Das erste Grab (Autorin: Christel Scheja)
 
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Das erste Grab

Talastan-Hauptyklus. – Daisha & Aresha 1

Autorin: Christel Scheja

 

“So sei es verfüget: All jene Kreaturen, die sich vermessen, die Ruhe der Dahingeschiedenen zu schänden, in dem sie sich in räuberischer Absicht den letzten Ruhestätten nähern und jene durch ihr Eindringen schänden, sollen den schwersten Strafen verfallen…”

- Yjan-Calliornisches Gesetz -

 

 

“Grabräuberei!” Entsetzt starrte Daisha den älteren Mann an, der sie gestern erst aus den Händen der Stadtwache und danach vor Jeracs Schlägen gerettet hatte. Sie hatte angenommen, daß Kylvan ein besonders geschickter und erfahrener Dieb war — aber ein Grabräuber? Nie im Leben hätte sie das vermutet!

“Darauf steht der Verlust beider Hände oder lebenslange Arbeit in den Erzminen!” keuchte sie. Selbst unter dem zwielichtigen Gesindel von Yjan-Calliorn galten Grabräuber als verrückt, denn wer die Toten bestahl, der unterschrieb sein eigenes Todesurteil; die Bettler ohne Hände und die Zwangsarbeiter in den Minen überlebten selten das erste Jahr. Und wer wußte schon, ob man damit nicht den Zorn höherer Mächte auf sich zog. Einige der Frevler hatten in den Gräbern den Verstand verloren und nach ihrer Rückkehr von seltsamen Erscheinungen gesprochen und von Steinen, die sich wie von Geisterhand bewegten….

Kylvan beugte sich vor und strich dem dürren Mädchen in der zerlumpten Kleidung über das rotbraune Haar. “Ich weiß, was du jetzt denkst. Aber die Geschichtenerzähler erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Es ist gefährlich in die Gräber einzudringen, das stimmt schon, aber ich habe noch nie erlebt, daß die Toten mich verfolgten, wenn ich ihnen ihre Schätze stahl! Und alles andere sind Hindernisse und Fallen, die man mit Verstand und List umgehen kann.” Abrupt wurde er ernst, er packte Daisha an den Schultern und sah sie eindringlich an. “Jetzt hör’ mir genau zu: Ich habe diesen Aufschneider Jerac nicht aus Mitleid mit dir zusammengeschlagen, sondern weil ich dich brauche, Mädchen. Du bist dünn und gelenkig genug, um dich durch Spalten zu winden, die für mich zu eng sind. Du hast die Wahl, Daisha: Entweder wirst du mein Lehrling — und du wirst diesen Schritt nicht bereuen! — oder ich sorge dafür, daß du mich nicht verrätst, und dann wirst du Jerac und seiner Bande für immer auf dem Hals haben.”

Daisha schnappte nach Luft. Das war gar keine Wahl — aber sie konnte immerhin versuchen, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Sicher war es besser, in den Gräbern herumzukriechen, als weiterhin jeden Tag in Angst zu leben, daß die Stadtwache sie einfing oder sie erneut von den älteren Dieben verprügelt wurde, da sie längst nicht so schnell und geschickt wie die yjan-calliornischen Straßenkinder war, sondern nur ein Bauerntrampel aus dem Hochland. Vielleicht wollte der Grabräuber sie bloß ausnutzen, wie all die anderen, aber es war zumindest die Möglichkeit, ein anderes Leben zu beginnen. “Ich werde dein Lehrling!” entschied sie sich.

Kylvan klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. “Ach, mach’ dir keine Sorgen. Ich werde dich gut behandeln, und nach einiger Zeit gewöhnst du dich schon an den Modergestank und die Toten. Und sollte wirklich mal eine Leiche lebendig werden, dann schlägst du halt einfach mit der Fackel oder dem Brecheisen zu.”

 

Ein schneidend kalter Wind heulte durch den Wald aus Steinen, und Kylvan zog Daisha energisch in den Schutz und Schatten einer Mauer. Obwohl der Mond nur als dünne Sichel am Himmel stand, war es hell genug, um von den Wächtern auf den Türmen am Rande des Gräberfeldes entdeckt zu werden, wenn man unvorsichtig war.

