House of Leaves
Rezension von Oliver Kotowski
Rezension:
"Ob ich Johnny kenn'? Klar, das is' doch der Typ, der immer mit dem Lude durch die Bars zieht, jede Menge Babes aufreißt und stets auf'm Trip is'. Wusstest du, dass er so 'ne japanische Kampfkunst kann – er hat mir sogar die Narben gezeigt…" – "Stimmt nich'? – Is' nich' wahr!" – "Nee, ich habe den jetzt schon 'ne ganze Zeit nich' gesehen; mindestens seit der BMW-Tussi ihr Macker aus Danzig wieder da ist." – "Ja, wo du mich drauf bringst: 'N bisschen komisch is' er schon geworden; sah beim letzten Mal aus wie frisch aus 'm KZ. Sein Boss vom Tattoo-Shop – da, wo er arbeitet – hat mir gesagt, dass er von so 'nem alten Knacker – ich glaub' der hieß Zampanò – 'n unfertiges Buch gekriegt hat, das er jetzt fertig schreibt. So 'n Tatsachenbericht wie in X-Faktor mit dem Schauspieler von Commander Riker von 'ner Enterprise, weißt de? Da geht es um so 'nem Fotographen, Will Navidson; der hatte 'n verreckendes Mädchen im Sudan geknipst und dafür 'n wichtigen Preis und fett Kohle und so kassiert. Na, jedenfalls er und seine Familie, er hat 'ne Frau, 'n superschickes Ex-Model, und zwei Kinder, haben sich 'n Haus gekauft. Anfangs geht auch alles klar, saubere Welt, heile Familie und so. Dann aber kommen die von 'nem Wochenendtrip zurück und haben 'n neues Zimmer. Navidson misst nach und was Ulkiges kommt raus: Das Haus is' innen größer als außen. Und dann finden die einen Korridor, der – denk' dir mal! – zu massenhaft schwarze und leere Räume führt. Da rufen die denn 'n Spezialistenteam, die das auskundschaften sollen. Und da wird's denn echt fies."
Danielewskis Werk ist, grob gesagt, wie eine Zwiebel aufgebaut. Im Kern steht eine 'bloß' ungewöhnliche Gruselgeschichte. Der Fotojournalist Will Navidson zieht mit Frau Karen und den Kindern Daisy und Chad in einem Haus in Virginia ein. Um die Beziehung zu kitten. Da Navidson ein Arbeitsmensch ist, plant er aus dieser Inbesitznahme eine Dokumentation zu machen: Wie eine gewöhnliche Familie sich in einem neuen Haus ein gemütliches Nest einrichtet. Um etwas Abstand zu den riskanten Reisen in Krisengebiete und dem dort allgegenwärtigen Leid zu bekommen. Für diese neue Dokumentation stattet er sich und Karen mit Kameras aus und installiert in jeden Raum weitere – es gibt in dem Haus nur wenig Privatsphäre. Dann geschieht das Unfassbare: Ein neuer Raum taucht plötzlich auf. Das Haus ist innen größer als außen. Navidson holt sich zunächst seinen Bruder Tom und dann seinen Bekannten Billy Reston, ein Uni-Professor, zu Hilfe, doch beide können letztlich nicht weiter helfen. Als dann ein Flur auftaucht, der in ein Labyrinth aus Korridoren und Räumen mündet, wird der Abenteurer und Entdecker Holloway Roberts und sein Team gerufen. Diese beginnen das Haus zu erforschen. Zunächst ist der Einfluss des Hauses auf die Menschen noch gering, doch im Laufe der Zeit nimmt er immer stärker zu – er wird außerdem immer gefährlicher.
Soweit ist es eine "Haunted House"-Geschichte, deren Stoff für eine Erzählung oder einen Kurzroman reicht; vielleicht mit Shirley Jacksons Spuk in Hill House, Stephen Kings Shining oder eher noch H. P. Lovecrafts Träume im Hexenhaus vergleichbar. Doch diese Handlungsebene bleibt dem Leser verborgen.
Unter der Ägide Navidsons werden die Ereignisse dokumentiert. Das Ergebnis ist als der Navidson Record bekannt. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Dokumentation eben nicht unmittelbar die Wahrheit wiedergibt; dieses weder will noch kann. Schnitte, Einstellungen und Kommentare können die Sicht massiv beeinflussen. Außerdem kann Bildmaterial digital oder anders wie manipuliert werden. Doch der Leser sieht keinen Film, er liest ein Buch – daher ist auch diese zweite Ebene nicht zugänglich. Dieses übersieht man allerdings beizeiten. Wäre sie es, so würde sie zweifellos stark an den Film Blair Witch Project erinnern.
