Der coole Typ (Autorin: Marianne Labisch)
 
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Der coole Typ

Autorin: Marianne Labisch

 

Ada Hofmann half ihren beiden Enkelkindern Lisa und Marie bei den Vorbereitungen zur Oldie Fete. Die beiden wollten die Zeit des Rock 'n' Roll wiederaufleben lassen und freuten sich diebisch, eine Zeitzeugin zu haben, die dafür sorgte, dass alles stilecht wurde. Die Kleider samt Petticoat warteten darauf, durch die Luft gewirbelt zu werden. Ein uralter Schallplattenspieler war von Martin, dem Vater der Mädchen, ihrem Schwiegersohn, aufgetrieben und repariert worden. Zu Lisas sechzehnten Geburtstag hatte Martin das Vereinsheim der Fußballer gemietet, wo bis nach Mitternacht gefeiert werden durfte. Jeder der Gäste war angewiesen worden, im 50er-Jahre Outfit zu erscheinen.

 

Überall sah man gut gelaunte Gesichter. Die Vorfreude auf die Feier dominierte den ganzen Saal. Ada machte Knoten in die Luftballons, die Lisa aufblies. Martin legte eine Single auf und ›Tom Dooley‹ erklang.

Ada erbleichte, hielt den Atem an, taumelte und umklammerte die Tischkante.

Lisa ging zur ihr und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ada nickte, machte allerdings immer noch einen schwachen Eindruck. Lisa stütze sie und führte sie zu einem Stuhl. Kreidebleich saß sie dort und schien in Gedanken ganz woanders zu sein.

»Oma? Was ist los? Ist dir nicht gut?«, fragte Lisa und bemerkte Tränen in Adas Augen. »Oma? Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie erneut.

»Das Lied …«

»Was ist mit dem Lied?«

»Es erinnert mich an früher.«

»Omi? Du kippst mir jetzt nicht vom Hocker, oder?«

Ada atmete mühsam tief durch und zwang sich ein Lächeln ab.

»Nein, meine Kleine, ich kipp’ nicht um. Ich brauche nur einem Moment, um die Bilder zu verscheuchen.«

»Was ist damals passiert? So wie du aussiehst, muss es etwas Schlimmes gewesen sein.«

»Ja, das kann man wohl sagen. Ein Mensch kam ums Leben.«

»Oma! Das ist ja krass. Erzähl!«

»Ach, das ist eine alte Geschichte und sie passt nicht zu der frohen Laune, die hier herrschen sollte.«

»Egal, Oma, jetzt hast du mich neugierig gemacht. Erzähl, bitte!«

Lisa schnappte sich einen Stuhl und setzte sich ihrer Großmutter gegenüber. Das schien ja mal interessant zu werden.

»Es ist lange her, ich war ungefähr in deinem Alter, als ein neuer Junge in die Stadt zog, in den ich mich heftigst verliebte …« Lisa sah, wie die Augen ihre Großmutter strahlten, und war gespannt, wie es weiter gehen würde.

 

Zum ersten Mal fiel mir Tom auf, als er an einem Freitagnachmittag mit einer Kippe im Mundwinkel völlig alleine am »Nirgena« stand und aussah wie ein Filmstar, den man irrtümlich am Set zurückgelassen hatte. Hier in Gevelsberg wussten die Mädels aus meiner Klasse damals immer schnell, wo neue Typen herkamen. Nicht nur das, meistens behauptete mindestens eine, sie wisse, was der Vater von Beruf sei, wo die Familie wohne und wie es mit den finanziellen Angelegenheiten aussähe. Außerdem fand man schnell heraus, auf welche Schule der Neuzugang ging und ob er mit Bus, Bahn, Fahrrad oder Moped kam.

Ich tippte auf Moped, weil es zu seiner Kleidung passte. Er trug ausgewaschene Jeans, die aussahen, als seien sie ihm auf den Körper geschneidert worden, ein Hemd, dessen Ärmel nachlässig aufgerollt waren und eine Lederjacke, die er sich über die Schulter geworfen hatte. Auf mich machte er einen verträumten Eindruck; ganz so, als sei er tief in Gedanken versunken. Sein Blick, der mir folgte, strafte diese Vorstellung Lügen.

Er gefiel mir auf Anhieb. Normalerweise erregten Dunkelhaarige eher mein Interesse. Dieser Typ hatte blondes Haar, das mir ein wenig zu lang vorkam.