Die junge Hochländerin zupfte verlegen an der engsitzenden Jacke und folgte dem Älteren, so wie sie es gelernt hatte. Denn Kylvan hatte ihr nicht nur neue Kleidung gekauft, sondern ihr auch gezeigt, wie man über Ruinen und Trümmerfelder schlich, mit Meißel und Brecheisen umging und auf welche Fallen sie achten mußte. Seine Lehren waren ihr noch gut im Gedächtnis: “Manche der alten Gräber sind sehr gefährlich — ein falscher Schritt und die Gänge brechen zusammen oder du stürzt in eine Fallgrube, in deren Boden spitze Pfähle gerammt sind. Selten dagegen sind herabstürzende Gitter, Pfeile, die aus der Wand schießen, oder gar kippende Türen.”

Bei den Gedanken an die Gefahren lief Daisha ein Schauder über den Rücken, und während sie im Schatten der Mauern und Säulen entlangschlich und über die Felsen kroch, wurde ihr mulmig und hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Bestimmt ging alles schief, und sie…

“Da sind wir”, schreckte Kylvan sie auf. “Das Grab stammt mindestens aus dem silbernen Zeitalter.” Er deutete auf einen halb versunkenen Eingang, etwa fünfzig Schritt vor ihnen.

Daisha schluckte. “Aber da haben wir ja keine Deckung mehr! Die Wächter werden…”

Kylvan schnitt ihr das Wort ab: “Jetzt verlier nicht die Nerven.” Er faßte Daisha hart am Kinn. “Tu einfach das, was ich dir zeige, und alles wird gutgehen!”

“Ja, gut”, druckste Daisha. Bisher war Kylvan sehr geduldig mit ihr gewesen, aber seine Freundlichkeit durfte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sie bloß ausnutzen wollte.

Der ältere Mann ließ ihr Kinn los und strich noch einmal ermutigend über Daishas Wange, ehe er auf allen Vieren aus ihrer Deckung kletterte. Geschickt wie ein Berunt, ein Katzenäffchen der Gaukler, bewegte er sich über den Boden bis zu dem Felsen, in den das Grab eingehauen war.

Daisha holte tief Luft und folgte ihm. Sie fühlte sich schrecklich ungelenkig und steif, während sie auf Händen und Füßen lief. Das Mondlicht erschien ihr plötzlich tausendmal heller als vorhin, und jedes Geräusch, das sie machte, ließ ihre Angst wachsen. Schweißbedeckt kam sie schließlich bei Kylvan an.

“Gut gemacht, meine Kleine! Ich hätte es in meiner Jugend auch nicht besser gekonnt!”

“Da bin ich froh!” Daisha fiel ein Stein vom Herzen. Ihr klopfendes Herz beruhigte sich, während sie sich neugierig umsah. Im Dämmerlicht waren die eingemeißelten Figuren und Ornamente, die den Eingang schmückten, nur undeutlich zu erkennen. Schon früher mußten Grabräuber versucht haben, hier einzudringen, denn am oberen Teil des Eingangs gähnte ihr ein Loch entgegen. Sollte sie etwa da durchkriechen? In die Dunkelheit?

“Verstehst du nun, warum ich dich brauchte? Ich alter Kerl würde stecken bleiben, während du ohne Probleme durchkommst”, bestätigte Kylvan ihre Vermutung. “Soweit ich es mit einem Stock ertasten konnte, ist es dahinter auch sicher, und du… Warte! Nicht so schnell!”

Um es hinter sich zu bringen, ehe ihre Angst wieder wuchs, wollte Daisha bereits mit dem Oberkörper voran in die Dunkelheit kriechen. “Niemals mit dem Kopf zuerst, sondern immer mit den Beinen! So kannst du dich immer noch festhalten; andersherum fällst du schmerzhaft, wenn du deinen Schwerpunkt überschritten hast.” Er kniff ihr in die Hüfte. “Und der liegt ungefähr hier!”

