgegengepreßt wurde. Er war schon von letzterem überzeugt, als das Meer ihn freigab. Hustend und spuckend fand er sich auf dem Deck liegend, den abgebrochenen Mast umklammernd, der nur deshalb noch am Schiff hielt, weil er sich in der Reling verhakt hatte - ein reichlich unsicherer Halt fürwahr. Die anderen Masten waren fort, abgeknickt wie Grashalme und weggespült. Hastig blickte Barangum sich um.

Was er sah, überzeugte ihn, daß sein sicherer Tod nur einen kurzen Aufschub bekommen hatte. Das Heck des Schiffs war unter Wasser gedrückt, und nur der Bug ragte in abenteuerlicher Schräglage aus den Fluten hervor. Eine kleine Welle mochte ausreichen, das Werk der vorherigen zu vollenden. Neben Barangum lag ein junger Seemann auf dem Deck, wie durch ein Wunder nicht fortgerissen. Der Kapitän erinnerte sich an seinen Namen.

„Bumbariam!“ brüllte er. „Schnell, klammere dich an dem Mast fest!“

Quälend langsam kam der Junge auf die Knie, doch ein leichter Ruck, der durch das treibende Wrack ging, reichte aus, ihn hinzustrecken. Er würde es aus eigener Kraft kaum schaffen, die zweieinhalb Schritte zurückzulegen. Von seiner Position aus erblickte Barangum noch zwei weitere Seemänner, die an der Reling hingen. Einer von ihnen hatte sich geistesgegenwärtig festgehalten, als die todbringende Räuberwelle gekommen war. Er war eben dabei, auf den Mast zuzukriechen, der ihm einen sichereren Halt als die Reling zu bieten schien. Der andere Seemann schien dagegen unfreiwillig gegen die Reling geschmettert worden zu sein. Seine Gliedmaßen waren brutal verdreht, und wenn er noch nicht tot war, so würde er es mit Sicherheit bald sein.

Grimmig beobachtete der Kapitän, wie sich eine neue Riesenwelle auftürmte. So schwerfällig und langsam wälzte sie sich vorwärts, als wollte sie jene verspotten, die auf dem Wrack ihrem Tod ins Auge blickten. Barangums Blick wechselte zwischen der Welle und dem jungen Bumbariam, der sich schwach auf dem Deck krümmte. Mit einem leisen Fluch verließ Barangum seinen Halt und stolperte auf den hilflosen Seemann zu. Rasch zog er ihn in die Höhe. Er spürte, wie sich das Schiff langsam anhob, und beinahe wären sie beide hintenüber gekippt. Doch der Kapitän verlagerte ihr Gewicht und tat die letzten Schritte auf den Mast zu. Gleichzeitig mit dem jungen Bumbariam fiel er auf die Knie.

„Schnell, mein Junge!“ brüllte er. „Halt dich fest!“

Eine Stimme in seinem Kopf verhöhnte ihn, daß er sich so für diesen einen abmühte, da vierzig seiner Leute schon tot waren. Auch für diesen bestand keinerlei Möglichkeit, die Katastrophe zu überleben, genauso wenig wie für ihn selbst. Barangum vertrieb die lästige Stimme und klammerte sich an den Mast, ebenso wie der Junge, der das Holz so innig umarmte wie ein Säugling seine Mutter. Dann brachen die Wassermassen über sie hinein.

Auch diesmal gab das Meer Barangum frei. Seine Hände hatten nicht von dem Mast gelassen, ebenso wenig wie die des jungen Bumbariam. Doch von dem Schiff war nichts mehr zu sehen. Der Boden unter ihren Füßen war ihnen entrissen worden, und bei dieser Erkenntnis schrie Barangum einen Schrei des Entsetzens aus, der von der nächsten über ihn hereinbrechenden Welle jäh erstickt wurde.

