Der dunkle Wächter (Autor: Ruiz Zafón, Carlos)
 
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Der dunkle Wächter von Carlos Ruiz Zafón

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Nach dem Tod des geliebten Familienvaters Armand Sauvelle folgt der soziale Abstieg: Überall hatte er Schulden und so muss Mutter Simone wieder als schlecht bezahlte Aushilfslehrerin arbeiten, Sohn Dorian als Laufbursche und die vierzehnjährige Irene tanzt heimlich für Geld in einer Kaschemme mit Soldaten. Doch dann gibt es einen Lichtstreif, denn Simone bekommt eine Stelle als Hausverwalterin und Privatsekretärin beim abgeschieden lebenden Spielzeugfabrikanten Lazarus Jann angeboten. So fährt die Familie ins Fischerdorf Baie Bleue; dort liegt Cravenmoore, das Anwesen Janns. Jann ist ein genialer Ingenieur – die von ihm konstruierten Automaten unterscheiden sich kaum von ihren lebendigen Vorbildern. Als Arbeitgeber erweist er sich als ebenso großzügig: Neben der stattlichen Entlohnung Simones zahlt er das Schulgeld für die Kinder und – sollte eine entsprechende Neigung bestehen – würde auch ein Studium finanzieren. Dafür muss Simone allerdings hart arbeiten. Sie muss nach einem exzentrischen Muster seine Korrespondenz bearbeiten, sie muss die Geschäfte mit den Dörflern abwickeln und sie hat das ganze labyrinthische Anwesen mit all seinen unheimlichen Automaten in Ordnung zu halten – sieht man von Janns Arbeitsräumen und dem Flügel ab, in dem sich seine Frau vor Jahren zurückzog; diese Räumlichkeiten dürfen auf keinen Fall betreten werden.

 

Die Geschichte beginnt zwar 1936 in Paris, doch das ist quasi nur ein Prolog – die Zeit vergeht rasch und 1937 fahren die Sauvelles nach Baie Bleue, einem typischen Fischerdorf in der Normandie. Es gibt einfache, aber herzliche Menschen, eine raue und traumhaft schöne Küste und das entsprechend unkomplizierte Leben. Das Anwesen selbst ist durch einen finsteren Wald vom Dorf abgeschieden. Es ist groß und verwirrend aufgebaut, seine Einrichtung ist prächtig und düster – überall finden sich Automaten und andere mechanische Spielzeuge, die im Schummerlicht bedrohlich wirken können. In der Nähe des Dorfes gibt es noch eine kleine Insel mit einem verlassenen Leuchtturm, bei der es spuken soll – es heißt, eine Frau sei dort vor Jahren ertrunken und ihr Geist suche immer noch den Weg.

Das Setting ist recht knapp entwickelt. Mit einigen schnellen Strichen werden kraftvolle Skizzen entworfen, die es dem Leser erlauben sich die Szene im Duktus leicht vorzustellen, aber immer noch einigen Spielraum lassen. Nur wenn das Setting zur atmosphärischen Untermalung herangezogen wird, führt der Autor dieses weiter aus.

Es gibt nur zwei Arten von phantastischen Elementen: Da ist zunächst das Spielzeug des Jann. Lange Zeit kann der Leser darüber grübeln, ob es eher zur Fantasy oder zur Science-Fiction gehört, doch später neigt es deutlich zur Ersteren. Das Spielzeug ist zwar formal zentral, inhaltlich aber eher randständig. Das andere Element entstammt dann eindeutig der Fantasy und wird immanent wichtig. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Der Wirkung nach gehören die Elemente in jedem Fall zum Horror.

 

Die Anzahl der Figuren ist für einen Roman dieser Länge (es sind nominell 338 Seiten, aber davon gehen 10 Seiten für Prolog und Epilog ab, es gibt ein paar leere Seiten, der Rand ist breit und Schrift sowie Zeilenabstände groß – im normalen Format hätte der eigentliche Roman wohl nur gute 200 Seiten) mit sechs relativ groß. Daher sind sie auch recht schwach charakterisiert. Das verträgt sich gut mit dem Horrorthema, denn so wird dem Leser mehr Projektionsfläche geboten; zusammen mit der Zentrik der Figuren sollte es eine für die Wirkung des Horrors wichtige Identifikation erleichtern. Bei der Zentrik ist zu bedenken, dass die Geschichte 1937 spielt – die für heutige Zeit ungewöhnliche Prüderie und Bescheidenheit der Figuren war damals wesentlich geläufiger.

Bei den sechs zentralen Figuren handelt es sich zunächst um die Familie Sauvelle: Simone liebt ihre Kinder und möchte sie eigentlich stets überwachen und behüten; es fällt ihr schwer, sie gehen zu lassen. Ähnlich ist es mit ihrem verstorbenen Mann. Er nimmt einen großen Platz in ihrem Herzen ein, den sie nur sehr zögerlich bereit ist, anderen Männern zu gewähren. Irene ist eine Fünfzehnjährige zwischen Kind und Frau – sie flirtet ein wenig mit Jungs, ohne allzu offensiv oder anspruchslos zu sein, doch wenn sie sich entschieden hat, ist sie bereit etwas zu riskieren und geht forsch und mutig auf ihr Ziel los. Zwar liebt sie ihre Familie sehr, doch das heißt nicht, dass sie stets brav ist – sie verdiente in Paris heimlich Geld, um zu helfen, und trifft sich in der Normandie heimlich mit ihrem Freund. Ihr kleiner Bruder Dorian ist ein Eigenbrötler, der die Kartografie liebt. Außerdem ist er in Greta Garbo verschossen. Auch er steht treu zu seiner Familie.

