Das Mitternachtskleid (Autor: Terry Pratchett; Scheibenwelt Bd. 38)
 
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Das Mitternachtskleid von Terry Pratchett

Scheibenwelt Bd. 38

Tiffany Weh Bd. 4

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Tiffany Weh, die junge Hexe des Kreidelandes, bummelt über den Jäte-Jahrmarkt. Die Leute amüsieren sich köstlich, samt einer kleinen Rauferei. Leider trifft sie auch Lätitia, die Braut ihres speziellen Freundes Roland, dem Sohn des Barons. Eigenwillig, wie die Leute – sieht man von Lätitias grässlicher Mutter ab – sie viel respektvoller behandeln, seit sie den spitzen Hut trägt. Doch hat sich in letzter Zeit nicht etwas Angst darunter gemischt? Wenn sie nur nicht soviel Arbeit hätte und etwas mehr schlafen könnte! Auch diese Nacht wird sie von ihrem Vater geweckt: Der Herr Micker hatte seine schwangere Tochter so sehr verprügelt, dass sie ihr Kind verloren hatte. Frau Micker hatte es heulend im Gasthaus erzählt. Da war den Leuten der Kragen geplatzt, und sie beschlossen, Herrn Micker eine Katzenmusik zu spielen. Tiffanys Vater befürchtet, dass sie ihn aufknüpfen könnten. Das kann eine Hexe nicht zu lassen, und so eilt sie zu Micker, um ihn eine Flucht zu ermöglichen. Herr Micker, ein grober Kerl, der stets mit der Faust denkt, will aber nicht von zu Hause und seiner Familie fort. Herausfordernd fragt er das sich überall einmischende, halb gare Frauenzimmer, was sie wohl tun werde, wenn die Leute ihr eine Katzenmusik aufspielen. Doch dazu besteht kein Anlass, oder? Allerdings hatten sie auch der alten Frau Schnappich eine Katzenmusik gespielt, nur weil sie keine Zähne und keine Familie mehr hatte.

 

Das Mitternachtskleid ist der achtunddreißigste Roman von der Scheibenwelt – muss man diese noch vorstellen? Die Welt, die eine Scheibe ist, die auf den Rücken von vier gewaltigen Elefanten ruht, die auf dem Rücken einer noch viel gewaltigeren Schildkröte stehen, die durch die Weiten des Weltraums schwimmt? Ungewöhnlicherweise gibt es eben diese Einführung nicht im Roman, daher will ich es auch dabei belassen. Tiffany ist die Hexe des Kreidelandes, was eigentlich schwer vorstellbar ist, da es für Hexen guten Stein, Felsen braucht und das Kreideland eben nur Kreide unter dem dünnen Humusboden hat. Darunter allerdings liegt Feuerstein – der härteste aller Steine. Das Kreideland ist überaus ländlich geprägt: Schafherden bestimmen das hügelige Landschaftsbild, Käsemachen ist eine Sensation, jeder kennt jeden und ein paar Meilen jenseits des Dorfes beginnt die Fremde. Außerdem muss Tiffany einen kleinen Abstecher nach Ankh-Morpork ("Du herrliche Stadt, die oben Trolle und unten Zwerge hat! Wer dein Wasser nicht trinkt, der wird auch nicht krank! Ankh-Morpork, du Perle am Ankh!") machen, wo sie nicht nur verschiedene Mitglieder der Wache kennenlernt, sondern auch feststellt, dass die Steine der Stadt besondere Hexen hervorbringen. Das mittelalterliche Flair ist weitgehend verschwunden; trügen die Wachen nicht Kettenhemd und Schwert, so könnte die Geschichte auch im 18. Jh. spielen.

Das Setting ist mittelmäßig ausgeführt und schwankt zwischen Milieu und einer Art von atmosphärischer Untermalung.