 

Die Fetzen grauer Sturmwolken verschwanden am südlichen Horizont und machten abermals dem Blau des Himmels Platz. Die wärmenden Strahlen der Sonne fanden endlich ihren schwierigen Weg durch das Wolkenlabyrinth und erklärten den Alptraum für beendet, den der Orkan über das Zwischenmeer gebracht hatte, jenen Ozean, der das Nordland und das Südland trennte. Unter der aufreißenden Wolkendecke bot sich an einem Strand der nördlichen Landmasse ein merkwürdiges Bild. Die erschrockenen Bewohner des Strandes hatten ihre Scheu abgelegt und trauten sich wieder in das freundlicher gewordene Draußen. Eingegrabene Krabben ließen vorsichtig ihre Scheren herausschauen und hielten sie wie feuchte Finger in den Wind. Mit starren Stielaugen verließen sie seitwärts kriechend ihre Löcher und vergewisserten sich, daß die Ordnung der Dinge wiederhergestellt war. Sie war. Doch wie nach jedem Sturm waren viele Dinge von fern an den Strand gespült worden. Holzfragmente unglückseliger Schiffe waren dabei wie die übel zugerichteten Kadaver von unvorsichtigen Seevögeln und Fischen. Doch diesmal war es mehr als das. Ein hölzerner Mast von nicht weniger als sieben Schritt Länge, an einem Ende geborsten, mit kümmerlichen Resten Segeltuchs behangen, war weit auf den Strand geschleudert worden, bis dicht vor die mit stachligem Gras bewachsenen Dünen, auf denen die unauffälligen Regenpfeifer hockten und mit ihren gelbgerandeten Augen zum heller werdenden Himmel aufblickten. Dahinter lagen vier Gestalten, zweifelsfrei Menschen, doch ihre dunkle Haut, die im Sonnenlicht schwarz glänzte, verriet, daß sie nicht aus dem Nordland stammten, sondern aus dem südlichen Kontinent, den die Nordländer - zum Teil zu Unrecht - für barbarisches Land hielten.

Als Bumbariam erwachte, hatte er keine Muße, Gefühle wie Erleichterung oder Dankbarkeit zu zeigen. Er fühlte sich elend wie nie zuvor in seinem Leben. Selbst in jenen zurückliegenden Stunden, als der Sturm begonnen hatte und den sechzehnjährigen Jungen auf seiner ersten Überfahrt mit der Seekrankheit bekannt machte, hatte er sich nicht so dicht am Tode gefühlt. Er versuchte, die salzwasserverklebten Augen zu öffnen. Als es ihm schließlich gelang, konnte er kaum etwas sehen. Die Geräusche der Wellen, die sich nun sanftmütig und verhalten anhörten und nicht mehr brüllend und zornig, drangen an seine Ohren wie durch einen verstopften Trichter. Eine Ewigkeit lag Bumbariam reglos da, zu schwach, auch nur den Kopf zu heben. Sterben schien ihm eine allemal angenehmere Lösung als aufzustehen. Letztlich war es die Neugier, was mit seinen Kameraden geschehen war, die ihn hochtrieb.

Noch bevor er völlig aufrecht saß, spürte er, wie sein Magen rebellierte. Er beugte sich vornüber und spie salziges Wasser und grünliche Galle. Ein Teil seines Verstandes wunderte sich, daß noch etwas übrig war, was man erbrechen konnte. Der größte Teil aber war noch nicht erwacht und bemühte sich nun nach Kräften, die Fragmente von Erinnerungen wieder in eine vernünftige Ordnung zu bringen. Während er stumpfsinnig im Sand hockte, einen gelblichen Speichelfaden von seinem Kinn bis auf den Boden hängend, kehrte langsam sein Augenlicht zurück, als zöge jemand einen milchigen Schleier beiseite. Bumbariam erkannte zwei Gestalten, die zwischen ihm und dem Strand lagen. Wahrscheinlich waren sie tot, denn sie rührten sich nicht. Als er sich umwandte, erblickte er einen weiteren Mann, der auf dem Rücken lag, als döste er in der Sonne.

