Cuanscadan - Tor nach Erainn
 
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Cuanscadan - Tor nach Erainn

Reihe: Midgard

Rezension von Karsten Monse

 

Dieses Jahr wird die Midgard-Gemeinde mit Material zu ihrem Lieblingsrollenspiel reichlich bedacht. Pünktlich zum Nikolaus ist am 05.12. der Quellenband „Cuanscadan – Tor nach Erainn“ von Karl-Georg Müller, Manfred Roth und Jürgen E. Franke (sic!) erschienen. Damit ist nach den im Oktober veröffentlichten, überarbeiteten Versionen des KanThaiPan-Quellenbandes „Unter dem Schirm des Jadekaisers“ und des Regelwerkes „Midgard – Das Fantasy-Rollenspiel“ der dritte große Wurf in diesem Jahr gelungen. Gelungen? Wollen wir doch mal sehen …

 

„Cuanscadan – Tor nach Erainn“ ist ein Quellenband des erainnischen Fürstentums und der Stadt Cuanscadan inklusive einer Beschreibung des Landes Erainn. Darüber hinaus enthält der Band einige Abenteuerskizzen, die in Cuanscadan spielen. Erainn ist ein Landstrich auf Midgard, der nach „irisch-mythologischem Vorbild“ (Originaltext aus dem Midgard-Regelwerk von 1989) gestaltet wurde. Damit findet nach den letzten Veröffentlichungen der eher exotischen Buluga- und KanThaiPan-Quellenbände sowie der Beschreibung der Parallelwelt „Myrkgard“ eine Rückbesinnung auf das Midgard-„Kerngebiet“ statt: dem Kontinent Vesternesse. Gut, es wurde zwischendurch noch der Quellen- und Abenteuerband „Corrinis – Stadt der Abenteuer“ – eine Stadt im Randgebiet zwischen Alba (angelsächsisch-normannisch-schottisch) und Erainn – wiederaufgelegt, erweitert und an die aktuellen Regeln angepasst. Aber vollständig neues Material vom Westkontinent Midgards, in dem sicher immer noch die Mehrzahl der Midgard-Charaktere auf Abenteuer ausziehen, gab es seit dem Erscheinen des Alba-Quellenbandes im Jahr 1998 nicht mehr. Umso größer wird daher bei vielen „Midgardianern“ die Vorfreude auf diesen Band sein.

 

Und sie werden nicht enttäuscht. Der Quellenband setzt die bestehende Tradition der im Pegasus-Verlag erschienenen Midgard-Produkte auch unter der neuen (alten?) Schirmherrschaft des Verlages für F&SF-Spiele fort. Als gebundene Hardcover-Ausgabe im DIN-A4 Format besteht „Cuanscadan“ den rauen Einsatz an der Spielleiterfront und kann mit seinem Umfang von 144 Seiten auch notfalls bei handfesten Diskussionen eingesetzt werden. Das Titelbild erfreut ebenfalls das in früheren Zeiten oftmals gebeutelte Auge der Midgard-Spieler und Spielleiter (legendär: Abenteuertruppe vor Neuschwanstein im naiven Stil, Midgard-Regelwerk-Box aus den 80er Jahren – Gott sei Dank, diese „Boxen“-Unsitte wurde ebenfalls abgestellt). Verantwortlich für das gelungene Cover ist Swen Papenbrock, der auch bereits das Titelbild für die Neuauflage des KanThaiPan-Quellenbandes gestaltete. Es zeigt eine idyllische Hafenszene, in deren Vordergrund eine Bardin einem stattlichen, verwegen dreinblickenden Glücksritter auf ihrer Laute vorspielt. Dahinter sind einige Menschen mit anscheinend etwas ungesunder gräulich-grüner Gesichtsfarbe zu sehen, die vergnügt um das Paar herumstehen bzw. -laufen. Dass es sich hierbei nicht um Seereisende handelt, die gerade eine unsanfte Passage auf dem im Hintergrund vor Anker liegenden Schiff hinter sich haben, wird bei der Lektüre des Quellenbuches klar. Diese Menschen gehören wohl zum Volk der Schlange, dem Hauptvolk Erainns, das aus der Verbindung von Menschen mit dem Elfenvolk der Coraniaid entstand, und zu dessen Merkmalen eine grünlich schimmernde Hautfarbe zählt. Doch halt, bevor wir jetzt tiefer in die Geschichte und Geheimnisse Erainns und Cuanscadans eintauchen, erstmal eine Übersicht über das, was uns zwischen den Buchdeckeln von „Cuanscadan – Tor nach Erainn“ erwartet.