Er sah einfach ungeheuer interessant aus. Ein Einzelgänger, den man spontan davon überzeugen wollte, dass es sich in Gesellschaft auch gut lebte. Einer von den harten Typen, durch dessen raue Schale man erst dringen musste. Eine Herausforderung.

Bei dieser speziellen Sorte durfte man sein Interesse auf keinen Fall signalisieren. Nein, solche coolen Typen interessierten sich für Frauen, die sie erobern mussten. Deshalb beherrschte ich mich und blickte nicht zurück. Erst als die Sparkasse hinter mir lag, lugte ich um die Ecke, nur um schnell zurückzutreten. Er sah in meine Richtung! Mist! Wie peinlich. Hoffentlich hatte er mich nicht entdeckt.

Den ganzen Weg den Börkey rauf hafteten meine Gedanken an ihm. Ob er wirklich beim Film arbeitete? Mit dem Aussehen wäre es bestimmt kein Problem. Aber dann könnte ich ihn gleich vergessen. Nie und nimmer würde mein Vater zulassen, dass ich mich mit so einem traf.

Ich schalt mich eine dumme Nuss. Ein Blick und schon träumte ich von einer Verabredung.

 

Am Montag stand er an sein Moped gelehnt auf dem Parkplatz des Gymnasiums. Entweder er ging auf diese Schule oder er hatte jemanden gebracht. Mein Herz schlug schneller. Ich wollte an ihm vorbeigehen und so tun, als hätte ich ihn nicht gesehen aber er blickte mir in die Augen und begrüßte mich mit einem: »Hallo!«, als wären wir alte Bekannte.

Verdutzt blieb ich stehen und erwiderte seinen Gruß.

»Hallo …« Krampfhaft suchte ich nach weiteren Worten und sprach dann das Offensichtliche aus: »Du bist neu hier.«

»Ja, das kann man sagen. Meine Eltern mussten unbedingt in dieses Scheiß-Kaff ziehen. Tom heiße ich; und du?«

Es kam mir komisch vor, wie er das Gespräch so ohne jegliches Geplänkel aufnahm, aber ich kann nicht behaupten, dass es mir unangenehm gewesen wäre. Ich spürte, wir erregten die Aufmerksamkeit einiger Mitschüler.

»Ada. Wo kommst du her?«, fragte ich.

»Das ist ein ungewöhnlicher Name, gefällt mir. Wir kommen aus Berlin.«

Die Pausenglocke ertönte und wir machten uns auf den Weg ins Gebäude.

»Welche Klasse?«, fragte ich.

»Dreizehn C. Und du?«

»Zwölf A.«

»Sehen wir uns in der Pause?«

»Gern.«

 

Susanne, Sylvia und Karin passten mich an der Tür zum Klassenzimmer ab.

»Wer ist denn das?«

»Woher kommt er?«

»Wie heißt er?«

»Woher kennst du ihn?«

Ich lächelte und konnte mir gut vorstellen, wie neugierig sie sein mussten, deshalb tat, ich als wüsste ich nicht, worum es ging und schaute sie mit meinem aller unschuldigsten Engelsblick an. »Wovon redet ihr?«, fragte ich und rauschte an ihnen vorbei auf meinen Platz zu.

Sie folgten mir auf dem Fuß.

»Jetzt tu nicht so. Du bist doch gerade mit einem Typen in die Schule gekommen, den ich heute zum ersten Mal sehe.«

»Genau. Und ihr saht aus, als würdet ihr euch kennen.«

»Nun rück schon raus mit der Sprache.«

Micha, mein heimlicher Schwarm bis zu diesem Tag, der mich sonst geflissentlich ignorierte, lauschte unserem Gespräch. Das fand ich äußerst beachtlich. Sollte Micha einer von denen sein, für die man erst interessant wurde, wenn andere um die Gunst buhlten?

»Ach, ihr sprecht von Tom. Der ist neu. Er kommt aus Berlin. Ich treffe mich in der Pause mit ihm.«

 

Die Textor, unsere Klassenlehrerin, betrat den Raum und unterband jeden weiteren Austausch.

Ich konnte mich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Hatte ich schon einmal einen Jungen kennengelernt, mit dem ich so unkompliziert ins Gespräch gekommen war? Ohne 1000 Blicke hin und zurück, ohne jede Albernheit?