Ich muß nachsehen, ob sie noch leben, dachte ein verirrter Teil seines Verstandes. Bumbariam brachte es nicht über sich aufzustehen. Er wußte, daß er es nicht schaffen konnte, ohne gleich wieder schwächlich zusammenzubrechen. Daher kroch er auf allen Vieren auf die Dünen zu, wo der rettende Mast hingeschleudert worden war. Der Seemann, der auf dem Rücken lag, war tot. Ein kurzer Blick genügte, um das festzustellen. Etwas hatte ihn hart am Kopf getroffen, womöglich gar der Mast. Schon begannen sich Fliegen auf der klaffenden Schädelwunde niederzulassen. Angewidert wandte Bumbariam sich ab.

Er hatte wenig Hoffnung, die anderen beiden lebend zu finden. Sie lagen nur fünfzehn Schritte entfernt, doch für den Jungen konnten sie ebenso vor dem Horizont liegen, so unerreichbar schienen sie ihm in seinem Zustand. Mit verbissener Willensanstrengung machte er sich auf den Weg - und klappte sogleich zusammen, um von neuem in Ohnmacht zu fallen.

 

 

Als Bumbariam das nächste Mal erwachte, fand er sich nicht mehr allein. Jemand stand über ihm und benetzte seine vertrockneten Lippen mit Wasser. Bumbariam war noch immer erschöpft, aber die qualvolle Übelkeit war von ihm abgefallen. Nunmehr fühlte er sich auf eine eigenartige Weise entspannt. Erleichtert schlug er die Augen auf und gewahrte Barangum, den Kapitän. Der Junge erinnerte sich, daß dieser Mann ihm das Leben gerettet hatte. Er wußte, daß er sich bedanken sollte, hatte dazu aber noch keine Kraft.

„Ganz ruhig, Junge!“ sagte Barangum. „Du lebst, und jetzt wird alles wieder gut!“

Nach diesen tröstenden Worten schloß Bumbariam die Augen. Er hatte überlebt. Wider jede Wahrscheinlichkeit hatte er, der das erste Mal eine Überfahrt mitgemacht hatte, einen Orkan überstanden, dessen Macht selbst die abgebrühtesten Seeleute schockiert und schließlich getötet hatte. In diesem Augenblick faßte Bumbariam einen Beschluß. Keine Macht der Welt wird mich je dazu bewegen, wieder ein Boot zu betreten. Die Götter sollen mich bestrafen, wenn ich je wieder die Dummheit besitze, meine Füße auf die Planken eines Schiffs zu setzen.

Diesen Schwur leistete Bumbariam nicht wissend, daß er an den Gestaden des Nordlandes lag, und daß nur eine Schiffsreise eine Rückkehr in seine Heimat ermöglichen konnte. Dennoch sollten die Umstände dazu führen, daß Bumbariam seinen Entschluß niemals brach. Fähren, die schmale Flüsse querten, nahm er später aus seinem Schwur heraus. Aber jene Schiffe, die das Meer befuhren, betrat er im Leben nicht wieder.

Mühsam und mit Barangums hilfreicher Hand im Nacken richtete sich der junge Seemann auf. Zu seiner Verwunderung fand er sich im Gras sitzend. Das Meer war noch in Hörweite, und auch sein salziger Geruch drang über die Dünen, doch auf irgendeine Weise war er vom Strand fortgeschafft worden.

„Wo bin ich?“ murmelte Bumbariam. Er sah zum Himmel auf, wo die Sonne am Westhorizont in einem feurigen Orange zwischen gleißenden Wolkenbändern leuchtete. Der Abend war nicht fern, doch da Bumbariam beim besten Willen nicht sagen konnte, zu welcher Tageszeit er beim letzten Mal aufgewacht war, hatte er keine Idee, wie lange er geschlafen haben mochte.

„Ich habe dich mit Mgamos Hilfe hier herauf geschafft. Dort hinten ist ein Tümpel. Sein Wasser ist schmutzig, aber ich denke, man kann es dennoch trinken. Hier!“

Der Kapitän reichte ihm eine handtellergroße Muschelschale, die mit bräunlichem Wasser gefüllt war. Dankbar setzte Bumbariam sie an die Lippen und trank. Seine Kehle schmerzte beim Schlucken, aber dennoch stellte sich Erleichterung ein.

