Filmkritik von Christel Scheja
Rezension:
Hat das „Böse“ wirklich ein Gesicht, das leicht zu erkennen ist? Serienkiller und Massenvergewaltiger haben in den letzten Jahren das Gegenteil bewiesen. Oft genug erschienen sie wie ganz normale Menschen, galten als unbescholtene Bürger, teilweise sogar als Stützen der Gemeinde, oder gar als charmante „Knastpoeten“.
Was hinter ihrer Stirn vorging und sie immer dann trieben, wenn keiner hinsah – das kam oft genug erst viel zu spät ans Licht der Öffentlichkeit und entsetzte die Menschen.
Deshalb kann man sich durchaus die Frage stellen, ob nicht jeder Mensch zu solchen Gräueltaten fähig ist, wenn er nur die Gelegenheit dazu bekommt, die Bestie in sich frei zu lassen...
„Das Böse nebenan“ ist eine „Spiegel TV“-Dokumentation, die dieser Frage ausführlich nachgeht. Sie wurde im Frühjahr 2010 im Rahmen der Reihe „Die große Samstags-Dokumentation“ auf VOX ausgestrahlt
Journalisten, forensische Psychiater und viele andere beschäftigten sich mit den spektakulären Beispielen der letzten hundert Jahre und versuchen dadurch zu ergründen, warum Menschen so wurden, weshalb man sie erst so spät erkannte und wie sie lange Jahre ihre Gelüste ausleben konnten.
Jack Unterweger wurde als charmanter „Knastpoet“ bekannt und wurde nach seiner frühzeitigen Entlassung in der Wiener Schickeria herumgereicht, genoss das Jet-Set-Leben und brachte doch im Schatten der Nacht mehrere Prostituierte bestialisch um. Bis seine Taten bekannt wurden, schienen viele gar nicht verstehen zu können, warum er ein Mörder war – danach war klar, dass sie einem gefährlichen Psychopathen aufgesessen waren.
Auch Frank Gust begann mehrere grausame Morde und war doch in seinem anderen Leben ein liebevoller Familienvater.
Warum sein Treiben unentdeckt blieb, genau wie das von Josef Fritzl, der seine Tochter viele Jahre im Keller einsperrte und mit ihr mehrere Kinder zeugte, obwohl die Nachbarn etwas hätten sehen können, bleibt schwer erklärbar und muss in jedem Fall einzeln betrachtet werden.
Mit einem Blick auf das dritte Reich wird erklärt, warum auch unbescholtene Menschen plötzlich grausam werden können – der Krieg und ein Regime, das Mord banalisiert – begünstigen die Möglichkeit, dass Menschen anfangen ihre Hemmungen zu verlieren. Vielleicht spielen in Einzelfällen ererbte oder entstandene psychische Defekte eine Rolle, in anderen die Kindheit und Jugend des Täters, aber letztendlich kommen die Fachleute zu dem Schluss, dass bei der richtigen Kombination von Gründen, jeder Mensch zur Bestie werden kann – die einen früher, die anderen später. Dies sind nur einige der vorgestellten Personen und Fälle.
Die zweite DVD umfasst mehrere Features von Alexander Kluge. „Auf der Suche nach dem unsichtbaren Bösen“ beschäftigt er sich eher mit der Philosophie, die dahinter steht. Was ist eigentlich das „Böse“? Wie drückt es sich aus? Wie sieht es mit dem Bösen und dem Kriminellen aus? Warum empfinden so viele Menschen Lust daran, das Böse zu beobachten und als Unterhaltung zu genießen, sei es nun in Büchern und Filmen? Ist der Mensch vielleicht ein Raubtier unter der dünnen Hülle der Zivilisation? Und was ist der Teufel – wie verändern sich die Auffassungen der Menschen im Lauf der Zeit?
Die Doppel-DVD und das Booklet sind nicht ganz ohne und behandelt ein Thema, das man erst ab einem bestimmten Alter differenziert erfassen kann. Das rechtfertigt die hohe Altersfreigabe, auch wenn nur wenige Szenen und Beschreibungen in der Dokumentation wirklich böse sind. Aus diesem Grunde wird auch vermieden, reißerisch aufzutreten, die meisten der Fälle werden doch eher nüchtern vorgestellt und analysiert, auch wenn man sich gerade bei den Fällen aus der jüngeren Zeit wie „Monstern von Amstetten“ nur zu gut an die reißerische Aufarbeitung erinnern dürfte.
Interessanter sind die Analysen der forensischen Psychiater, der Mitarbeiter in den Gefängnissen, die Tag für Tag mit diesen Menschen zu tun haben und so deutlich beschreiben können, wie sie ihnen gegenüber auftreten. Differenziert und kritisch beurteilen sie die Rolle der Mörder und Vergewaltiger und machen sehr deutlich, dass jeder Mensch so werden kann – wenn die Umstände es zulassen. Ein Teil mag in der Psyche und den eigenen Erlebnissen der Täter begründet sein, jedoch nicht alles.
Das wird vor allem in dem Kapitel über das Dritte Reich deutlich: geschickte Indoktrination und Banalisierung der Grausamkeit, eine treibende Kraft und zentrale Figur, die zum Vorbild wird, schließlich der Krieg – all das verändert ganz normale Menschen und macht sie zu Monstern. Und das Naziregime ist im Grunde nur ein sehr exemplarisches Beispiel.
Interessant ist, dass offenbar vor allem Männer durch die Umstände alle moralischen und ethischen Grenzen vergessen. Unter den vorgestellten Fällen gibt es keinen einzigen mit einer Frau als Täter. Diese sind wie Kinder fast immer die Opfer. Leider geht man auf diesen Punkt nicht wirklich ein.
Das ist aber schon das einzige Manko der ansonsten sehr vielschichtigen und spannenden Dokumentation. Die Features von Alexander Kluge sind dagegen etwas schwerer zu verdauen, da sie doch ein wenig mehr an Vorwissen und Bildung erwarten und auch höhere Ansprüche an die Aufmerksamkeit der Zuschauer haben.
Fazit:
Alles in allem erreicht „Das Böse nebenan“ aber das gesetzte Ziel. Zum einen werden die Zuschauer gut unterhalten – der Gruselfaktor ist garantiert – dann aber auch ein wenig sensibilisiert, gerade weil die Dokumentation sich nicht nur auf das Geschehen konzentriert, sondern auch auf die Hintergründe. Sie schafft es nachdenklich zu machen, zu sensibilisieren und macht deutlich, dass in jedem von uns „Das Böse“ steckt und freikommen könnte, wenn die Umstände und wir selbst es zulassen.
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