Nein, aber das machte ihn noch besonderer. Er schien ein netter Kerl zu sein.

Ein Großstädter. Einer, der zehn Mädchen an jeder Hand hat, mischte sich mein fieses Unterbewusstsein ein. Den Gedanken schob ich schnell auf die Seite. Endlich war die Stunde um und ich entdeckte Tom in der Raucherecke.

Karin hielt mich zurück. »Der ist doch gar nicht dein Typ«, sagte sie und ich hörte heraus, dass er ihr sehr wohl gefiel.

»Lass ihn mich erst mal richtig kennenlernen, dann sehen wir, ob er mein Typ ist«, antwortete ich und ging in Richtung Raucherecke.

Mein Großmaulbruder Hans gesellte sich gerade zu den Rauchern und rempelte Tom dabei absichtlich an. Ich konnte ihn in solchen Momenten nicht ausstehen und schämte mich dafür, mit ihm verwandt zu sein.

 

Mona unterbrach ihre Großmutter.

»Du hast einen Bruder? Warum kenne ich den nicht?«

»Weil der vor deiner Geburt bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.«

Einen Moment schien sie den Faden verloren zu haben, fuhr dann aber fort: »Wo war ich? Ach ja, bei Hans …«

 

»Hey, kannst du nicht aufpassen?«, schnauzte Hans Tom an. Tom trat einen Schritt zurück und entschuldigte sich. Ich ging dazwischen. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, wenn mein Rüpelbruder dich anrempelt«, fauchte ich und stellte mich zwischen die beiden und warf meinen Bruder böse Blicke zu. Der schob mich auf die Seite und wandte sich an Tom: »Ich bin sicher, unser Neuer braucht keine Hilfe von einem Mädchen, oder?«

Bevor Tom antworten konnte, tat ich es: »Natürlich braucht er keine Hilfe. Wenn hier einer Hilfe braucht, um sich vernünftig zu benehmen, dann du!«

Jetzt hatte ich ihn ernsthaft verärgert. Nicht genug damit, dass ich es wagte, meinem großen Bruder zu widersprechen, nein seine ganze Clique stand als Zeuge dabei. Ich wusste, das wurmte ihn ohne Ende. Aber er hatte angefangen.

Und so zog ich Tom am Hemdärmel aus der Gefahrenzone und sagte: »Komm, lass uns wohin gehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.«

Ich spürte seinen Widerstand, er fürchtete sich nicht vor Hans und hätte es ohne mein Einschreiten sicher darauf ankommen lassen, aber vor mir wollte er sich offensichtlich nicht provozieren lassen. Wahrscheinlich wusste er, dass dieser Konflikt irgendwann ohnehin zwischen den beiden ausgetragen werden würde und so folgte er mir.

»Mein Bruder ist ein elender Wichtigtuer. Lass dich davon nicht beeindrucken.«

»Keine Bange, ich kann mich schon selber wehren.«

»Das bezweifle ich nicht, aber pass auf. Hans ist einer, der mit unfairen Mitteln kämpft. Ich hasse es, dass ausgerechnet er mein Bruder ist.«

Das zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er strich mir über den Arm und meinte: »Unsere Verwandtschaft können wir uns nicht aussuchen. Ich hätte auch gerne andere.«

»Hast du auch Geschwister?«

»Nein, aber meine Eltern reichen voll.«

Nun grinste ich. »Ja, Eltern können schrecklich sein.«

 

Wir trafen uns in jeder Pause und verabredeten uns für das Wochenende zum Tanztee. Wir verstanden uns ohne viele Worte, oft reichte ein Blick und wir lächelten beide, aber wir konnten auch über alles offen reden.

Wir tauschten uns über unsere Eltern aus und versprachen einander, niemals so spießig zu werden. Wir träumten von einer Welt ohne Leistungsdruck, wünschten uns, dass Musiker, Schriftsteller und Schauspieler ebenso angesehen wären wie Ärzte und Rechtsanwälte. Wir schimpften auf alte Nazis, die sich immer noch überall versteckten und wir teilten die Liebe zur Musik. Dieser Rock, der da aus Amerika hinüberschwappte, den liebten wir beide.

Das war Musik, das war das Leben, die Rebellion, Freiheit!

