Der entwendete Brief (Autor: E. A. Poe; Bibliothek von Babel Bd. 20)
 
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Der entwendete Brief von Edgar Allan Poe

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 20

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Mit dem zwanzigsten Band der Bibliothek von Babel wendet sich Herausgeber J. L. Borges einem der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller zu: Edgar Allen Poe. In der Sammlung Der entwendete Brief sind fünf unterschiedlich lange Erzählungen enthalten, die in den sechs Jahren von 1840 bis 1845 entstanden sind, sieht man von dem schon 1833 veröffentlichten Manuskript in der Flasche ab. Der entwendete Brief ausgenommen, erkunden die Geschichten verschiedene Spielarten des Horrors.

 

Zu den einzelnen Geschichten:

Der entwendete Brief (34 S.): Monsieur G., der Präfekt der Pariser Polizei, sucht den gewitzten Ermittler Dupin auf. G. ist in einer komplizierten Angelegenheit gekommen. Einer hochgestellten Persönlichkeit wurde ein delikater Brief entwendet. Nun sollte alles ganz einfach sein, da der Dieb bekannt ist – es ist Minister D. – und er muss ihn noch besitzen, denn der Wert des Briefes schwindet, sollte der Inhalt bekannt werden. Doch hier ergibt sich ein Problem: Die Wohnung von D. wurde heimlich höchst sorgfältig untersucht, jeder Millimeter mit einer Lupe überprüft. Auch wurde D. zweimal von 'Straßenräubern' überfallen und gefilzt – nichts zu finden. Und das wo doch D. ein Narr ist! Ob Dupin Rat weiß?

Diese Kriminalgeschichte ist die dritte und letzte mit Auguste Dupin, dem ersten Detektiv der Literatur; vorher war er in Morde in der Rue Morgue und Das Geheimnis der Marie Rogêt aufgetreten. Diese Figur ist sehr einflussreich: Arthur C. Doyles Sherlock Holmes ist dem brillanten und exzentrischen Ermittler von der deduktiven Arbeitsweise über den ich-erzählenden Freund bis hin zur Meerschaumpfeife nachgestaltet. Darüber hinaus war die Geschichte einflussreich, denn sie wurde nicht nur verfilmt, auch debattierten der Philosoph Jacques Derrida und der Psychologe Jacques Lacan per Briefwechsel hierüber.

Das Manuskript in der Flasche (19 S.): Finanziell unabhängig und von den Dämonen der Unrast getrieben schifft sich der Erzähler in Batavia als Passagier auf einen Java-Segler ein. Ein paar Tage nach der Abfahrt geraten die Seefahrer in einen mysteriösen Sturm, der aus dem Schiff ein kaum seetaugliches Wrack macht und den Großteil der Mannschaft über Bord spült. Nur der Erzähler und ein alter schwedischer Seemann bleiben. Sie treiben fünf Tage Hunger und Durst leidend auf dem Meer herum, bis sie schließlich in ein seltsames, unbekanntes Meer kommen, welches von schwarzen Wogen beherrscht wird. Dort stoßen sie auf ein gewaltiges, unheimliches Segelschiff.

Diese Horrorgeschichte bietet zwei Spannungsquellen. Eine offensichtliche ist das Abenteuer des Schiffbruchs mit anschließendem Darben und unheimlicher Begegnung auf See. Soweit ist es eine normale, wenn auch intensive Horrorgeschichte. Man versteht, warum Borges H. P. Lovecraft als Schüler Poes bezeichnet; Cthulhus Ruf erinnert in Teilen deutlich an diese Geschichte. Doch zu Beginn betont der Erzähler, er sei bei klarem Verstand – litt dieser wirklich nicht unter fünf Tagen Hunger und Durst? Damit wird es zur todorovschen Phantastik. Kein Wunder, dass Poe mit dieser Erzählung ein Preisausschreiben des Baltimore Saturday Visitor gewann.

Der wahre Sachverhalt im Falle Valdemar (17 S.): Der Erzähler erforscht den Mesmerismus. Er stellt fest, dass noch nie dessen Auswirkungen auf einen Menschen in articulo mortis untersucht worden sind. Zu diesem Zweck tritt er an seinen Freund Ernst Valdemar heran. Dieser leidet unter schwerer Lungenschwindsucht. Da sich bei dieser Krankheit der Todeszeitpunkt recht genau vorherbestimmen lässt, bittet er um Nachricht, wenn es soweit ist. Etwa 36 Stunden vor dem zu erwartenden Tod erhält der Forscher den ersehnten Brief; er eilt sofort los um mit einem grauenhaften Experiment zu beginnen.

In dieser Horrorgeschichte wird der Leser Zeuge eines schrecklichen Wunders. Der besondere Reiz der Geschichte liegt aber im recht realistischen Vorgang und dem nüchternen Stil: Man erhält den Eindruck den Tatsachenbericht eines Arztes zu lesen.

Der Mann in der Menge (17 S.): Der Erzähler sitzt in einem Londoner Café und beobachtet die vorüber ziehenden Menschen: die dezent gekleideten Herren, die unteren Angestellten mit dem schöngefetteten Haar, die wenig vertrauenserweckenden Taschendiebe, die Dandys und Militärs, die Hausierer und die Bettler. Schließlich sieht er in der Menge einen alten Mann, in dessen Gesicht sich Widersprüchliches spiegelt – Herzenskälte, Bosheit und Blutdurst, aber auch maßloses Entsetzen und grenzenlose Verzweiflung. Der Erzähler kann nicht anders und folgt dem Mann.