„Dann hat Mgamo überlebt?“

Barangum nickte. „Aber es geht ihm schlecht. Er schläft jetzt wieder.“

„Und wo mögen wir sein?“

Der Kapitän zuckte die Achseln. „An irgendeiner Küste des Nordens. Ich denke, wir sind nicht allzu weit von Miramia entfernt, aber genau weiß ich es nicht.“

Selbstverständlich konnte Barangum das nicht wissen. Die Geographie des Nordlands war den Menschen des Südens zumeist unbekannt. Als noch der alte Hochkönig in Zadar regiert hatte, waren gelegentlich Abordnungen aus den Reichen des Südlands an seinen Hof gekommen, um Handelsverträge zu unterzeichnen. Die jetzige Königin Havira hatte kein Interesse an einem Kontakt zu den schwarzhäutigen Völkern des Südens. Dennoch fuhren noch immer Handelsschiffe der Südländer über das Meer, um ihre Waren feilzubieten - in vielen Städten mit Erfolg.

Sie hatten im Hafen von Numila gelegen und kaum ihre Waren entladen, als sie zur Abfahrt aufgefordert worden waren. Die Seeleute waren verärgert gewesen, denn für gewöhnlich genossen sie eine Nacht in den Kneipen und Freudenhäusern des Hafenviertels. Vor allem aber waren da diese untrüglichen Zeichen des nahenden Sturms gekommen. Kapitän Barangum hatte den Hafenmeister nach dem Grund gefragt, weshalb man sie aus der Stadt jagte. „Die Hochkönigin hat all ihren Untertanen den Handel mit den Reichen des Südens untersagt“, hatte der Mann erläutert. Eine Spur des Bedauerns suchte man in seiner Stimme vergeblich. „Als treue Vasallen handeln wir ihren Wünschen gemäß.“

Alles Bitten war umsonst gewesen. Sie hatten ablegen müssen, und die Nordländer hatten sie in den Tod getrieben. Nur drei von ihnen hatten überlebt. Und wie es schien, waren sie der Gunst jener ausgeliefert, die sie in diese Lage gebracht hatten.

„Wir sollten nach einem Dorf oder ähnlichem Ausschau halten“, meinte Barangum jetzt. „Wir müssen vorsichtig sein, denn weitab der Hafenstädte haben die Leute womöglich noch nie einen Südländer zu Gesicht bekommen. Unser Anblick könnte sie erschrecken.“

 

Der nächste Morgen war angebrochen, und diesmal wurde Bumbariam mit unsanftem Rütteln geweckt. Er setzte sich auf und schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit zu vertreiben. Dann erst gewahrte er, daß sowohl Barangum als auch Mgamo aufrecht standen und voller Aufgeregtheit in eine Richtung schauten.

„Was ist?“ fragte Bumbariam.

„Eine Reisegesellschaft zu Pferde!“ erläuterte der Kapitän. „Dort naht sie, sechs Leute scheinen es zu sein.“

Der junge Seemann erhob sich und spähte in die angegebene Richtung. Aus nördlicher Richtung trabten sechs Pferde heran, und sie hielten direkt auf sie zu. Sich jetzt noch zu verstecken war offensichtlich zwecklos. Die fremden Reiter lenkten ihre Rosse zwischen den brackigen Seen entlang und wurden mit der Zeit deutlicher sichtbar.

„Seht nur, ihre Kleidung“, rief Barangum aus. „Sie sehen mir aus wie Haronen!“

Der Name zog an einer verschütteten Erinnerung bei Bumbariam, doch sie wollte nicht kommen. Doch Mgamo setzte eine bestürzte Miene auf. Bumbariam wünschte sich plötzlich, mehr über die Völker des Nordens in Erfahrung gebracht zu haben.

