Druckversion: Das Maskenspiel der Genien (Autor: Fritz von Herzmanovsky-Orlando)

Das Maskenspiel der Genien von Fritz von Herzmanovsky-Orland

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Cyriakus von Pizzicolli, der Sohn angesehener Eltern, erblickte zu Stixenstein das Licht der Welt. Jedem anderen hätte die Wahl des Geburtsortes zu denken gegeben. Ihm nicht.

- Das Maskenspiel der Genien, S. 5

 

Cyriak von Pizzicolli hatte in seiner Kindheit kaum Berichtenswertes erlebt – vielleicht, dass er überraschend häufig von Straßenkötern angegangen wurde, worunter stets Molosser waren, die eigentlich nur in der Antike vorkommen. Seltsam auch, dass er vor dem Frauennamen "Anna" zurückschreckte, besonders in Verbindung mit dem bestimmten Artikel. Obschon er sich nie weit von seiner Heimatstadt Graz entfernt hatte, lebte eine große Wanderlust in ihm; vielleicht entfacht durch die übermäßige Kritisierlust seiner Mutter, der er so zu entkommen hoffen mochte. Nach dem tragischen Tod seiner Eltern fasste der junge Mann jedenfalls den Entschluss, nach Griechenland zu fahren, um sich die sagenumwobene Insel Kythera anzusehen. So bestieg er den um acht Uhr dreizehn aus Bruck kommenden Personenzug – doch schon wenig später überquerte er die Grenze ins Traumreich der Tarocke, einem Reich, das neben den normalen Nationen besteht, das nach den Vorgaben des Tarockspiels organisiert ist, dessen vier Könige unter der Maßgabe ausgewählt werden, den Königen auf den Tarockkarten vom Äußeren her am ähnlichsten zu sein. Nach einem bizarren Zwischenfall in Gurkfeld mit einem hübschen Knabenmädchen und einem Amtshund (der Herr Orebespichler schien eine Ulmer Dogge zu sein), der einen längeren Aufenthalt in einer Irrenanstalt zur Folge hatte, gelangt Cyriak nach Bischoflack, wo er ein wunderschönes Mädchen trifft, die sein Schicksal besiegeln soll.

 

Das Maskenspiel der Genien ist ein sehr eigenwilliger Roman, was sich am offensichtlichsten im Setting niederschlägt.

Sieht man von den einleitenden Sätzen ab, so beginnt die Geschichte im Reich der Tarocke. Dieses ist dem k. u. k. Österreich relativ ähnlich, ja es wurde sogar von Metternich als Reaktion auf den Laibacher Kongress eingerichtet. Wann genau die Geschichte spielt, bleibt unklar – lange scheint es das späte 19. Jh. zu sein, denn man reist per Kutsche und Eisenbahn. Später wird dagegen mit dem Auto herumgebraust, was eher ans frühe 20. Jh. erinnert. Letztlich spielt diese Frage aber nur eine sehr untergeordnete Rolle, denn der Autor ist bestrebt, ein surreales Sittengemälde, eine Satire auf das Bürger- und vor allem das Beamtentum zu verfertigen: Das Leben wird von bizarren, unverständlichen bis schlicht blödsinnigen Regeln und absurder, kleinkrämerischer Geschäftemacherei geprägt. So gibt es z. B. einen Unternehmer, der Unkrautsamen an den Staat verkauft; diese Samen werden dann unter die Aussaat der Bauern gemischt, damit diese nicht zu produktiv werden. Es wirkt bisweilen wie eine surreale Mischung aus Kafkas monströser Bürokratie, der konsequenten Fehllogik aus Lewis Carrolls Alice in Wonderland und den pikaresken Spinnereinen aus Gottfried August Bürgers Münchhausen erzählt. Später, in Griechenland, wird die Verbürgerlichung des erhabenen Adels auf's Korn genommen.

Gerade wenn der Leser zu dem Schluss gekommen ist, dass die phantastischen Elemente allein auf der Ebene gesellschaftlicher Absurdität angesiedelt sind, stolpert er über in der Akademie der Fische diskutierende Karpfen oder die Messung der Benixung eines Baumes mittels Dryadometer – gelegentlich sind Brüche mit den Naturgesetzen eingestreut.