 

Beim Blick ins Inhaltsverzeichnis fällt auf, dass das Buch zwei-, eigentlich sogar dreigeteilt ist. Im ersten und größten Teil werden das Fürstentum und die Hafenstadt Cuanscadan von Karl-Georg Müller und Manfred Roth beschrieben. Der zweite Teil von Jürgen E. Franke behandelt das Land Erainn und seine Bewohner. Im dritten Teil werden abschließend vier Abenteuerskizzen von Karl-Georg und Patrick Müller sowie das Abenteuer „Das Auge des Wüstengottes“ von Ulf Zander und Andreas Mätzing vorgestellt.

 

Die Beschreibung des „Hafens der Heringe“ – die wörtliche Übersetzung von „Cuanscadan“ – im ersten Abschnitt enthält alles, was man von einer guten Stadtbeschreibung erwartet: Schilderung der geographischen Lage und Umgebung, Übersicht über Geschichte und politische Lage, Aufbau der Stadtviertel und vor allem Beschreibung der Stadtbewohner. Das Besondere hierbei ist jedoch nicht, dass, sondern wie beschrieben wird: Dem Autor gelingt es, die Bewohner mit Eigenschaften und Eigenarten zu versehen und sie somit zum Leben zu erwecken. Der feine Humor, mit dem dies häufig geschieht, bringt den Leser öfters zum Schmunzeln. Darüber hinaus werden zwischen den Bewohnern Beziehungen aufgebaut, so dass sie nicht die Statisten einer toten Stadt sind, sondern die Stadt tatsächlich mit Leben erfüllen. Durch diverse Geheimbünde und Gilden, wie z.B. den „Schwarzen Schatten“ und den „Wahren Schwarzen Schatten“, gewinnt die Stadt hinter ihrer idyllischen Fassade eine tiefgründige und bedrohliche Dimension. Dies wird ebenso bei der Schilderung einiger Stadtbewohner deutlich, die unter ihrer scheinbar harmlosen Oberfläche eine zweite, dunklere Seite verbergen.

 

Somit entwickeln sich im Geist eines kreativen Spielleiters schon beim ersten Durchlesen zahlreiche Ideen für eigene Abenteuer in Cuanscadan. Auch die Art und Weise, wie der Autor dem Leser verschiedene Orte in der Stadt näher bringt, zeichnet diese Stadtbeschreibung aus: Er beschreibt nicht einfach nur die Gebäude und deren Bewohner, sondern nimmt in ausgesuchten Beispielen den Leser in einer Art virtuellem Spaziergang bei der Hand und lässt ihn so beispielsweise in dem Kapitel „Eine Reise nach Cuanscadan“ einen Streifzug durch Cuanscadan erleben, der in der Begegnung mit dem Oberhaupt von Cuanscadan, dem Fürsten Amhairgin, und seiner Familie am Fürstenhof endet. Der hierbei gewonnene Eindruck ist für den Leser wesentlich prägnanter als eine reine Aneinanderreihung von Gebäudebeschreibungen. Man bekommt viel mehr von der Atmosphäre der Stadt mit, was für die Entwicklung zukünftiger Abenteuer ebenfalls sehr hilfreich ist. Darüber hinaus macht es einfach auch viel mehr Spaß, eine kurze Geschichte zu lesen, als fünf Seiten trockene Beschreibungen. Dass der Autor beim Schreiben wohl auch Spaß hatte, merkt man beispielsweise am Auftauchen des „übergradigen“ Coraniaid-Erzmagiers Ultan ay’siochan, den es in dieser Erfahrungsstufe nach den gängigen Midgard-Regeln gar nicht geben dürfte. Aber sowas darf man wohl mit einem Augenzwinkern unter dem Stichwort „künstlerische Freiheit“ verbuchen. Neben der ansonsten wirklich sehr geglückten Stadtbeschreibung kann die Gestaltung der beiden Stadtkarten auf den Seiten 14 und 68 als Kritikpunkt angesehen werden. Die unterschiedlichen Notationen zwischen den beiden Karten sowie die Einteilung der Stadtbewohner nach ihren Stadtvierteln und die willkürliche Nummerierung machen die erste Handhabung etwas gewöhnungsbedürftig.