„Laßt nur mich reden!“ forderte Barangum sie auf. „Ich werde versuchen, mit ihnen zu verhandeln.“

„Nein, Herr!“ flehte Mgamo. „Wenn es Haronen sind, dann laßt uns fliehen!“

„Fliehen? Wir sind geschwächt, und sie haben Pferde! Wie stellst du dir das vor? Nein, laß mich nur machen! Vielleicht gibt es einen unter ihnen, mit dem man vernünftig reden kann.“

Die sechs Pferde waren nun heran. Es waren ungewöhnlich große Tiere, muskulös und behaart wie die Kaltblüter, die den Holzhauern in den Wäldern halfen. Die Sehnen spannten sich kraftvoll unter der Haut, und jede Bewegung der stolzen Tiere flößte Respekt ein. Die Reiter hatten eine sehr helle Haut, die fast bleich zu nennen war. Ihr Haar war blond und ging bei zweien in einen rötlichen Ton über. Zwei von ihnen, die rangmäßig über den anderen zu stehen schienen, trugen silberne und frisch polierte Rüstungen, während die anderen in abgetragene Lederkleidung gewandet waren. Beunruhigt blickten die Südländer auf die Waffen: Kurzschwerter in den Scheiden von fünfen, ein armlanges Breitschwert am Gurt des offensichtlichen Anführers, der jetzt vorritt. Vorsichtshalber beugte Barangum ein Knie und bedeutete seinen Schützlingen, es ihm gleichzutun.

„Nun?“ fragte der Harone. „Was hat der Sturm denn da für seltsame Fracht an unsere Küsten gespült?“

Bumbariam konnte nicht einordnen, ob die Bemerkung freundlich oder kühl gemeint sein sollte. Er versuchte, im Gesicht des Mannes zu lesen. Der Harone verzog keine Miene und schien sie so herablassend zu begutachten, daß Bumbariams Herz sank. Vorsichtig erhaschte er einen Blick auf die übrigen Fremden. Erleichtert sah er, daß der andere gepanzerte Harone ein freundliches Lächeln zeigte. Er begegnete Bumbariams Blick und strahlte ihn so warmherzig an, daß vielleicht doch Anlaß zur Hoffnung bestand.

„Wie Ihr schon richtig erkannt habt, Herr, hat ein Sturm unser Schiff kentern lassen. Wir drei sind die einzigen Überlebenden.“

Der Harone musterte sie ungerührt. „Schwarzer Mann, du hast sicher gehört, daß es einen Erlaß gibt, nach dem die Männer der südlichen Völker an unseren Küsten nicht erwünscht sind. Glaubst du, für dich gäbe es eine Ausnahmeregelung?“

Barangum schluckte. Bumbariam blickte ihn an und anschließend Mgamo, der verzweifelt die Augen geschlossen hatte. Aber der Kapitän hatte nicht aufgegeben. „Herr, der Sturm hat uns leider keine Wahl gelassen. Wir waren auf dem Rückweg in unsere Heimat, nie wollten wir jenen Erlaß brechen. Es war gewiß nicht unsere Absicht!“ Plötzlich erhob er sich und zwang sich, ein Lächeln aufzusetzen. „Mein Name ist Barangum! Sicher kommen wir zu einer Einigung, Herr!“

Mit einem Seufzer drehte sich der Harone nach einem der in Leder Gekleideten um und gab ihm mit einem leichten Kopfnicken ein Zeichen. Der so Angesprochene ritt vor und verpaßte Barangum einen harten Fußtritt ins Gesicht. Augenblicklich sackte der Kapitän in den Sand.

„Du stehst vor Havar“, brüllte der Mann, „ dem größten Feldherr des Haronenlands, und vor seinem edlen Bruder Huron! Wage es nicht noch einmal, dich zu erheben!“

Während Bumbariam sprachlos war, hatte Mgamo zu schluchzen begonnen. Der Kapitän lag am Boden und hielt sich das Gesicht. Zwischen seinen Fingern rann Blut hervor. Der Harone, der ihnen als Havar vorgestellt worden war, behielt derweil seine kühle und teilnahmslose Miene bei.

„Gibst du zu, dem Erlaß der Kaiserin Havira zuwider gehandelt zu haben?“ fragte Havar.