Hier kommt Zampanò ins Spiel; der war ein alter, blinder Mann, der über Jahre hinweg an einer Aufarbeitung des Filmes und dessen Rezeptionsgeschichte gearbeitet hat. Schließlich entschied er sich aber gegen eine Veröffentlichung – und starb unter mysteriösen Umständen: Er hatte viele Schlösser an seiner Tür angebracht, obwohl er weder um sein Leben (er ging nachts alleine spazieren) oder sein Eigentum (er besaß nichts stehlenswertes) fürchtete, die vielen Katzen verschwanden plötzlich und im Boden, auf dem er lag, fanden sich eigenartige Kratzer – wie von einer großen Klaue. Zampanò erzählt nicht nur die einzelnen Szenen des Films (genauer gesagt: Der Filme, denn es sind anscheinend ein paar Trailer und unautorisiert geschnittene Versionen aufgeführt worden) nach, er wartet auch mit allerlei Zusatzinformationen auf. So fügt er Interpretationen der Filmsequenzen von gelehrten und sonst wie berufenen Autoren, biographisches Hintergrundmaterial zu den Protagonisten des Films und ganz allgemeine Erläuterungen hinzu.
Die Funktionen dieser Einsprengsel sind vielfältig: Sie charakterisieren die Figuren, sie nehmen Fahrt aus der Erzählung, sie erzeugen Authentizität – und sie sind dunkle Vorausdeutungen, die gleichzeitig die Wirkung der Ereignisse verstärken. Wenn nach einer aufregenden Entdeckung ein langer Einschub über Echos – ihre Funktion in Geschichten und physikalische Erklärung – folgt, dann wird damit die folgende Szene sehr geschickt vorbereitet: Der Leser kann erahnen, dass ein Echo eine Rolle spielen wird – und welcher Art sie sein wird; die langwierige und umständliche Erklärung lässt den Leser quasi in den Leerlauf zurückfallen und dann aber, dank der Vorbereitung, rasant das Tempo wieder anziehen, wenn es weiter geht – und eine bloße Andeutung reicht aus, damit der Leser das Ausmaß des Folgenden erfassen kann.
Eine literarische Entsprechung ist mir unbekannt; anscheinend hat der Leser einen direkten Zugang zu dieser dritten Ebene, welche den Großteil des Buchs ausmacht.
Dieses Material wird von Johnny Truant herausgegeben. Er ordnet die Seiten, die Fußnoten und das Begleitmaterial. Weiter fügt er noch einige Tagebucheinträge Zampanòs, bizarre Gedichte über Pelikane und dergleichen bei um ein Bild des Alten zu vermitteln. Das meiste zitierte Material, so merkt er an, sei von Zampanò erfunden. Doch – Nomen est Omen – dabei bleibt es nicht: Truant hat den Text manipuliert. So ergänzt er hin und wieder einzelne Worte. Und er erzählt von sich selbst und seinen Eskapaden. Er ist ein hipper junger Kerl, der allabendlich mit Lude, einem Szenefrisör, auf den angesagtesten Partys von L. A. einen drauf macht, eine Pille E einwirft oder eine Bong inhaliert und dann die holde Weiblichkeit abschleppt. Oh, und so viel sei verraten: Es wird gevögelt, bis es von der Decke tropft – ob Bett- oder Zimmerdecke lasse ich hier mal offen. Um an die Bettgenossinnen heranzukommen erzählt er gerne mal eine Lügengeschichte: Seine Narben an den Unterarmen stammen aus einer Kampfschule und sein Schneidezahn wurde bei einem Bare-Knuckle-Fight abgebrochen. Die Wahrheit will sowieso niemand wissen. Die liegt in seiner abenteuerlichen Vergangenheit voller Missbrauch und Gewalt. Außerdem wurde seine Mutter in eine psychiatrische Anstalt gebracht. Aber Johnny erzählt nicht nur von Partys, Drogenexzessen und schnellen Nummern, er erzählt auch von seiner armseligen Arbeit im Tattoo-Shop und der Stripperin Thumper, in die er völlig verschossen ist. Und davon, wie sich sein Leben nach und nach ändert, seit er mit Zampanòs Text arbeitet, wie er sich verfolgt fühlt und nachts von Alpträumen voller Verstümmelungen schreiend aufwacht. Zu dieser Ebene gehören noch ein paar Dokumente die Johnny betreffen, wie etwa die Briefe seiner Mutter aus der Psychiatrie.