 

Der zweite Teil wurde von Jürgen E. Franke, dem „Godfather of Midgard“, selbst geschaffen. In ihm erwarten den Leser Einblicke in das Land Erainn. Dabei werden ebenfalls die vier Quellenband-Gs abgehandelt: Geographie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft. Und gerade die Erläuterungen zu Geschichte und Gesellschaft Erainns liefern auch für den Rest Midgards neue Erkenntnisse. Man erfährt beispielsweise, wie das Volk der Schlange, das Hauptvolk Erainns, aus der Verbindung von Menschen und Coraniaid entstanden ist und welche Bedeutung die Coraniaid für die Geschichte Midgards haben. Sehr hilfreich ist auch die Beschreibung der Aussprache erainnischer Worte, mit der man nun nachprüfen kann, ob das, was man sich so als unwissender Leser in der Stadtbeschreibung zusammenge„aint“, „-dht“ und „-cht“ hat, auch tatsächlich von einem Erainner verstanden worden wäre. Ich bin mir da bei meinen Kreationen nicht immer ganz sicher. Für das Spielen von Abenteuern in Erainn ist es auch sehr hilfreich zu wissen, wie Recht und Ordnung eingehalten und durchgesetzt werden. Als Spielleiter weiß man ja, dass die Spieler „Recht“ oft als sehr dehnbaren Begriff verstehen. Außerdem bietet die Beschreibung des Rechtssystems Anhaltspunkte für die Gestaltung neuer Abenteuer.

 

Eine wesentliche Rolle im Leben der Erainner spielt ihr Glaube an Nathir, die Allumfassende Schlange, einer pantheistischen Gottheit. Der Glaube wird vom ganzen Volk getragen und es gibt keinen eigentlichen Klerus. Der Glaube an Nathir ist durch eine enge Verbundenheit der Menschen zur Natur und ihren Geschöpfe geprägt. An den zahlreichen und mit viel Hingabe begangenen Feiertagen – der Erainner feiert gern und viel, ganz so, wie sein ir(d)isches Vorbild – werden die Zeremonien von den Weisen Frauen geleitet. Sie besitzen die Gabe Nathirs, die durch eine langjährige Ausbildung und zahlreiche Prüfungen geschult wird. In einer kurzen Geschichte begleitet der Leser eine Weise Frau auf ihrem Prüfungsweg zur Erlangung des Titels einer „Tochter der Schlange“. Wie schon im Abschnitt der Stadtbeschreibung führt auch hier eine Erzählung dazu, dass der Leser das Geschehen wesentlich intensiver erlebt. Die eigentümliche Schilderung in kurzen Sätzen vermittelt dem Leser das Gefühl, direkt an den Gedanken der Weisen Frau teilzuhaben.

 

Neben den Weisen Frauen verfügen auch die „echten“ Barden Erainns über die Gabe Nathirs und unterscheiden sich somit von einfachen Sängern. Sie sind vielmehr die Bewahrer der kulturellen Identität Erainns und besitzen als solche hohe Autorität und Verantwortung in der Gesellschaft. Zur langwierigen Ausbildung der Barden gehört auch das Erlernen von Zaubertänzen, die in einem eigenen Unterkapitel vorgestellt werden. Den Abschluss des Kapitels bilden die Darstellung und das Lernschema des neuen weiblichen Abenteuertyps Fionnacórach, einer mit der Gabe Nathirs gesegneten Rechtsgelehrten, sowie Erläuterungen zur Erschaffung von Charakteren, die aus dem Volk der Schlange stammen.

 

Das dritte und letzte Kapitel besteht aus vier Abenteuerskizzen von Karl-Georg und Patrick Müller sowie dem Abenteuer „Das Auge des Wüstengottes“ von Ulf Zander und Andreas Mätzing. Sie alle spielen in Cuanscadan und bauen teilweise aufeinander auf, so dass sie als Kampagne gespielt werden können. Und obwohl die Skizzen teilweise nur einen Umfang von einer Seite haben, liefern sie doch dank der atmosphärisch dichten Stadtbeschreibung genügend Stoff für etliche Stunden Spielspaß. Auch „Das Auge des Wüstengottes“ passt sich in das restliche Material hervorragend ein und zeigt einmal mehr, wie gefährlich das Leben unter der Oberfläche Cuanscadans sein kann.

 

Das anschließende „kleine erainnische Wörterbuch“ erlaubt es dem Spielleiter, im Verlaufe eines Abenteuers auch ohne großes Nachlesen und -blättern die Spieler mit den originalen, erainnischen Begriffen zu erfreuen (oder in den Wahnsinn zu treiben, je nach Geschmack und Aussprache). Den Abschluss des Buches bildet der bei den Midgard-Publikationen mittlerweile (zum Glück) schon obligatorische, umfangreiche und gut sortierte Index.