“Ich wird’ dran denken!” preßte Daisha hervor, krampfhaft ihr Zittern unterdrückend. Während Kylvan ihr half, mit den Beinen voran in das Loch zu kriechen, hatte sie das Gefühl, direkt in den Rachen eines Kylcar zu kriechen. Anfangs fanden ihre Füße tatsächlich keinen Halt, und erst als sie die Hüfte durch das Loch gezwängt hatte, berührten ihre Zehen den Boden. Irgendetwas zerbrach knirschend, als sie ihren Fuß darauf setzte.

“Keine Angst, das sind sicher nur die Reste eines vorigen Versuches”, erklärte Kylvan gelassen. Er half Daisha, auch den Rest ihres Körpers durch die Öffnung zu zwängen, dann stand sie allein in dem Grab. Während sie sich an den Rändern des Loches festhielt, jagten ihr die wildesten Vorstellungen durch den Kopf, was sie wohl zertreten hatte. Um sich abzulenken, fragte sie: “Und was geschieht jetzt? Willst du das Loch verbreitern?”

“Nein.” Kylvan schüttelte belustigt den Kopf, während er ihr Brecheisen und Meißel reichte, um dann mit Feuerstein und Zunder herumzuhantieren. “Glaubst du, ich bin so verrückt, die Grabwächter einzuladen, indem ich eine massive Steinplatte aufschlage? Nein, mein Kind. Du wirst dieses Grab allein erforschen!”

“Aber ich habe das doch noch nie gemacht. Ich kann das gar nicht!”

Der alte Grabräuber drückte ihr die aufflammende Fackel in die Hand. “Ich habe dir alles gezeigt, was du wissen mußt, Daisha. Mehr gibt es nicht zu wissen, den Rest kannst du nur lernen, indem du es tust. Du bist besonnen und klug, das sind zwar schlechte Eigenschaften für einen Dieb, aber gute für unseresgleichen. Du wirst es schon schaffen! Und wenn du zurück bist, dann werde ich dich fortan als meine Partnerin betrachten und die Schätze gerecht mit dir teilen.”

Daisha biß sich auf die Lippen. Sie war sich da gar nicht so sicher. Bestimmt tappte sie in eine Falle wie… der arme Kerl am Boden, dessen Beckenknochen sie zertreten hatte. Schnell wandte sie ihren Blick von dem grinsenden Totenschädel ab und leuchtete den Eingang aus. Herabgefallene Steine bedeckten die ersten Stufen einer Treppe, die geradewegs in die Tiefe zu der Grabkammer führte.

“Nun geh schon”, ermunterte Kylvan sie. “Und sei lieber dreimal vorsichtig, als einmal leichtsinnig.”

Nach einem letzten Blick auf den Mann setzte sich Daisha in Bewegung. Scheu wich sie dem Skelett aus, ehe sie die grob behauenen, aber breiten Stufen hinabstieg. Ob der alte Grabräuber seine Worte wirklich ernst meinte? Nun, sie würde es nur erfahren, wenn sie diese Prüfung überstand…

Vorsichtig setzte sie Fuß vor Fuß, und mehr als einmal strich sie nervös ihre rotbraunen Haare zurück. Die Gänge und Höhlen, durch die sie in ihrer Kindheit mit ihrem ältesten Bruder gekrochen war, erschienen ihr weniger unheimlich als dieses Steingrab. Im Schein der Fackel glitzerten die Wände feucht, und Daisha hütete sich davor, sie zu berühren. Bestimmt war das herabtropfende Wasser mit giftigen Stoffen versetzt, die sie langsam und qualvoll töten würden…

Plötzlich blieb sie stehen. Dort auf dem Boden war ein dunkler Fleck — das war bestimmt eine Falle! Wachsam kauerte Daisha sich nieder und zog das Brecheisen aus dem Gürtel. Dann klopfte sie auf die Stelle, duckte sich… und nichts geschah. Mutiger geworden kratzte sie auf dem Fleck herum, wartete wieder ab — und stöhnte erleichtert auf, als sie im Schein der Fackel Rostkrümel an ihrem Brecheisen erkannte: Der Fleck war bloß eine völlig verrostete Eisenmünze!