Hier gibt es zwei Spannungsquellen: Zum einen die urbane Stimmung, die Poe bei der Beschreibung Londons und seiner Bewohner einfängt, und zum anderen das Geheimnis des alten Mannes – hier baut der Autor auf die Phantasie des Lesers; ohne derartige Eigenleistung gibt es hier nichts Unheimliches. Diese Geschichte kommt ohne phantastisches Element aus.

Die Grube und das Pendel (31 S.): Der Erzähler erwacht verwirrt im Dunkeln. Es geht ihm nicht gut, er ist krank, sterbenskrank. Und dazu diese schreckliche Angst: Die bleichen Richter der Inquisition haben ihn zum Tode verurteilt. Langsam ficht er das Delirium zurück und gewinnt etwas Klarheit. Was soll mit ihm geschehen? Soll er für das nächste Autodafé als Opfer verwendet werden? Monate im Kerker warten? Ihm gehen die grausamen Foltermethoden durch den Kopf, von denen man in den Gassen Toledos flüsternd erzählt. Was droht ihm? Langsam beginnt er in seiner finsteren Zelle umher zu kriechen, halb auf einen Fund hoffend, halb ihn fürchtend.

Diese Horrorgeschichte setzt sich mit dem auseinander, womit sich Jakob Sprengers und Heinrich Institoris' Hexenhammer in der vierzehnten Frage des dritten Teils befasst – der Zeit vor der eigentlichen Folter: "Denn das häufige Nachdenken, das Elend des Kerkers […] machen ihn geneigt, die Wahrheit zu bekennen." Mit quälender Detailliertheit beschreibt Poe die sadistische Folterung der Seele. Auch diese Geschichte kommt ohne Übernatürliches aus.

 

Der Schauplatz wird in der Regel knapp, aber prägnant vorgestellt; nur in Der Mann in der Menge wird er – dort ist es London – weitergehend thematisiert. Knapper noch werden die Figuren behandelt: Zuweilen weiß man so gut wie nichts über die Handelnden, wenn mehr erforderlich ist, dann wird auch den Bedürfnis der Handlung entsprechend tiefer charakterisiert: In Der wahre Sachverhalt im Falle Valdemar wird z. B. die Haltung des Patienten gegenüber den Mesmerismus festgestellt. Die Figuren sind damit bloße Handlungsträger.

 

Der Plot der Geschichte Der entwendete Brief ist der eines Krimis: Es geht eben darum, dass der kluge Ermittler einen Kriminellen, einen Dieb, überführt. Die verwendete deduktive Methode um das gestellt Rätsel zu lösen sollte maßgeblich für das Bild der Kriminalliteratur werden; erst in jüngster Zeit wird weithin auch anderes darunter verstanden. Mit den Horrorgeschichten-Plots der anderen Texte verbindet der Brief das starke psychologische Thema: Dupin löst das Rätsel, weil er den Täter versteht. Vielleicht noch stärker spielt die Psychologie in Die Grube und das Pendel eine Rolle, wenn die ersten sechs Seiten mit Reflexionen bei geschlossenen Augen gefüllt werden, doch auch Der Mann in der Menge, der deutlich auf seine Umwelt reagiert, ist in dieser Hinsicht bemerkenswert.

Anders gesagt: Action fällt als Spannungsquelle aus.

 

Wie schon in Giovanni Papinis Der Spiegel auf der Flucht werden auch hier alle Geschichten aus der Perspektive eines Ich-Erzählers verwendet und auch hier reicht die Beteiligung vom einfachen Beobachter zum verstrickten Protagonisten. Vielfältig sind auch die Satzkonstruktionen, wobei Poe zum Komplizierten neigt; einer intensiven Prägnanz steht dieses jedoch nicht im Wege. Gestützt wird dieses durch die sorgfältige Wortwahl – Poe greift stets zum richtigen Begriff. Entsprechend der Figuren entstammen diese allerdings eher einer gehobenen Sprache.

 

Fazit:

Ob Detektiv Dupin Verbrecher jagt oder ein Opfer der Inquisition sich vor der zu erwartenden Folter ängstigt, in den fünf Geschichten sorgt die Psychologie für Spannung. Mit E. A. Poe hat J. L. Borges einen der einflussreichsten Vertreter der Phantastik ausgewählt: Über A. C. Doyle formte er den Kriminalroman mit, über H. P. Lovecraft, aber auch ganz direkt, die Horrorgeschichten. Es gibt eigentlich keinen Grund für Freunde der Phantastik (oder des Krimis) diesen Wortkünstler zu meiden.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024041820493792a4caaa
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Titel: Der entwendete Brief

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 20

Original: Ohne Angabe

Autor: Edgar Allan Poe

Übersetzer: A. von Bosse

Verlag: Edition Büchergilde

Seiten: 133-Gebunden

Titelbild: Bernhard Jäger

ISBN-13: 978-3-940111-20-3

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 01.05.2008, zuletzt aktualisiert: 12.04.2024 09:51, 6392