Hinsichtlich der phantastischen Elemente gibt es eine eigenartige Wirkung: Zwar drücken jene Elemente sich die Klinke in die Hand – die Protagonistin ist eine Hexe samt fliegenden Besen, ihre engsten Verbündeten sind der Feen-Stamm der "Wie-sind-die-Größten" und eine Zaubererin hilft gegen eine dämonische Bedrohung – und doch wirkt es nur selten magisch.

 

Die Anzahl der Figuren ist für den Plot recht groß – meines Erachtens sogar ein wenig zu groß, denn es treten einige Figuren auf, die in der Detailliertheit gar nicht benötigt werden; dafür könnten andere stärker charakterisiert werden. Wie beim Setting sind die Figuren einerseits parodistisch überzogen, andererseits von einer plausiblen Gewöhnlichkeit geprägt: Sie vereinen Klischee mit realistischer Eigenart zu durchaus interessanten Figuren, wenn sie weiter ausgeführt werden. In den Figuren liegt eine Stärke des Romans.

Tiffany Weh ist natürlich die Hauptfigur. Die Hexe des Kreidelandes ist schon fast sechzehn und nimmt ihre Arbeit überaus ernst. Sie ist unangenehme bis eklige Situationen gewöhnt und versucht pragmatisch damit umzugehen. "Das Notwendige tun" ist ihre Maxime. Dennoch ist sie keine Arbeitsmaschine – sie kann die läppisch-lästige-lächerliche Lätitia nicht leiden und mit ihrer Mutter ist es noch schlimmer. Auch ihr Verhältnis zu Roland ist schwierig; als Kinder hatten die beiden gedacht, sie würden zusammenpassen, aber nur weil beide übrig geblieben waren, passen sie noch lange nicht zusammen. Und trotzdem: Warum ist sie so wütend auf Rolands Braut, wenn er doch bloß ihr Freund ist? Roland indes hat sich verändert: Er ist ihr ferner geworden, sie ist ihm die "Frau Weh" (eine Hexe ist niemals ein "Fräulein") geworden, wo sie einst "Tiff" war. Lätitia ist ein blasses, verwaschenes Mädchen, ideal, um sich retten zu lassen und Prinzessin zu werden. Anscheinend hat ihre Mutter, die Herzogin, ein ganz abscheulicher, tyrannischer und arroganter Mensch, sie diesbezüglich gedrillt. Es ist der armen Lätitia offensichtlich peinlich, so unter der Fuchtel zu stehen – vielleicht hat sie noch etwas in petto. Weiterhin ist da Frau Prust, eine geschäftstüchtige Stadthexe, die Oma Wetterwachs durchaus das Wasser reichen könnte (wenn Hexen so etwas tun würden), Preston, ein überraschend intelligenter und aufmerksamer Wächter Rolands, sowie natürlich die Wir-sind-die-Größten mit Rob Irgendwer, dem Doofen Wullie und der Kelda Jeannie und zahlreichen weiteren; viele altbekannte Figuren erhalten noch einmal einen kleinen Auftritt und auch ein paar neue kommen dazu.

 

Der Plot ist im Wesentlichen eine Rätselgeschichte mit Nähe zum Thriller. Es beginnt mit einer seltsamen Stimmung, es folgen eigenartige Omen und bald werden die Leute den Hexen gegenüber immer feindseliger. Was steckt dahinter? Und wie kann man es aufhalten? Hineingeflochten sind Elemente der Abenteuergeschichte – wie Tiffany Wehs Ankh-Morpork-Episode – oder der Entwicklungsgeschichte – wie Tiffanys Verhältnis zu Roland und Lätitia bzw. den anderen Hexen – es gibt ein wenig Romantik und etwas Humor.