Daisha erhob sich und machte einen Schritt vorwärts. Sie hielt die Luft an, aber als sie ungehindert weitergehen konnte, wich die Anspannung. Sie wurde mutiger. Nach ein paar weiteren Stufen öffnete sich die Treppe zu einem Raum, doch ehe sie dort eintrat, leuchtete sie ihre Umgebung aus. Der Boden bestand aus gestampftem Erdreich, und die Wände waren zwar vermauert, der Putz an vielen Stellen jedoch schon abgebröckelt. Nur vereinzelt konnte sie Schriftzeichen und Bruchstücke von Bildern erkennen.

Daisha spannte sich an. Ihre Haut begann zu prickeln. Spielten ihre Sinne verrückt, oder streifte sie wirklich ein kalter Luftzug?

Furcht beschlich sie. Was, wenn die Geschichtenerzähler doch recht hatten und die rachsüchtigen Geister der Toten die Grabstätten bewachten? Unschlüssig leckte sich das Mädchen über die trockenen Lippen. Zurück konnte sie nicht mehr. Trotz seiner Freundlichkeit traute sie Kylvan zu, daß er sie töten würde, wenn sie jetzt versagte. Aber was hatte sie überhaupt zu verlieren? Selbst wenn sie Erfolg hatte und Schätze fand, sie wußte nicht, wie er sie danach behandeln würde.

So holte Daisha tief Luft und machte einen Schritt in den Raum hinein. Ein kalter Luftzug ließ sie frösteln, aber ihre Atemzüge und das Knistern der Flammen blieben die einzigen Geräusche. Ihr fiel auf, daß dieser Raum seltsam leer war. Hatte Kylvan ihr nicht erzählt, daß viele der Fürsten einen Teil ihrer Habe mit ins Grab nahmen, als Zeichen ihres Reichtums? Mißtrauisch trat sie näher an eine der Wände heran.

“Frau — fre… nein!” versuchte sie die Schriftzeichen zu entziffern, aber es war schon zu lange her, daß sie Lesen gelernt hatte. Das war in einem anderen Leben gewesen — lange vor den Gauklern und Yjan-Calliorn.

Ehe sie die Erinnerung an das Elternhaus, aus dem sie vor fünf Jahren weggelaufen war, einholen konnte, wandte sich Daisha dem Durchgang auf der anderen Seite des Raumes zu. Langsam näherte sie sich der Öffnung und leuchtete in den dahinter liegenden Gang, der an einer steinernen Tür endete. Sie hielt nach den Fallen, vor denen sie Kylvan gewarnt hatte, Ausschau, aber als sie keine fand, stieß sie mit dem Brecheisen gegen die Tür. Die Steinplatte bewegte sich überraschend leicht, und Daisha konnte in den dahinterliegenden Raum spähen.

In der Mitte der Grabkammer stützten vier Säulen die Decke und zwischen ihnen, auf einer etwas erhöhten Plattform, lag eine reglose Gestalt auf einem Podest. Die junge Hochländerin sah sich um. Keine Grabbeigaben? Keine Waffen, keine Gefäße, nicht einmal Schmuck? Auf den verputzten Wänden waren nur Schriftzeichen und einzelne Symbole zu erkennen.

Daisha seufzte. Oh, wie sollte sie das nur Kylvan erklären? Verzweifelt nahm sie allen Mut zusammen. Sie konnte und sie wollte nicht mit leeren Händen zurückkommen! Sie betrat eine der Steinplatten, die den Boden bedeckten, und Panik sauste durch ihre Glieder, als sie sich erinnerte, damit eine der wichtigsten Regeln übersehen zu haben.

“Ach was”, schnaubte sie und schob eine widerspenstige Haarsträhne zurück. “Warum mache ich mir eigentlich so viele Gedanken?” Sie schritt an den Wänden entlang und betrachtete die Zeichen, aber die meisten waren ihr fremd, und sie konnte nur raten, was sie bedeuten mochten. Als ihr Blick jedoch auf eine weißblaue Flamme fiel, zuckte sie zusammen und drehte sich zu der Plattform um. Das Zeichen war in Yjan-Calliorn allgegenwärtig, und es verriet ihr alles.