 

Zu Hause musste ich meinen Bruder ertragen, der Tom nachäffte oder sich über ihn lustig machte. Keine Ahnung, warum er sich so auf ihn einschoss. Vermutlich fürchtete er um seine Führungsrolle. Hans war einer von den Rowdys, die überall Ärger suchten und zu Hause das Unschuldslamm gaben.

Ich hätte seine Eskapaden besser ertragen, wenn er sich treu geblieben wäre und seine Rebellion auch daheim ausgetragen hätte, aber diese Menschen mit zwei Gesichtern, die konnte ich nicht ausstehen.

Natürlich würden Hans und seine Kumpels ebenfalls zum Tanztee kommen. Ich hoffte, dass es nicht zu einer Schlägerei zwischen den beiden kam.

Früher oder später würden sie aneinandergeraten und ich hoffte, dass es unblutig abgehen würde.

 

Die Band spielte genau die Musik, die uns so gut gefiel. Tom kam mit Olaf im Schlepptau aufs Fest. Wo und wie die beiden sich kennengelernt hatten, wusste ich nicht. Olaf ging auf die Sonderschule und war Ziel von Spott und Häme. Er konnte nichts dafür, dass ihm oft der Speichel aus dem Mund lief, aber ich fand es abstoßend. Ich mied ihn, aber ich machte mich nie über ihn lustig. Tom nun ausgerechnet mit Olaf zu sehen, wunderte mich. Zielstrebig kamen die beiden auf mich zu. Voller Bewunderung blickte Olaf zu Tom auf. Es sah fast aus, als hätte er ihn als großen Bruder adoptiert, oder als Vaterersatz.

»Du kennst Olaf?«, fragte Tom.

»Naja, ich weiß, auf welche Schule er geht und wo er wohnt, ich kenne ihn nur vom Sehen.«

Olaf strahlte mich an, als würde Freundschaft durch Anwesenheit übertragen und hielt mir seine Hand hin.

»Allo Ada«, nuschelte er.

Ich schüttelte seine schlaffe Hand und verspürte sofort das Bedürfnis, sie abwischen zu müssen. Ich konnte mich gerade so beherrschen.

Obwohl Olaf alleine ganz gewiss nie auf diese Feier gekommen wäre, schien er sich in Toms Gegenwart vollkommen sicher zu fühlen. Die Band verkündete einen Fats Domino Set. Olaf strahlte, sagte: »Diekannichalle«, ging geradewegs auf die Bühne und verlangte den Bass vom Bassisten. Die Band empörte sich und schon standen die Ersten bereit, die sich auf Krawall freuten.

Tom eilte Olaf zu Hilfe. »Lass es ihn mal probieren. Wenn es nichts taugt, gibt er dir das Instrument zurück, nicht wahr, Olaf?«

Olaf nickte und versprühte Speichel. Der Bassist brachte sich in Sicherheit und überließ Olaf seinen Bass. Die Häme strahlte aus seinem Gesicht. Offensichtlich erwartete er eine öffentliche Blamage und stand bereit, in diesem Fall direkt zurückzukehren.

Der Schlagzeuger gab den Takt vor und die Band spielte. Olaf zupfte die Saiten mit den Fingern und ließ den Bass anständig wummern. Niemand hätte vermutet, dass er ein solches Naturtalent sein würde. Sein Gesicht glänzte und er strahlte mit den Scheinwerfern um die Wette. Die Musik lag ihm im Blut.

Nach dem ersten Stück gab es keine Einwände mehr, selbst nicht vom ursprünglichen Bassisten. Der vergnügte sich stattdessen an der Theke, wo eine Eroberung in Aussicht stand.

Tom und ich tanzten. Wir fegten übers Parkett, als hätten wir jahrelange Praxis. Er wirbelte mich durch die Gegend wie eine Feder.

 

Hans und Konsorten stürmten herein. Man sah und roch, dass sie sich vorab einige Drinks genehmigt hatten. Sie strahlten Krawalllaune aus. Micha aus meiner Klasse schien das neuste Mitglied der Gang zu sein. Sie standen im Raum und suchten Streit. Die Band verstummte, bis auf Olaf, der langsamer mitbekam, wie sich die Atmosphäre veränderte.

»Was treibt der Spasti da oben? Muss der nicht längst im Heiabettchen liegen?«, grölte die Dumpfbacke Joachim. Alleine unterwegs stritt er sich nie mit irgendwem, der brauchte seine Kumpels, um überhaupt den Mund aufzubringen.