Das Setting ist sehr weit ausgeführt und die Figuren sind vollständig darin eingebettet – damit ist es wohl als eine Art Milieu zu werten. Die phantastischen Elemente sind eher gesellschaftlicher Natur und Teil der absurden satirischen Tradition.

 

Figuren gibt es zahlreiche, die unvermittelt auftauchen und ebenso wieder verschwinden – man kann sie sich nicht alle merken. Das ist auch gar nicht weiter schlimm, da es sich – wie der Titel des Romans schon andeutet – um Archetypen handelt: Es wird mehrfach auf die Commedia dell'Arte verwiesen, wobei dem Fantasy-Leser vielleicht eher James Branch Cabells Die Chroniken von Poictesme, Hal Duncans Vellum und Signum oder Michael Swanwicks Die Tochter des stählernen Drachen näherstehen. Ein paar Figuren will ich doch nennen.

Zentrale Figur ist Cyriak von Pizzicolli, ein junger Mann aus gutem Hause, der eine Bildungsreise zu den antiken Stätten machen will. Er ist selbstverständlich eine Anspielung an den spätmittelalterlichen italienischen Kaufmann, der in Deutschland als Cyriakus von Ancona bekannt ist und sich als wichtiger Wiederentdecker der Antike einen Namen machte. Dann ist da Doktor Philipp Boguslav Edler von Hahn, ein gewesener kaiserlicher Hofkonzipist, der in Mehlwürmer und Teufelszwirn macht – ein alter, eitler Junggeselle, der stets Geschäftemacherei und Weiberröcke im Kopf hat und sich dabei von jeder noch so unsinnigen Idee beeindrucken lässt. Ein anderer ist Rat Naskrükl, ein gealterter Bonvivant und Orientforscher, der ebenfalls seltsame Interessen hegt; so ist er kein Kind von Traurigkeit und zeigt Fotos von seinen Liebschaften – die er gerne mollig hat – herum. Auf der Rückseite notiert er die wichtigsten biografischen Daten: Name, Lebendgewicht und Wadenumfang. Daneben gibt es alle möglichen Frauen, jung und kess wie das Biberon oder wunderschön und geheimnisvoll wie die Despina Bayazanti; sie halten alle an ihrem Lebensstil fest und sei die Situation auch noch so absurd. Und die traumhafte Cyparis lockt den Jüngling die ganze Geschichte hindurch und bleibt doch stets unerreichbar.

 

Der Plot ist eher dünn: Cyriak macht eine Bildungsreise nach Kythera, doch die Reise wird zur Parodie einer Bildungsreise und der Plot zu Persiflage eines Entwicklungsromans. Der junge Mann jagt der Traumfrau Cyparis nach, und damit ein Traum real wird, muss der Träumer die Realität verlassen; Cyriak tritt eine Art Reise in den Wahnsinn an, die gelegentlich an Joseph Conrads Heart of Darkness erinnert. Da die Figuren nur die Masken von Archetypen sind, können sie sich nicht im eigentlichen Sinne entwickeln – die üblichen Spannungsquellen des Entwicklungsromans fallen damit komplett aus. Die 'eigentliche' Geschichte wird dafür von zahllosen Nebenhandlungen, kleinen Erzählungen, Erläuterungen und Anekdoten 'unterbrochen', die in der weit überwiegenden Mehrheit eine Absurdität zum Inhalt haben; beliebt sind auch Erzählungen einzelner Szenen aus Theaterstücken – mit einer Szene aus Shakespeares Mittsommernachtstraum wird einmal mehr die später wichtige Verknüpfung von Feen, Göttern und Griechenland vorweggenommen.