Diese Unfokussiertheit geht oftmals auch mit wenig wirksamen Spannungsquellen einher. So auch hier: Pratchetts Romane glänzten bisher mit einem brillanten Wortwitz sowie urkomischen grotesken Momenten. Nun ist es immer so eine Sache mit dem Übersetzen von Wortwitz, doch ein "Mistverständnis" ist arg billig. Auch die grotesken Momente wirken nicht immer frisch. Weiterhin stachen Pratchetts Geschichten mit ihren starken sozialen Aspekten heraus – Fliegende Fetzen, Die volle Wahrheit und Die Nachtwächter seien hier genannt. Das Mitternachtskleid geht den Themen Neid und Hass nach, ohne hier besonders Interessantes zutage zu fördern. Letztlich ist auch die Überwindung des Problems nicht besonders aufregend, sondern wirkt etwas routiniert. Überhaupt scheint "Routine" das Stichwort zu sein, denn der Roman ist sehr routiniert geschrieben, was Gutes wie Schlechtes beinhaltet. Man muss nicht laut lachen, kann aber oftmals schmunzeln, man fiebert nicht vor Gespanntheit mit, muss aber auch kein Gähnen unterdrücken – das Buch fließt so vor sich hin, man kann es gut lesen, es hinterlässt aber auch kaum einen bleibenden Eindruck.

Als Einzelroman wäre es nicht schlecht aber kaum bemerkenswert. Doch als Abschluss des Subzyklus um Tiffany Weh funktioniert der Band viel besser, denn er bietet einen schönen Ausblick, der den Leser in Bezug auf Tiffanys Schicksal zufrieden zurücklässt. Sogar wenn es der letzte Roman der Scheibenwelt wäre – was er hoffentlich nicht ist – würde er dieser Aufgabe gerecht werden. Der Roman ist kein guter Einstieg und kein guter Höhepunkt, aber ein guter Ausklang.

Der Plotfluss fängt etwas langsam an, schreitet dann aber bald im gemäßigten Tempo fort. Das Eingangskapitel, Tiffanys Jahrmarktsbesuch, deutet geradezu klassisch bereits alle kommenden Konflikte an; leider werden sie nicht alle angemessen abgehandelt – so klafft am Ende eine Distanz zwischen Erzähltempo und Plotfluss, was das Ende ein wenig überstürzt wirken lässt.

 

Die Erzähltechnik ist sonst eher unauffällig*: Es gibt einen Stang, der aus auktorialer Perspektive erzählt wird, allerdings so dicht an Tiffany dran ist, dass es häufig personal wirkt. Der Handlungsaufbau ist dramatisch und progressiv mit wenigen regressiven Rückgriffen.

Die Sätze neigen zur Zweigliedrigkeit – ein Haupt- und Nebensatz – auch wenn kürzere und öfter noch längere Sätze auftauchen; sie sind weitgehend linear. Die Wortwahl meidet "schwierige" Worte und neigt zum Umgangssprachlichen; es gibt allerdings auch gelegentliche Fantasieworte – wie etwa "Schraubgrimmen". Insgesamt ist der Text sprachlich leicht zugänglich.

 

Fazit:

Die junge Hexe des Kreidelandes Tiffany Weh erlebt eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber Hexen – was mag der Grund sein? Das Mitternachtskleid greift zwar die üblichen Momente der Scheibenweltromane auf, wirkt gegenüber den komischen und durchaus kritischen Höhepunkten der Reihe aber etwas blass; als leicht melancholischer Ausklang funktioniert der Roman aber gut.

 

* Natürlich spricht der TOD in GROSSBUCHSTABEN und komische Abschweifungen finden sich in den Fußnoten.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240425093410f4be3b53
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Roman:

Titel: Das Mitternachtskleid

Reihe: Scheibenwelt, Bd. 38 (Tiffany Weh, Bd. 4)

Original: I shall wear Midnight (2010)

Autor: Terry Pratchett

Übersetzer: Regina Rawlinson

Verlag: Manhattan (Mai 2011)

Seiten: 415 - Klappbroschur

Titelbild: Tom Steyer

ISBN-13: 978-3-442-54638-1

Erhältlich bei: Amazon

Auch für den Kindle erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 29.06.2011, zuletzt aktualisiert: 22.06.2023 20:33, 11922