Hans stürmte auf die Bühne, entriss Olaf das Instrument und scheuchte ihn runter.

»Hau ab, du Blödmann. Wir haben keinen Bock auf Hirnis.«

Olaf triefte. Ein Tropfen Speichel landete auf Hans Arm. Hans schubste Olaf um und hätte sich auf ihn gestürzt, wenn Tom nicht dazwischen gegangen wäre.

»Lass ihn in Ruhe. Wenn du dich prügeln willst, dann such dir jemanden, der es mit dir aufnehmen kann.«

Er schob Olaf aus der Gefahrenzone und gab mir mit seinem Blick zu verstehen, dass ich ihn in Sicherheit bringen sollte. Dazu hatte ich keine Lust. Ich wollte nicht, dass Hans und Tom aufeinander losgingen, aber wenn sie es taten, dann musste ich dabei sein. So brachte ich Olaf an den Tresen und bat den dicken Martin, ein Auge auf ihn zu haben.

»Und meinst du, du könntest es mit mir aufnehmen?«, höhnte mein Bruder.

»Natürlich kann ich das! Wozu soll es gut sein, wenn wir uns prügeln?«

»Das könnte dir vielleicht ein paar Manieren beibringen«, schrie Hans und zerrte Tom nach draußen. Seine Kumpane folgten den beiden und der halbe Saal schloss sich ihnen an. Schnell bildeten die Zuschauer eine Art Ring und feuerten die Kontrahenten an.

Zuerst umtanzten sie einander, wie Boxer. Hans Schritte wirkten unsicher. Zu viel Alkohol, aber die Wut trieb ihn an. Er holte aus und Tom machte einen Schritt zur Seite. Das wiederholte sich ein paar Mal und ich erkannte, wie sehr das seine Wut nur noch mehr anfeuerte.

Irgendjemand im Raum warf die Jukebox an. ›Great balls of fire‹ ertönte und brachte die Leute weiter in Rage.

»Hans, Hans, Hans«, skandierte die Menge.

Wieder und wieder versuche er, Treffer zu landen, denen Tom jedes Mal auswich.

»Das nennst du einen Kampf?«, fragte Hans.

»Ich wollte mich nicht schlagen«, entgegnete Tom. Ich vermutete, dass er darauf baute, dass Hans Energie schnell verbraucht sein würde und sie dann gemeinsam den Ring verlassen konnten, ohne einen Tropfen Blut vergossen zu haben. Aber so tickte mein Bruder nicht, er zog sein Klappmesser und fuchtelte Tom damit vor der Nase herum. Mein Vater hatte Hans das Messer weggenommen und ich wusste nicht, wie und wann er es sich zurückgeholt hatte. Einzelne Beobachter zogen hörbar die Luft ein. Es fand sich niemand, der dem Treiben ein Ende bereitete.

»Na, wie sieht es jetzt aus?«, höhnte Hans.

Tom wurde blass, schien dennoch nicht kneifen zu wollen. Beide schwitzten.

Plötzlich sah ich Olaf aus dem Augenwinkel. Seine Unterlippe hing schlaff hinab, er zitterte und fixierte Tom mit einem Blick, aus dem Unglaube sprach.

Aus der Kneipe erklang:

 

hang down your head, Tom Dooley

hang down your head and cry

hang down your head, Tom Dooley

poor boy you're bound to die
*

 

Obwohl Olaf keine Silbe Englisch verstand, schien er den Sinn der Worte zu begreifen und wollte seinem neuen Freund zu Hilfe eilen. Es ging alles so schnell, dass ich ihn nicht daran hindern konnte.

»Nein! Tom is’ mein Freund. Tu ihm nix!«, schrie er und lief auf Hans zu, der gerade wieder mit der Messerhand zustach. Ich kann nicht sagen, ob er in nüchternem Zustand schnell genug gewesen wäre, aber jetzt konnte er die Bewegung nicht stoppen und die Klinge verschwand komplett in Olafs Bauch. Mit einem Mal herrschte Stille. Nur die Musik spielte weiter.

Tom fing sich als Erster.

