Druckversion: Das Leben der Wünsche (Autor: Thomas Glavinic)

Das Leben der Wünsche von Thomas Glavinic

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Ein Fremder spricht Jonas an. Anfangs hat Jonas kein Interesse, doch der seltsame Mann weiß so einiges über Jonas – dass Jonas mit Helen verheiratet ist, zwei Söhne, Tom und Chris, und eine Geliebte, Marie, hat. Jonas fürchtet Erpressung und hört sich erstmal an, was der Weisgekleidete zu sagen hat. Der offenbart, dass er Jonas drei Wünsche erfüllen will. Zunächst albert Jonas herum, doch der Fremde bleibt unbeeindruckt. Jonas äußert einige Fragen, die ihn wirklich bewegen. So will er mehr über den Tod wissen. Doch dann wünscht er sich ganz neunmalklug, dass alle seine Wünsche in Erfüllung gehen mögen – der Fremde lacht: Wunderbar! Nur zwei Dinge. Jonas solle den Wünschen etwas Zeit zum Entfalten geben und er könne sich keine anderen Wünsche wünschen. Störrisch äußert Jonas den Wunsch, der Fremde möge mit einer Kinderschaufel im Hintern über den Spielplatz tanzen, und erhält zur Antwort, dass Jonas es immer noch falsch verstehe – es gehe nicht darum, was er wolle, sondern um echtes Verlangen. In der nächsten Zeit bleibt alles beim Alten, doch nach und nach gelingen ihm verschiedene Projekte, so steigen seine Aktien – und er erfährt mehr über den Tod.

 

Die Geschichte ereignet sich weitgehend in einer namenlosen deutschen Stadt. Es gibt einen Fluss und die Berge sind in der Nähe, mehr weiß man nicht. Das Leben in dieser Stadt scheint sich von dem in anderen deutschen Städten nicht zu unterscheiden: Es gibt Kioske und Boulevard-Zeitungen, Unfälle und Staus, Agenturen für Werbetexter und professionelle Ballonfahrer. Der Alltag ist im Informationszeitalter angekommen – Handys und SMS, PC und Internet sind nicht mehr wegzudenken.

Das Setting wird kaum über das Notwendigste hinaus entwickelt – das Wenige aber ist fest mit den Figuren und dem Plot verknüpft; es ist daher ein Milieu.

Es gibt zwar nur ein phantastisches Element, das bestimmt dafür auch den Roman: Jonas' Wünsche werden wahr. Anfangs wirkt noch alles wie Zufall – ein Herzinfarkt, ein fataler Raubüberfall, steigende Aktienkurse – aber im Laufe der Zeit wird das Geschehen immer krasser und zum Teil auch recht surrealistisch. Ob das phantastische Element nun zur Fantasy oder zur SF gehört, bleibt unklar – Jonas rätselt, ob Gott oder ein Programmierer sein Leben manipuliert – sicher ist nur, dass es der Wirkung nach zum Horror gehört.

 

Die Geschichte dreht sich um Jonas. Jonas scheint ein Durchschnittstyp zu sein. Er ist fünfunddreißig Jahre alt, verheiratet, hat zwei Kindern und einen langweiligen Job als Werbetexter; das einzige Abenteuer, dass er sich leistet, ist sein Spiel mit Aktien. Doch da ist mehr. Er hat eine Geliebte. Er macht ungewöhnliche Fotos, in denen er den Augenblick einzufangen versucht. Er kennt das Passwort seines Chefs. Er unterhält eine enge Beziehung zu einer Ex-Freundin. Schon in diesen Eigenheiten spiegelt sich eine gewisse Zerrissenheit wider – diese wird im Laufe des Romans sorgfältig und behutsam erkundet. Es stellt sich heraus, dass Jonas "den Kuchen essen und zugleich behalten will" – er wird zwangsläufig scheitern. Da er etwas über den Tod erfahren will, wird er sich Sterben, Sterbende und Tote ansehen müssen. Er wird Leid sehen, auch wenn er es nicht ertragen kann.

Neben Jonas gibt es natürlich noch weitere Figuren – Helen, Tom und Chris, sehr wichtig ist noch seine Geliebte Marie, aber auch seine unter Leberkrebs leidende Ex-Freundin Anne und einige weitere. Diese Figuren sind zwar ebenfalls vielschichtig und rund, aber wesentlich skizzenhafter ausgeführt als Jonas.

 

Der Plot ist eine relativ schnörkellose Entwicklungsgeschichte. Jonas, der Durchschnittstyp, wird langsam aus seinem Alltag herausgebrochen, weil ihm sein innerstes Begehren erfüllt wird. Dieses Begehren wird zumeist vom Es (im Sinne Freuds), Jonas' unterbewussten, kreatürlichsten Seelenteil formuliert. Er will Erfolg, er will Anerkennung – seine Aktien steigen, alle Frauen in seinem Umfeld beginnen, mit ihm zu flirten. Er will mehr über den Tod erfahren – er sieht die Liveübertragung verunglückter Gondelfahrer im Fernsehen, und noch während er sagt, er hoffe, sie werden gerettet, stürzen sie in den Tod. Er will mehr Zeit mit Marie verbringen, ohne seine Kinder zu verlassen (die bei einer Scheidung natürlich bei seiner Frau bleiben würden) – Helen stirbt. Hier stellt sich krass heraus, dass die Wünsche des Es mit den Zielen des Über-Ichs kollidieren können – Jonas trauert lange um seine Frau. Sie fehlt ihm. Sein Umfeld wird immer mehr von den Wünschen des Es verformt – es stößt sein Über-Ich ab. Die Wünsche bringen Jonas immer mehr in seelische Bedrängnis: Er verabscheut sie, er hat sie nicht unter Kontrolle – und es sind nicht die Wünsche eines fremden Ungeheuers, es sind seine Wünsche. In dieser Hinsicht funktioniert die Geschichte als Horror-Roman.