“Bei Ylcars allsehenden Augen! Das darf doch nicht wahr sein!” Daisha wurde heiß und kalt, als sie an die Säulen herantrat und das Podest beleuchtete. Der Tote lag mit ausgestreckten Gliedern da, und seine eingefallene Haut war so grau wie der Stein, auf dem er lag. Der Kopf- und Brustschmuck war schwarz angelaufen, aber die darauf eingesetzten weißen und blauen Edelsteine glänzten matt im Schein der Fackeln, ebenso wie die beiden breiten Bänder, die die Handgelenke umschlossen, und ein schmaler Stirnreif mit einem eingesetzten Edelstein.

“Das ist doch ein Priester! Das ist doppelter Grabfrevel”, schluchzte Daisha. Sie umklammerte die Fackel fester und kämpfte mit ihrer Angst. Übelkeit stieg in ihr hoch, sie glaubte, sich übergeben zu müssen, doch dann erfaßte sie plötzlich eiskalte Ruhe.

Was habe ich zu verlieren? raunte ihr eine innere Stimme zu. Ich bin doch nur ein Nichts ohne Familie, ohne Freunde, das von jedem herumgeschubst wird. Da kann ich auch doppelten Grabfrevel begehen. Erst zwei, drei Mal zuvor hatte sie ähnliche Gedanken gehegt, und dadurch waren ihr Dinge gelungen, die sie sich sonst nie getraut hätte: Sie war von zu Hause fortgelaufen, sie hatte sich gegen die Zudringlichkeiten eines weitaus stärkeren Mannes gewehrt, und ihre Beute gegen eine Horde Straßenkinder verteidigt, als sie glaubte, vor Hunger zu sterben. Wenn man sie nur weit genug trieb…

Daisha stieg auf die Plattform und betrachtete den mumifizierten Toten, während sie den Beutel hervornestelte, den ihr Kylvan mitgegeben hatte, und auf dem Podest abstellte. Das zu Leder gewordene Gesicht des Mannes war verzerrt, als sei er nicht freiwillig gestorben. Das war kein gutes Zeichen! Die junge Hochländerin zögerte einen Moment, dann zupfte sie mit spitzen Fingern an dem Kopfschmuck. Der Stoff zerbröckelte unter ihren Händen, und sie konnte die silbernen Verzierungen und Edelsteine ganz leicht abnehmen. Der Brustschmuck zerfiel ebenfalls in seine Einzelteile, die Daisha flink zusammenklaubte, ehe sie sich dem Stirnreif näherte.

Plötzlich wurde es ihr unheimlich, denn das Schmuckstück ließ sich nicht so leicht lösen, und sie japste erschreckt, als sie das Loch in der Stirn der Mumie sah. So also war der Priester ums Leben gekommen! Man hatte ihm einen langen Edelsteinsplitter in den Kopf getrieben! Aber wer hatte ihm das angetan? Die Diener Ylcars waren doch sonst über jeden Zweifel erhaben.

“Ach, die sind doch auch nur Menschen”, beruhigte sich Daisha und faßte nach dem Armreif. Als sie ihn vorsichtig abziehen wollte, brach die Hand ab und fiel vom Podest. Es klatschte und knirschte.

Das Mädchen hielt die Luft an und bewegte sich nicht. Ihr war plötzlich, als hätten sich die Finger der Mumie verkrümmt. Gehetzt blickte sie zu dem Toten. Und der Kopf? War er nun nicht ein wenig mehr zur Seite geneigt, die Lider leicht geöffnet?

Mit einem Aufschrei hieb Daisha mit der Fackel in Richtung der Leiche, raffte den Beutel an sich und nahm die Beine in die Hand. Mindestens dreimal so schnell wie sie heruntergegangen war, eilte sie die Treppe hinauf und wurde erst langsamer, als sie den das Einstiegsloch erreichte.