Wahnsinn, dachte Bumbariam. Wahnsinn! Jedem Dummkopf mußte klar sein, daß sie bestimmt nichts für ihre Lage konnten. Das mußte auch dieser Havar begriffen haben. Es war offensichtlich, daß der Harone nur mit seiner Beute spielte wie eine Katze mit der erhaschten Maus.

„Aber ohne Absicht, Herr!“ schluchzte der Kapitän. „Ohne Absicht!“

„Was hätten wir denn tun sollen?“ schrie Mgamo. „Was hätten wir anders machen sollen? Begreift Ihr denn nicht?“

Die in Leder gekleideten Haronen regten sich und warteten anscheinend, daß man ihnen erneut ein Zeichen gab. Doch diesmal reagierte Havar selbst. Langsam zog er sein stolzes Breitschwert aus der Scheide und beugte sich dann herab, um es Mgamo unter das Kinn zu halten. Der junge Mann zitterte vor Angst, während Havars Miene noch immer keine Regung zeigte: weder Wut noch Befriedigung zeichnete sich in dem Gesicht ab, das ebenso gut in Stein hätte gemeißelt sein können.

„Bitte, Herr...“ stammelte der Kapitän, doch im nächsten Augenblick stieß Havar seine Waffe vor. Das Schwert fuhr durch den Hals und trat aus dem Nacken wieder vor, einen Strom roten Blutes hervorstoßend. Entsetzt starrte Bumbariam auf seinen getöteten Kameraden. Der Harone zog sein Schwert heraus, wobei er sein Opfer zunächst mit in die Höhe zog, bevor die Klinge aus dem Hals glitt und Mgamos Leiche auf dem sandigen Boden zusammensank.

Plötzlich ritt der zweite Harone in Rüstung hervor. Huron, erinnerte Bumbariam sich. Sein Lächeln war verschwunden, dafür zeigte sein Gesicht blankes Entsetzen. „Bist du verrückt, Havar? Was tust du?“

Havar schüttelte ihn ärgerlich ab. „Ich kann es mir nicht erlauben, solche dreisten Bemerkungen stehen zu lassen.“

„Aber ich hatte dich gebeten, die drei nicht zu töten! Erinnerst du dich nicht?“

„Ja, ja!“ versetzte der Feldherr ärgerlich. „Diese zwei werde ich nicht umbringen! Keine Sorge, Bruder!“

Bumbariam, noch immer entsetzt über den so plötzlichen Tod des jungen Mgamo, faßte wieder Hoffnung. Wie es aussah, hatten sie einen Fürsprecher unter den Haronen. Er sah zum Kapitän, aber Barangum starrte noch immer auf die Leiche im Sand und schien überhaupt nicht mitzubekommen, daß sich das Blatt für sie wendete.

„Man soll die beiden fesseln“, ordnete Havar an. „Mein Bruder darf über sie verfügen.“

Die vier Leibwächter - denn das schienen sie zu sein - stiegen ab und traten vor. Einer hatte Stricke in der Hand, die anderen hielten ihre Kurzschwerter gezogen. Dann wurden Barangums Arme auf dem Rücken gebunden. Bumbariam suchte den Blick des Kapitäns. „Herr, macht kein so betrübtes Gesicht!“ flüsterte er. „Es scheint, wir sind noch einmal davongekommen.“

Der Wächter hinter ihm lachte dröhnend. „Habt ihr gehört“, gab er weiter. „Der Kleine hier hat eben gemeint, sie seinen noch einmal davongekommen!“

Die anderen stimmten in das frohe Gelächter ein.

 

Während die Haronen beieinander saßen, scherzten und aßen, hockten Barangum und Bumbariam in Fesseln etwa vierzig Schritte abseits, gerade außerhalb der Hörweite ihrer Peiniger. Die frohe Stimmung unter Havar und seinen Landsleuten stand in krassem Gegensatz zur Verzweiflung, die Barangum erfüllte. Der Kapitän wirkte gebrochen, als habe er mit seinem Leben abgeschlossen. Bumbariam dagegen zitterte zwar noch am ganzen Leib, hatte aber die Hoffnung nicht aufgegeben.