Die drei Wünsche sind als Thema natürlich vor allem aus Märchen bekannt: Der Fischer und seine Frau und Drei Wünsche sind nur zwei bekannte von vielen. Aber während in den Märchen üblicherweise das Wünschen zu nichts führt, weil es den Wünschenden an Verstand mangelt, werden die Wünsche Jonas' zu etwas führen. Aus der differenten Form gehen die größten Unterschiede hervor: Der Roman ist im Gegensatz zu den Märchen nicht humoristisch angelegt und Jonas hat eine Psyche.

Es ist noch eine weitere intertextuelle Verbindung zu erwähnen: Jonas heißt auch die Hauptfigur aus Die Arbeit der Nacht und auch dessen Geliebte heißt Marie. Vielleicht ist es ein Hinweis auf die Computersimulationsmetapher: Jonas wird von Programmierern in immer wieder neue Situationen gebracht, weil man die Reaktionen auf entfremdende Extremsituationen testen will. (Oder ist es doch der Täuschergott Descartes'? Von hier ist der Schritt zu Hilary Putnams Reason, Truth and History und von dort wiederum zu Stanislaw Lems Sterntagebücher nicht groß. Vielleicht enthüllen kommende Versuchsreihen mit Jonas ja mehr über die Tester.)

Der Plotfluss ist scheinbar langsam – die Wünsche werden nach und nach wirksam und die Veränderungen in Jonas' Charakter zeichnen sich behutsam und feinfühlig in einem veränderten Verhalten ab; darum ist der Fluss auch nur scheinbar langsam, denn für das Thema eignet sich eben der schleichende Verfall viel besser als ein plötzliches Zusammenbrechen.

An dieser Stelle will ich ein gewisses Unverständnis nicht verhehlen: Es erschließt sich mir nicht, worin der Wert des dritten Abschnitts liegt (der Roman hat drei Abschnitte, die beiden ersten füllen etwa drei Viertel des Romans). Sicher er liest sich genauso gut wie die vorherigen und bleibt interessant, aber der Plot scheint mir nur marginal voranzukommen und daher fällt er meines Erachtens in der Wirkung etwas ab.

 

Erzähltechnisch ist der Roman eher konservativ, was aber aufgrund zweier Besonderheiten anders wirkt. Es gibt nur einen Erzählstrang, der konsequent aus der personalen Perspektive Jonas' geschildert wird. Die Handlung ist progressiv und weitgehend disillusionierend. Eigentlich ist sie dramatisch, da es aber einige Sprünge gibt, wirkt sie bisweilen episodisch. Der Stil ist gehobene Alltagssprache mit vulgären Einsprengseln, die in erster Linie bei der Schilderung sexueller Aktivitäten Verwendung finden – Jonas' "Schwanz" erfährt einige Aufmerksamkeit. Da Glavinic weitgehend auf Adjektive verzichtet, wirkt es sehr nüchtern. Die Sätze sind zwar recht variantenreich, neigen aber klar zur Kürze.

Nun zu den zwei Besonderheiten. Zum einen sind die Kapitel teilweise recht kurz – das letzte zählt eigentlich nur drei Zeilen. Mit der Länge bzw. Kürze versucht Glavinic, den von Jonas empfundenen Zeitfluss einzufangen. Und dann verzichtet der Autor auf Anführungszeichen bei der wörtlichen Figurenrede. Das macht es bisweilen etwas schwer, die verschiedenen Ebenen – Rede oder Gedanken usw. – auseinanderzuhalten und könnte als Hinweis auf Jonas' Vorstellung, eine Computersimulation zu sein, verstanden werden.

 

Fazit:

Ein Fremder gewährt Jonas drei Wünsche – unvorsichtigerweise wünscht Jonas sich, dass all' seine Wünsche in Erfüllung gehen mögen. Doch was Jonas wirklich begehrt, ist nicht immer das, was er ertragen kann. Thomas Glavinic hat mit Das Leben der Wünsche das altbekannte Thema der drei Wünsche aufgegriffen und in Form der horriblen Entwicklungsgeschichte Jonas' verarbeitet; trotz des seltsamen dritten Abschnitts einer der beeindruckendsten Romane des Jahres.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240420004630d051ce84

Roman:

Titel: Das Leben der Wünsche

Reihe: -

Original: -

Autor: Thomas Glavinic

Übersetzer: -

Verlag: Hanser Belletristik (August 2009)

Seiten: 319 - Gebunden

Titelbild: plainpicture/Arcangel

ISBN-13: 978-3-446-23390-4

Erhältlich bei: Amazon

, zuletzt aktualisiert: 12.04.2024 09:51