»Holt einen Krankenwagen! Sofort!«, brüllte er. Hans sank auf seine Knie und beteuerte immer wieder: »Das hab ich nicht gewollt. Wo kam der auf einmal her?«

Tom bettete Olafs Kopf auf seinen Oberschenkel und bemühte sich, ihn zu beruhigen: »Alles wird gut, Olaf. Halte durch. Der Krankenwagen kommt gleich. Nein, nicht einschlafen, Olaf. Komm, erzähl mir, wo du gelernt hast, den Bass so genial zu spielen.«

Ich sah, wie Olafs Adamsapfel auf und ab hüpfte, nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass Micha in die Kneipe stürzte, vermutlich, um den Rettungswagen zu alarmieren, und entdeckte die Träne, die sich aus Toms Auge löste und im Zeitlupentempo auf Olafs Stirn platschte. Als Nächstes bemerkte ich, dass Olafs Brust sich nicht mehr hob und senkte. Die Menge löste sich auf. Fassungslos blickte ich den Leuten nach. Die gingen einfach davon, als wäre nichts geschehen. Die Polizei würde Fragen stellen. Ich bemühte mich, mir alle einzuprägen, die plötzlich Wichtigeres zu tun hatten. Wie konnte nur aus einem schönen Abend so ein Albtraum werden?

Mein Bruder – ein Mörder; ich konnte es nicht fassen.

Die Sirenen erklangen und dann wimmelte es nur so von Polizisten.

Wir alle wurden mehrfach verhört, Hans wurde abgeführt. Er leugnete nichts.

Nach einer Weile nahm meine Mutter mich auf die Seite. Ich wusste nicht, wo sie herkam. Sie fuhr mich nach Hause. Vater sei mit dem Anwalt auf der Polizeiwache, um Hans beizustehen, berichtete sie.

 

Obwohl ich eben noch dachte, die Aufregung würde mir in dieser Nacht den Schlaf rauben, fielen mir die Lider zu, kaum, dass ich mich aufs Sofa legte.

 

Lisa blickte ihre Großmutter aufmerksam an. Das Beben der Lippen ließ nach, sie hing ihren Gedanken nach, aber Lisa wollte den Rest der Story auch noch hören.

»Und? Kam dein Bruder in den Knast?«, fragte sie.

Ein verträumtes Lächeln umspielte Adas Lippen. »Nein. Er wurde auf Bewährung verurteilt. Für ihn sprach, dass er betrunken war und nicht aktenkundig. Du wirst es nicht glauben, aber die Sache machte einen besseren Menschen aus ihm. Ich weiß nicht, ob das geglückt wäre, wenn es anders gelaufen wäre. Er hat es sich nicht einfach gemacht, ging persönlich zu Olafs Mutter und konnte ihr glaubhaft versichern, dass er Olaf nicht töten wollte. Er hat sie danach unterstützt, so gut er konnte.«

»Wie unterstützt? Er ging doch noch zur Schule?«, fasste Lisa nach.

»Er hat die Arbeiten übernommen, die Olaf vorher gemacht hat. Er mähte den Rasen, ging einkaufen und begleitete sie bei Behördengängen. Er hat es wirklich bereut.«

Einen Moment schwiegen beide, dann fragte Lisa: »Und dein Tom?«

»Seine Eltern steckten ihn in ein Internat. Sie waren es leid, dass er Schwierigkeiten magisch anzog und nach einem Jahr oder so zogen sie weg. Ich habe ihn nie wieder gesehen.«

»Oh, wie traurig, Omi.«

»Ja, das ist traurig, aber wir waren jung damals und bei jungen Leuten hält so eine Trauer nicht lange«, sie machte eine kurze Pause, »und ich hätte mich sicher auch heute nicht daran erinnert, wenn nicht dieses Lied gewesen wäre.«

Lisa stand auf, reichte ihrer Großmutter die Hand und zog sie hoch.

»Weißt du, wie ich ihn mir vorstelle?«

Ada schüttelte den Kopf. »Nein, wie?«

»Wie James Dean.«

Ada überlegte kurz und antwortete: »Ja, das kommt ungefähr hin.«

Beide lachten und stürzten sich ins Geschehen.

 

* Tom Dooley vom Kingston Trio erstürmte 1958 in Amerika die Charts. Die erste Aufnahme stammte vom Old Time-Duo Grayson und Whitter das den Titel Tom Dooley / On The Bank of The Old Tennessee am 30. September 1929 für Victor mit Violine und Gitarre aufnahm.

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Disclaimer

Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.

Freigabe zur Weiterveröffentlichung besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202403280213288fad25ee
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Erstellt: 08.12.2017, zuletzt aktualisiert: 08.12.2017 09:30, 16297