Doch diese vierte Ebene, die wiederum anscheinend dem Leser direkt zugänglich ist, weist zuweilen eigenartige Parallelen zu den vorigen Ebenen auf. Projiziert der psychisch labile Junkie Johnny seine Situation in die Aufzeichnungen des Alten – oder dringt das Haus über die Aufzeichnungen in Johnnys Leben?
Als fünfte und letzte (mir aufgefallene) Ebene bleiben noch die wenigen Einwürfe der Herausgeber. Hierbei handelt es sich anscheinend um objektive Richtigstellungen – wie ein kleiner fremdsprachlicher Text zu übersetzten ist, woher ein Zitat stammt und Ähnliches.
Wäre das alles, dann wäre Das Haus eine komplexere Variante von Vladimir Nabokovs Fahles Feuer oder der Kurzgeschichten von J. L. Borges wie Das Haus des Asterion (in: Das Aleph) oder Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (in: Fiktionen) (und natürlich ist der blinde Zampanò eine Anspielung auf den blinden Borges selbst). Dieser Aspekt ähnelt wohl am meisten der tiefen Unentschlossenheit, die der Leser von Stanislaw Lems Solaris erfährt: Dort trifft der Leser mit dem Protagonisten Kelvin auf ein fremdes Etwas, das die Wissenschaftler in den Wahnsinn treibt. Warum es das macht oder ob es überhaupt Motive haben kann, bleibt unbegreiflich. Auch Danielewski bietet auf den ersten vier Ebenen zahllose Erklärungen an – eine eindeutige jedoch nicht. Womit es sich auch für T. Todorovs minimalistische Phantastik qualifiziert. Doch Danielewski spielt nicht nur mit dem Inhalt, er spielt auch mit der Form: Die nacherzählten Filmszenen bemühen sich um Natürlichkeit, Zampanòs Aufarbeitung um Wissenschaftlichkeit (natürlich mit Fußnoten) und Johnnys Einschübe sind oftmals sehr wirr und verräterisch. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt Anhänge, einen Index, die Briefe der Mutter sind zum Teil kodiert, Manches ist auch durchgestrichen, die Anordnung des Textes versucht das Thema des Kapitels bzw. der Szene einzufangen – Das Kapitel, welches das Labyrinth behandelt, weist eine so komplizierte Textstruktur auf, dass der Leser vermeinen mag einen dreidimensionalen Text zu lesen: Teile scheinen sich wie ein Tunnel in die Seiten hinein zu bohren. (Höre ich mich ein wenig an wie Johnny? Seht euch vor, das macht Das Haus mit euch!) Lest das Buch nicht in der U-Bahn: Wenn ihr es ständig in den Händen dreht und darin herum blättert, könnte es scheinen als ob ihr nichts mit Büchern anzufangen wüsstet. Bilder gibt es selbstverständlich auch – sogar einen einseitigen Comic – und verschiedene Schriftarten, die nicht nur dem Leser verdeutlichen, welche Ebene gerade verhandelt wird, sondern auch darüber hinaus eine Bedeutung haben: Johnnys Schriftart heißt "Courier". Mir ist noch kein Buch begegnet, das mehr mit typographischen Möglichkeiten gespielt hätte – einiges scheint mir wirklich neu zu sein.
Fazit:
Was liest der Leser? Von Navidsons Erlebnissen in einem Spukhaus oder dem Zeugnis einer Massenhysterie, von Zampanòs großen Schwindel oder Johnnys Phanstasien? Wer einen glatten Horrorroman zur Feierabendlektüre will, der sollte die Widmung beherzigen: "Das hier ist nicht für euch." Es ist für Menschen, die Jeff VanderMeers Mosaikroman Stadt der Heiligen und Verrückten und Filme von David Lynch mögen, die gerne nach verdeckten Anspielungen schauen und Rätsel lösen, ja Spaß an der Verzwicktheit der Postmoderne selbst haben. Es ist ein Buch für literarische Abenteurer und Entdecker.
"Und falls Sie irgendwann einmal zufällig an diesem Haus vorbeikommen sollten, bleiben Sie nicht stehen, gehen Sie auch nicht langsamer, sondern gehen Sie einfach weiter. Da ist nichts. Seien Sie vorsichtig…" ist auf dem Buchumschlag zu lesen. Wir alle wissen, wie solche Warnungen wirken. Unbarmherzig wird man gezwungen, einen Blick in dieses House of Leaves zu werfen – und wenn es für dich ist, dann hoffe, dass du ein Theseus bist.