“Langsam, langsam. Du hast es ja so eilig, als wäre eine Horde Toter hinter dir her!” Kylvan nahm Daisha die Fackel aus der Hand und löschte sie mit einer schnellen Bewegung.

“Da ist… das ist…” stammelte Daisha, während sie sich durch das Loch zwängte.

“Verdammt, nicht so laut!” Der ältere Mann hielt Daisha den Mund zu, während er ihr den Beutel wegnahm und hinter sich legte. Dann erst half er ihr hinaus. “Das kannst du mir später erzählen, wenn wir uns deine Beute ansehen! Komm jetzt, wir müssen hier weg, denn es wird bald hell!”

Daishas Augen weiteten sich. War sie so lange in dem Grab gewesen? Ihr war es nur wie Augenblicke vorgekommen…

 

Der Lärm der Straße klang nur dumpf herauf in ihr Versteck im Dachgeschoß einer Schenke. Eine kleine Luke spendete gerade genug Licht, so daß Kylvan ihre Beutestücke begutachten konnte. Er wirkte sehr zufrieden, als er die Edelsteine ins Licht hielt.

“Ein Priestergrab sagst du?” Er zog eine Augenbraue hoch. “Dann bist du mutiger als ich. Einen Ylcarknecht hätte ich nicht angerührt; meine Eltern haben mir die Ehrfurcht vor den ehrwürdigen und erhabenen Vätern kräftig genug eingeprügelt! Gut, daß ihr Hochländer halbe Heiden seid.” Er strich über die Silberplättchen. “Die werden wir polieren, ehe wir sie wie die Edelsteine verkaufen. Du bekommst wie versprochen die Hälfte des Erlöses, denn du bist von jetzt ab mein Partner. Allerdings mußt du dir nun deine eigene Ausrüstung kaufen.” Er zwinkerte ihr zu.

Daisha wurde rot vor Stolz. Ihr Mißtrauen vor Kylvan war gewichen, als er sie wieder sicher nach Yjan-Calliorn zurückgeführt und keine Anstalten gemacht hatte, sich ihrer zu entledigen. Und jetzt würde er sie an der Beute beteiligen und als gleichwertige Hilfe betrachten! Sie trat an die Luke und blickte hinaus ins Licht. Nach dem muffigen Grab erschien ihr die von Essen, Rauch und Ausdünstungen stinkende Luft Yjan-Calliorns wie eine frische Brise im sommerlichen Hochland. Zum ersten Mal, seit sie in die Stadt gekommen war, fühlte sie sich glücklich. Mit der Grabräuberei hatte sie endlich eine Arbeit gefunden, die ihr Selbstvertrauen gab — und das durch Kylvans Lob noch gestärkt wurde.

Sie schloß die Augen und ließ noch einmal das Geschehen im Grab durch ihren Kopf laufen. Wie ängstlich sie doch gewesen war… Dabei war in dem Grab nichts gewesen, bis vielleicht… Ein Frösteln erfaßte Daisha, als sie für einen Moment glaubte, drunten im Grab noch einen erleichterten, befreiten Seufzer gehört zu haben….

Ach, Unsinn! Die junge Hochländerin öffnete die Augen und strich ihr Haar zurück. Das bin ich bestimmt selber gewesen! Und wenn schon, er ist ja nicht hinter mir her gekommen! Kylvan hat recht: Einfach mit der Fackel oder dem Brecheisen zuschlagen — und die Mumie wäre auseinandergebrochen, so mürbe wie die war! Ich bilde mir nur bloß ein, daß sich die Leiche gerührt hat, und das ist kindisch.

Ihre Angst wich Neugier und Entschlossenheit. Sie würde Kylvan, und vor allem sich selber, nicht enttäuschen! Daisha lächelte befreit. Sie würde sich durch nichts und niemanden mehr erschrecken lassen und eines Tages ihr Glück durch den Grabraub machen!

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404191335289d73c174
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Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.

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Erstellt: 03.02.2006, zuletzt aktualisiert: 27.09.2016 09:58, 1828