Chimären von Michael Siefener
Rezension von Ramona Schroller
Michael Siefener ist längst kein Geheimtip in der deutschen
Phantastik-Szene mehr. Seine meist anspruchsvollen und intensiven
Erzählungen gehören zu gehobenen Klasse, sein fundiertes Fachwissen
gerade über Okkultismus läßt manch einen Neuling resignierend seufzen
und sich zurückziehen.
Kein Wunder also, daß Gerhard Lindenstruth, Betreiber des
gleichnamigen Kleinverlages aus Gießen, an den Autor herantrat und ihn
um ein Manuskript bat. Nun, ein Manuskript ist dabei nicht
herausgekommen, aber eine Sammlung von Erzählungen und Kurzgeschichten
aus Siefeners Feder mit seinem unvergleichlichen Stil und seiner
Begabung, gerade das Groteske hervorragend und glaubwürdig zu
beschreiben.
Allerdings, dies sei hier angemerkt, Siefeners geballte Kraft auf 330
Seiten ist denn selbst für einen Viel- und Gernleser ein recht großer
Happen. Es empfiehlt sich wirklich, nach jeder Erzählung etwas
innezuhalten und über das gerade Verschlungene nachzugrübeln. Den Band
an einem Stück zu lesen ist, zumindest für meine Begriffe, fast
unmöglich, denn so verlieren große Teile der Geschichten ein gutes
Stück an Wirkung und Wortgewalt.
Doch nun zum Inhalt:
Michael Siefener selbst meldet sich zum Eingang zu Wort und plaudert
ein wenig über die Entstehung dieses Bandes, seine Inspirationen und
sein Leben im allgemeinen. Da das Buch nicht mehr ganz neu ist, sollte
das eine oder andere Detail den Leser nicht weiter wundern.
Dann aber schlägt das erste Mal das Grauen zu. „Die wispernde
Schwärze" scheint unmöglich, so denkt zumindest der Erzähler, und doch
ist mehr daran, als zunächst angenommen. Interessante Abwandlungen.
Und schon hier zeigt sich wieder einmal Siefeners großes Talent, das
normale Leben absolut ins Groteske zu verzerren.
„Der Außenseiter", das mag der Erzähler nicht mehr sein. Nein, er
möchte am Leben teilnehmen, etwas leisten und andere kennenlernen. So
stiehlt er sich eines Nachts aus dem elterlichen Haus heraus und wagt
sich ins Leben - allerdings gar nicht so, wie zunächst angenommen.
Verdrehte Bilder und andere Realitäten haben schon immer einen großen
Reiz auf alle Autoren ausgeübt. Eine so gekonnte Wendung wie hier
sieht man jedoch recht selten.
„Ein Abend unter Büchern" - der Traum eines jeden Bibliophilen!
Allerdings sei hier davor gewarnt. Nicht alles ist, wie es scheint.
Und zum zweiten Mal kratzen wir am häufigsten Thema dieses Bandes:
Bücher als Bedrohung oder Hinweis, als Mahnung oder Schrecken. Schon
oft verwendet, doch selten so kreativ wie hier.
„Sankt Lamberti", das ist der Name einer bestimmten Kirche in einer
bestimmten deutschen Stadt mit einer bestimmten Geschichte. Na,
dämmert's? Richtig, die Rede ist von Münster! Und was Adrian dort
erlebt, hat es wirklich in sich. Kurz, prägnant, ein Hammer. Mein
erstes Highlight.
Bei „Beschwörungen" sollte man vorsichtig sein, man weiß nie, was
letztendlich dabei herauskommen wird. Dies hätte sich Viktor König
lieber zu Herzen nehmen sollen statt seines alten Klassenkameraden.
Vor Priestern wie diesem sollte gewarnt werden. Schuld und Sühne,
Opfer oder Täter. Hier verwischen diese Grenzen. Auch die
Erzählperspektive ist äußerst interessant. Lesen!
„In dunkler Zeit" geschah einiges, was wir uns heute kaum noch
vorstellen können. Doch was der neue Nachbar da tut ... das sucht
seinesgleichen und läßt die Staatsmacht auffahren. Das Dritte Reich,
schon allein der Name für diesen finstersten aller Zeitabschnitte
unserer Geschichte, läßt auf das Düstere schließen, das hier
geschieht. In seinem Vorwort ging Siefener auf gerade diese Geschichte
ein, so daß ich mich hier eines Urteils nicht enthalten kann: Für
einen Erstversuch hervorragend gelungen!
„Gute Freunde", das waren Karl und Gregor früher einmal. Doch dann
geschah etwas - etwas, an das Gregor sich nicht mehr erinnern kann,
als er sich Jahrzehnte später auf der Schwelle zu Karls Anwesen
wiederfindet. Erst nach und nach kehrt seine Erinnerung zurück. Und
mit ihr der Grund, aus dem er seinen alten Freund noch einmal besuchen
wollte. Atmophärisch dicht, hoher Gruselfaktor.