 

Den wirklichen gelungenen schriftlichen Ausführungen aller drei Kapitel steht die graphische Gestaltung des Buches in nichts nach. Der Quellenband ist mit zahlreichen Gebäudeskizzen in ansprechender 3D-Draufsicht versehen, die unter anderem die unterschiedlichen Gebäudetypen der einzelnen Stadtbezirke Cuanscadans wiedergeben. Somit erhält der Spielleiter zusätzliche Anhaltspunkte zur Gestaltung neuer Abenteuer. Darüber hinaus findet er die bereits oben angesprochenen zwei Karten von Cuanscadan sowie eine Übersichtskarte von Erainn, auf der die größeren Städte mit Stadtwappen eingezeichnet sind. Die ebenfalls recht zahlreichen Zeichnungen lockern das Textbild auf und vermitteln dem Leser häufig einen zusätzlichen Eindruck der beispielsweise gerade beschriebenen Personen und Orte.

 

Als besonderes Bonbon enthält der Band zwei herausnehmbare Karten, die jedoch dank der Kartentasche am hinteren Buchdeckel auch über eine feste Bleibe verfügen und nicht als obdachlose Karten schon bald durch die Gegend vagabundieren. Die eine Karte zeigt dabei in Grautönen auf beschichtetem Papier nochmals das Stadtbild Cuanscadans, diesmal allerdings ohne Nummerierung der Gebäude, dafür mit Angabe von Höhenlinien. Sie kann z. B. den Spielern vorgelegt werden, um ihnen einen ersten Überblick über die Stadt und eine Vorstellung von ihrer Größe zu vermitteln. Die zweite Karte jedoch ist ein echtes Schmankerl. Auf Kartonpapier im DIN-A3 Format zeigt sie in farbiger Darstellung das Fürstentum Cuanscadan mit Kennzeichnung der geländetypischen Eigenschaften, Städte bzw. Dörfer, Straßen und Flüsse – so, wie man’s halt aus dem Diercke Weltatlas kennt. Die Kartenumrahmung und Hintergrundsgestaltung der Legende mit keltischen Knotenmustern, die Wahl einer irischen Schrifttype sowie die gediegene Farbenwahl, die der Karte das Aussehen eines Aquarells verleiht, machen diese Karte zu einem echten Kleinod, das sich auch gut als Wandschmuck eignet.

 

Der Quellenband „Cuanscadan – Tor nach Erainn“ erfüllt tatsächlich alle Erwartungen, die man in eine Stadtbeschreibung setzen kann. Die Stadt Cuanscadan und seine Bewohner werden ausführlich beschrieben und der Leser erfährt Zahlreiches über Politik, Gesellschaft und Glaube. Darüber hinaus stellen die Erläuterungen zu Erainn und seinen Bewohnern eine gute Ergänzung dar, die es dem Leser erleichtern, sich in die Sicht- und Denkweise der Erainner einzufinden. Die abschließenden Abenteuerskizzen ermöglichen dem Spielleiter, das gerade Gelesene gleich am Spieltisch umzusetzen. Neben diesen ganz offensichtlichen und mehr oder weniger selbstverständlich zu erfüllenden Erwartungen findet man in diesem Quellenband jedoch etwas, das man beim Lesen der meisten Quellenbände schmerzlich vermisst: den Spaß beim Lesen. Hier gelingt es den Autoren auf unterschiedliche Weise, das Lesen wirklich zum Vergnügen zu machen und nicht nur zu einer Art der Informationsaufnahme. „Cuanscadan – Tor nach Erainn“ ist für mich daher der beste, weil auch unterhaltsamste, Quellenband der Midgard-Reihe.

 

Fazit:

 

Zum Abschluss sei noch darauf hingewiesen, dass mit dem Erscheinen des Quellenbandes die Geschichte Cuanscadans nicht abgeschlossen wird. Vielmehr bietet Karl-Georg Müller auf seiner Website www.cuanscadan.de allen Interessierten die Möglichkeit, weiter am Leben im „Hafen der Heringe“ teilzuhaben und selbst kreativ zu gestalten. Eine Idee, die hoffentlich von vielen Lesern wahrgenommen wird.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240416003627ca17e2e8
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Cuanscadan - Tor nach Erainn

System: Midgard

Autor: Karl-Georg Müller, Manfred Roth, Jürgen E. Franke

Gebundene Ausgabe - Verlag für F&SF-Spiele

Erscheinungsdatum: Dezember 2005

ISBN: 392471424X

Erhältlich bei: Amazon

 


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Erstellt: 20.12.2005, zuletzt aktualisiert: 15.02.2015 10:38, 1650