„Nur Mut, Herr!“ versuchte der Junge den Kapitän aufzumuntern. „Dieser Huron, der uns gerettet hat, scheint ein guter Mann zu sein.“

Barangum sah zweifelnd auf. „Wie kommst du darauf?“

„Er hat mich die ganze Zeit angelächelt. Und zuletzt hat er sich für uns eingesetzt. Bestimmt wird er für uns sprechen und uns helfen.“

„Sieh doch hin! Er sitzt mit diesem Wahnsinnigen beisammen und lacht und trinkt mit ihm. Bei Burambils Gebeinen, wenn ich denke, daß die Nordländer uns Barbaren nennen!“ Er schauderte.

„Wartet es ab, Herr! Laßt uns auf diesen Huron vertrauen!“

„Ich möchte dir die Hoffnung nicht nehmen, Junge! Aber du hast die Geschichten über die Haronen nicht gehört. Sie sind die übelsten aller Menschen, schlimmer noch als die Furoster unserer Legenden. Und auch ich habe das Lächeln auf den Lippen jenes Mannes bemerkt. Etwas daran stimmte nicht. Etwas ist vollkommen falsch.“

Bumbariam wußte nicht, wovon der Kapitän redete, begriff aber, daß der Ältere noch immer unter dem schockierenden Eindruck der kaltblütigen Ermordung Mgamos stand. Schließlich hatte Huron ihnen mit seinem Einwand zweifelsfrei das Leben gerettet?

Der junge Seemann wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er fühlte, wie etwas an seinen Händen schnitt. Suchend wandte er sich um. „Hier ist eine Staude Säbelgras. Vielleicht kann ich meine Fesseln durchtrennen.“

Barangum folgte seinem Blick, schüttelte aber sogleich den Kopf. „Bis diese Blätter die Stricke durch haben, würden Stunden vergehen! Da, sieh, dein Huron kommt auf uns zu. Jetzt wird sich erweisen, was er wirklich will.“

Der Harone lächelte noch immer. Bumbariam versuchte festzustellen, ob wirklich etwas Falsches darin lag. Er konnte es nicht sagen, aber andererseits: Warum lächelte der Mann unentwegt? War er verrückt?

Huron stellte sich vor ihnen auf und entfernte mit einem scharfen Messer den Schmutz unter seinen Fingernägeln. Beiläufig warf er ihnen gelegentliche Blicke zu, stets mit diesem Lächeln auf den Lippen, das immer gleich blieb. Auch Bumbariam begann jetzt, sich zu beunruhigen, doch ließ er es sich nicht anmerken.

„Wir möchten Euch danken, Herr“, sagte Bumbariam, „daß Ihr Euch für uns eingesetzt habt!“

Augenblicklich hielt der Harone inne und hob den Blick. Sein Lächeln gefror, und er starrte Bumbariam an, als wenn dieser etwas Ungeheuerliches gesagt hätte. Er muß mich falsch verstanden haben, dachte Bumbariam.

„Ich will nicht, daß gesprochen wird“, entgegnete Huron schließlich.

Es kam nicht laut oder befehlend, sondern beiläufig. Seine Gedanken schienen irgendwoanders zu sein. Durch diesen Satz verlor Bumbariam seine Zuversicht, daß sich letztlich alles zum Guten wenden würde.

Schließlich trat Huron näher und ging vor Barangum in die Knie. Der Kapitän senkte den Blick, aber der Harone griff nach seiner Stirn und hob den Kopf an. Ihre Blicke begegneten sich. Bumbariam beobachtete in atemloser Spannung, was geschehen mochte.

Huron hob sein Messer. Er setzte die Klinge an die Nasenwurzel. Barangums Augen weiteten sich entsetzt. Hurons Lächeln kehrte zurück, breiter und glücklicher als zuvor. Dann preßte er das Messer in das Fleisch. Barangum brüllte, sein Schreien schien alles zu durchdringen. Der Harone setzte mit weit aufgerissenen Augen seine Bemühungen fort, die Nase abzutrennen. Mit einer Hand griff er nach Barangums Kopf, die andere hielt das blutüberströmte Messer. Schließlich, als er die Nase zwischen zwei Fingern hielt, ließ er ein leises Kichern hören. Barangum, den er freigegeben hatte, war zusammengesunken und wand sich schreiend im Sand, während das Blut aus seinem verunstalteten Gesicht stürzte und den Sand tränkte.