Neben dem aus den absurden Szenen sich speisenden Humor setzt der Autor auf eine schier unglaubliche Vielzahl von Anspielungen, die nicht immer leicht zu erkennen sind: Metternich und Hagenbeck mögen noch bekannt sein, doch wie steht es mit der Insel Kythera, Autonoë und Molossern? Wie mit König Otto, der Familie Dandolo, den Johannitern und der Stadt Sidon? Auch schwingt stets viel Romantik mit – es hilft, wenn man seinen E. T. A. Hoffmann über Der Sandmann und Die Elixiere des Teufels hinaus kennt. In dieser Hinsicht erinnert der Roman (eigentlich ist es ja umgekehrt) an Vladimir Nabokovs Fahles Feuer und dergleichen. Das gilt auch für den Plotfluss: Dank des barocken, sehr situativen Erzählens und der unzähligen Abschweifungen gleicht er eher einem stehenden Gewässer als irgendeiner Art von Fluss.

Den Leser mag allerdings die Verherrlichung der "arischen Rasse" irritieren, die in zwei oder drei Szenen aufblitzt; zwar wird sie durch die Einbettung in den satirischen Kontext erheblich gemildert, doch der Duktus bleibt klar erkennbar.

 

Erzähltechnisch ist der Roman konservativ, ohne dabei gewöhnlich zu sein. Es gibt einen Strang, der aus auktorialer Perspektive erzählt wird. Der Erzähler stellt sich gelegentlich forciert in den Vordergrund, sodass der Stil dann an Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht … erinnert. Der Handlungsaufbau ist dabei eher progressiv, wird aber von vielen regressiven Episoden unterbrochen; überhaupt gibt es so viele episodische Abschweifungen, dass der eigentliche Plot gelegentlich aus den Augen verloren wird.

Die Wortwahl ist einerseits sehr gespreizt – Amazonenkadettenkorps, Bellonaquadrille, Innenkordon, Guedon und Hartschiere tummeln sich auf einer zufällig ausgewählten Seite – und andererseits sehr salopp in Mundart (die allerdings nur in der Figurenrede verwendet wird): "Jetzt dös is z' arg … was ihr da sprechts. Habts denn gar ka Herz? Mir ist doch auch a Lebemann und schaut gern durch die Finger. Was aber z' viel is, is z' viel. Aber dös kommt alles von der neuchen Moden und hauptsächlich von der Wäsch!", redet Naskrükl sich in Rage: "San dees a Mädeln?, frag i, oder san's antike Hirtenknaben mit Bubikopf? He? Oder frech z'sammgschminkte Untergymnasiasten, … die … wie soll i mi nur ausdrücken … die nit ganz firti gwordn san … weil's wahr is!"

Die Kombination von Gespreiztheit und Mundart passt natürlich ganz wunderbar zu den absurden Momenten des Romans.

 

Schließlich ist noch anzumerken, dass es sich bei der besprochenen Fassung nicht um die von Friedrich Torberg gekürzte Version, sondern um die vollständige handelt.

 

Fazit:

Nach dem Tod seiner Eltern unternimmt der junge Cyriak von Pizzicolli eine Bildungsreise zur griechischen Insel Kythera, doch schon auf dem Wege durch das Reich der Tarocke erlebt er unzählige absurde Abenteuer. Das Maskenspiel der Genien ist ein sehr schwieriger Roman, da er einerseits völlig auf die klassischen Spannungsquellen verzichtet, andererseits aber ein hohes Maß an Kontextwissen einfordert. Wer dieses mitbringt, Spaß an surrealen Absurditäten hat und sich von der gelegentlich aufblitzenden, mittlerweile schwierig gewordenen politischen Haltung nicht abschrecken lässt, der sollte es einmal mit diesem ewigen Geheimtipp der österreichischen Phantastik versuchen.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240418033158ad81b7f0

Roman:

Titel: Das Maskenspiel der Genien

Reihe: -

Original: -

Autor: Fritz von Herzmanovsky-Orlando

Übersetzer: -

Verlag: Residenz Verlag (Oktober 2010)

Seiten: 504 Gebunden

Titelbild: Ramona Scheiblauer

ISBN-13: 978-3-7017-1552-7

Erhältlich bei: Amazon

, zuletzt aktualisiert: 08.04.2024 09:56