„Die Schatten aus dem Abgrund" sind etwas, das Wilhelm lieber
vergessen würde. Doch der Tod seines ehemaligen Arbeitgebers spült die
Erinnerungen wieder hoch. Erinnerungen an einen wahnsinnigen Priester
- oder waren es doch die Dorfbewohner, die von irgendetwas beeinflußt
wurden? Was ist Wahnsinn, was Realität? Was ist schrecklicher?
Siefener spielt hier mit den Erwartungshaltungen seiner Leser wie auf
einem Musikinstrument. Mein zweites Highlight.
„Das Buch" ist etwas, was der Vermißte unbedingt haben will. Irgendwo
muß es verborgen sein, irgendwo ... Doch als er es findet, ist er
zunächst enttäuscht, denn er kann die Schrift nicht lesen, die Worte
nicht verstehen. Doch in seinen Träumen ... Bücher sind nicht nur eine
Leidenschaft Siefeners, und so kann wohl auch nur ein wahrer
(Bücher-)Schatzjäger ermessen, was in dieser Geschichte geschieht. Und
wieder das besondere Augenmerk auf das Groteske, bitte. Klasse!
„In der Totenstatt" sucht Frank ein letztes Abschied von seiner
verstorbenen Lebensgefährtin. Er sucht Brügge aufgrund ihrer Vorliebe
für Georges Rodenbach auf - und findet, womit er nie im Leben
gerechnet hat. Stimmungsvoll die Beschreibung der Stadt und des
Wetters. Interessant.
„Eine Spukhausgeschichte", das wollten Inge und Heinz ganz sicher
nicht erleben. Und doch landen sie genau da, in einem verrufenen
Spukhaus. Und was sie dort erleben, könnte sie mehr als nur ihre Leben
kosten ... Für meinen persönlichen Geschmack etwas zu splatterhaft.
Interessant hier dagegen die Beschreibung des Hausinneren und seiner
Verwandlung.
„Die Segnung", so soll es zumindest sein, ist die Erfindung des
Telefons. Dies sieht der Protag dieser Geschichte an deren Ende sicher
etwas anders, dabei war er doch so froh, ein Telefon zu besitzen. Wer
nie eine ganze Zeitlang ohne diese kleinen, klingenden Monster
verbracht hat, wird den Witz vielleicht nicht so ganz verstehen. Mein
drittes Highlight.
Weiß hat eigentlich alles, was er sich wünschen kann. Trotzdem wächst
in ihm plötzlich das „Verlangen" nach mehr, nachdem dieser merkwürdige
Fremde ihm alles angeboten hat, was er sich wünschen kann. Hut ab, auf
die Idee muß man erst einmal kommen. Klasse Geschichte, mit einem sehr
drastischen Sinn.
„Vallis Illa" bedeutet die Warnung vor einer Straße. Einer Straße, in
der Julian aufgewachsen ist. Nun aber muß er erkennen, daß sich dort
einiges verändert hat. Und den Grund dafür ... den findet er erst ganz
am Ende heraus. Hier führt Siefener seine Leser wirklich auf eine
komplett falsche Fährte, und das mehrfach. Interessant.
„Der Herzenswunsch" von Kaspar Prinz ist es, einmal eine
Märchenprinzessin zu treffen. Natürlich, wenn mehr dabei herauskommen
würde ... Und ja, man liest richtig. Es soll wirklich
Märchenprinzessin heißen. Denn Kaspars Hobby sind Märchen. Witzig und
spritzig, mit hohem Schmunzelfaktor.
„Jeremias" ist mit seinem Leben eigentlich zufrieden - zumindest bis
zu dem Tag, an dem er diese rätselhafte Videokassette bekommt. Danach
fühlte er sich wie ein „Träumer", der nicht erwachen kann. Durch die
hohe Abnutzung dieses Themas nicht wirklich neu (vor allem, da man,
auch wenn die Geschichte nicht sonderlich actionreich ist, ständig
einen bestimmten Film im Hinterkopf hat und auf das Kaninchen wartet),
aber interessant gelöst.
„Innsmouth Schatten" reichen weit, dies muß der Erzähler dieser
Geschichte erfahren. Wie weit, darüber wird er sich noch wundern.
Outet sich hier der Autor selbst oder bedient er sich nur in dem
reichen Pool? Man weiß es nicht. Da Siefeners Phantasien jedoch
Anklänge an Lovecraft haben ist das ganze sehr gut gelungen.
„Fliegen" haben eine besondere Geschichte, auf die Siefener in seinem
Vorwort auch hinweist. Schön hier, daß er viel offen läßt für eigene
Interpretationen seiner Leser. Zudem ein gelungener Abschluß des
Bandes.
Alles in allem bleibt also: ein gutes Buch von einem guten Autor
(nein, ich will hier nicht zu sehr loben), das leider etwas
untergegangen ist seit seinem Erscheinungszeitpunkt. Umso mehr ein
Grund, sich „Chimären" anzuschaffen. Lohnenswert vor allem für die,
die etwas gehobenere Phantastik mögen.