Erneut griff Huron nach dem armen Kapitän und hielt seinen Kopf. Mit dem Messer beugte er sich vor, die Zunge zwischen den Zähnen, als erfülle er eine Aufgabe, die seine ganze Konzentration erforderte. Dann setzte er die Klinge über einem der Augen an. Barangum kreischte erneut und versuchte, den Kopf aus der Umklammerung zu lösen. Huron aber lachte nur und ließ die Klinge langsam in das krampfhaft geschlossene Lid sinken.

Wie betäubt wandte Bumbariam sich ab. Er warf sich auf den Boden und wünschte sich, daß etwas seine Ohren versiegeln möge, versiegeln vor den entsetzlichen Schreien des Schmerzes, die der Kapitän von sich gab. Zwischendurch blieben kurze Augenblicke, in denen der Kapitän gepreßt nach Luft schnappte, dann entfuhr ein neuer Laut der Qual seiner Kehle. Bumbariam traten Tränen in die Augen. Als er begriff, was ihm selbst in Kürze bevorstand, betete er zu allen Göttern, sie möchten ihn vorher sterben lassen. Plötzlich wünschte er sich, er hätte wie Mgamo den Feldherrn so verärgert, daß der ihn kurz und schmerzlos getötet hätte.

Zu Barangums Schmerzensschreien gesellten sich neue Klänge. Huron stöhnte. Erst leise, dann immer lauter und regelmäßiger. Endlich, als Barangum die Kraft zum Schreien ausging, stieß Huron einen einzelnen, langen Schrei aus. Dann geschah lange Zeit nichts.

Bumbariam wartete atemlos, daß Hurons lächelnde Fratze vor seinem eigenen Gesicht auftauchte. Seine Lippen murmelten alle Gebete, die ihm bekannt waren, während er schluchzte und zitterte. Schließlich vernahm er eine Stimme. Es war die Stimme Havars, des Feldherrn.

„Nun, Bruder, du hattest deinen Spaß! Aber wir wollen jetzt eine kleine Mittagsruhe halten, und diese Schreie rauben uns jeden Schlaf! Also komm, gewähre den Männern etwas Ruhe!“

„Aber Havar!“ erwiderte Huron. „Was ist mit dem?“

Havar lachte. „Keine Angst, ich rühre ihn nicht an. Du kannst ihn dir heute nachmittag vornehmen. Nun komm!“

Lange nachdem sie sich entfernt hatten, wagte Bumbariam, sich umzudrehen. Neben ihm lagen die zuckenden Überreste seines Kapitäns. Die Qualen, die er erlitten hatte, überstiegen Bumbariams Vorstellungsvermögen bei weitem. Er erinnerte sich an Barangums Worte: Etwas ist vollkommen falsch!

Jäh erinnerte er sich jener scharfkantigen Pflanze, die ihn geschnitten hatte. Stunden, hatte Barangum gesagt. Rasch begann er, die Seile an den Blättern zu scheuern.

 

Spät am Abend erst hörte Bumbariam auf zu rennen. Das Entsetzen, das ihm im Nacken gesessen hatte wie ein verwirrter Greifvogel, hatte ihm Ausdauer verliehen und Erschöpfung gar nicht erst aufkommen lassen. Bis zur Dunkelheit hatte er auf seine Umgebung kaum geachtet, waren wilde Phantasien durch sein Hirn gehetzt wie aufgescheuchte Fledermäuse. Endlich, als sein Körper ihm mitteilte, daß es nun genug sei, stolperte Bumbariam in ein Gehölz und sank in einen augenblicklichen Schlaf voller Alpträume.

 

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Erstellt: 22.05.2005, zuletzt aktualisiert: 24.02.2015 12:39, 351