Dann sind da noch Hannah und ihr Cousin Ismael. Hannah ist in Irenes Alter und hilft Simone im Haushalt. Sie ist ein wenig naiv, aber fröhlich und plappert gerne drauflos. Ismael ist beinahe ihr Gegenstück. Der Sechzehnjährige lebt seit dem Tod seiner Eltern bei seinem Onkel, dem er beim Fischen hilft; Ismael ist selbst ein guter Seemann. Doch der wortkarge Junge ist keineswegs ungebildet – sein eigenes Boot heißt nach Homers Beschreibung des Meeres Kyaneos. Die letzte Figur ist Lazarus Jann; da lange Zeit unklar ist, ob der freundlich scheinende Spielzeugfabrikant zu den Guten oder den Bösen gehört, sei an dieser Stelle nicht mehr über ihn verraten.

 

Auch der Plot ist typisch für Horror-Geschichten – es ist ein Mystery-Thriller. Die Sauvelles kommen mit gemischten Gefühlen in Baie Bleue an und leben sich überraschend gut ein. Zwar scheinen die Zustände im Fischerdorf verglichen mit jenen in Paris geradezu paradiesisch, doch der aufmerksame Leser wird die dunkeln Vorzeichen erkennen – und dann bricht der Horror mit der Gewalt eines Orkans über die Sauvelles (und den Leser) herein.

So sehen denn auch die Spannungsquellen aus. Zunächst werden die Figuren und das wild-romantische, bisweilen aber auch unheimliche Setting vorgestellt. Dann schieben sich unmerklich die Mystery-Elemente in den Vordergrund. Die bestaunenswerten und schaurigen Wunder nehmen an Präsenz zu wie auch die damit verbundenen Rätsel: Was hat es mit Lazarus Frau auf sich, was mit dem Spuk am Leuchtturm und warum fürchtet Hannah das Spielzeug so sehr? Schließlich drängen sich die direkten Bedrohungen in den Vordergrund, die zumeist mit Action-Szenen gelöst werden.

Hinzu kommt noch ein eigensinniger, lakonischer Humor: "Ismael wechselte einen Blick mit einem gleichmütigen Krebs, der ihn von der Felswand aus musterte und ein menschenkundliches Interesse an der Szene zu haben schien. Der wissende Blick des Schalentieres ließ keinen Zweifel. Man machte sich wieder über ihn lustig."

Auch der Plotfluss ist typisch: Es beginnt recht langsam, nimmt dann Fahrt auf und am Ende überschlagen sich die Ereignisse.

 

Erzähltechnisch ist der Roman ebenfalls konventionell. Es gibt einen Erzählstrang, der aus auktorialer Perspektive geschildert wird; da allerdings die Figuren nicht immer am selben Ort agieren, wirkt es bisweilen, als würde es drei bis vier Stränge geben. Generell ist die Handlung progressiv aufgebaut, doch die Rätsel erfordern einige regressive Momente; trotz einiger Sprünge wirkt die Handlung nie episodisch.

Der Stil ist von eigentümlicher Klarheit – zwar verwendet der Autor manches Sprachbild und nutzt gelegentlich Schachtelsätze, doch stets ist die Bedeutung leicht zugänglich. Im Einzelfall mag der Text für erfahrene Leser sogar etwas zu leicht verständlich sein, doch für die Zielgruppe (Zwölfjährige) scheint er gerade richtig zu sein.

 

Fazit:

Nach einer schweren Zeit in Paris ziehen die Sauvelles in die Normandie, doch auch dort werfen unheimliche Ereignisse ihren Schatten auf die Familie. Bald stellt sich die Frage, wie ihr anscheinend stets freundlicher Arbeitgeber Lazarus Jann in die Ereignisse verstrickt ist. Mit Der dunkle Wächter wurde ein sehr stimmungsvoller Gruselroman für Zwölfjährige veröffentlicht, die sich nicht am einfachen Stil und den (für erfahrene Leser) bekannten Elementen stören werden; bedenkt der erfahrene Leser dies, so kann auch er seinen Gefallen daran finden.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404251516139f528c61
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Roman:

Titel: Der dunkle Wächter

Reihe: -

Original: Las Luces de Septiembre (1995)

Autor: Carlos Ruiz Zafón

Übersetzer: Lisa Grüneisen

Verlag: Fischer FJB (September 2009)

Seiten: 344 - Gebunden

Titelbild: Unbekannt

ISBN-13: 978-3-596-85388-5

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 05.12.2009, zuletzt aktualisiert: 05.11.2023 16:44, 9705