Der Geier (Autor: Franz Kafka; Die Bibliothek von Babel Bd. 12)
 
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Der Geier von Franz Kafka

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 12

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Mit dem zwölften Band der Bibliothek von Babel wendet sich Herausgeber J. L. Borges den verstörenden Geschichten Franz Kafkas zu. Der Geier enthält elf Erzählungen und andere Kurzprosa. Der Schwerpunkt liegt auf surrealen und grotesken Momenten; wie üblich befassen sich eine Reihe von ihnen mit den Themen Scheitern und Hilflosigkeit. Da es Kafka-Interpretationen und -Exegesen wie Sand am Meer gibt, will ich mich stark auf ein deskriptives Herangehen beschränken.

 

Die Geschichten im Einzelnen sind:

Der Geier (2 S.): „Es war ein Geier, der hackte in meine Füße.“ - Was für ein großartiger erster Satz! Es taucht ein fremder Mann auf – wird er Rettung bringen?

Hierbei handelt es sich um eine surreale, alptraumhafte Episode.

Ein Hungerkünstler (16 S.): Europa staunt fürbaß: Wie kann dieser Kerl bloß so lange ohne Nahrung auskommen? Es wird oftmals gemunkelt, er habe heimliche Vorräte und selbst die Nachtwächter wundern sich, wie er gleichzeitig singen und essen kann. Niemand weiß genau, ob er wirklich hungert – nur der Hungerkünstler selbst weiß es. Und der grämt sich, dass der Impresario stets nach 40 Tagen abbricht, da nach dieser Zeit das Interesse des Publikums schwindet – er könnte doch so viel besser sein. Irgendwann jedoch ist die Zeit der Hungerkünstler vorbei – die Leute kennen das Hungern nicht mehr und zahlen kein Geld um einen mageren Mann sehen zu können – und der Hungerkünstler trennt sich vom Impresario um eigene Wege zu gehen.

Diese melancholische Groteske reflektiert die Nicht-Akzeptanz des Ungewöhnlichen.

Erstes Leid (5 S.): Ein Trapezkünstler legt ein sonderbares Gebaren an den Tag: Wenn er es irgendwie einrichten kann, dann verlässt er sein Trapez nicht. Bisweilen stört dieses etwas: Auch wenn er sich während der übrigen Vorstellungen des Zirkus ruhig verhält, verirren sich doch immer wieder Blicke zu ihn. Trotzdem ist der Impresario bemüht, es dem brillanten Artisten so recht wie möglich zu machen – selbst bei den unvermeidlichen Reisen strengt man sich außerordentlich an.

Dies ist eine amüsante Groteske mit eigentümlichen Ende.

Das Stadtwappen (3 S.): Als man den Turm zu Babel plante, ließ man sich Zeit, denn eine Generation würde ein bis in den Himmel reichendes Bauwerk nimmer fertig stellen können. Wenn die Idee eines solchen Vorhabens einmal bestünde, so dachte man, dann würden die nachfolgenden Generationen sie fast zwangsläufig umsetzen müssen. Es wurde also viel Aufwand beim Bau der Arbeiterstadt betrieben. Da kam es zu Streitereien – wer hat den schönsten Stadtteil.

Eine gelungene Farce, die erzählt, wie große Projekte aufgrund von Bagatellen scheitern können.

Prometheus (1 S.): Außerordentlich knapp werden vier Varianten der Sage von Prometheus erzählt, die sich Schritt für Schritt vom Ursprung entfernen. Diese für gewöhnlich als Parabel gewertete Geschichte ist sehr unzugänglich: Mittlerweile habe ich sie fünf oder sechs Mal gelesen ohne mir einen zufriedenstellenden Reim darauf machen zu können.

Eine Kreuzung (3 S.): Der Ich-Erzähler berichtet von einem höchst bizarren Erbstück, welches er von seinem Vater erhielt: Eine Kreatur, die eine Kreuzung aus Katze und Lamm zu sein scheint.

Eine seltsame Fiktion: Eigentlich wird nur das Wesen anekdotenhaft beschrieben, doch es schwingen dunkle Untertöne mit, die eine tiefere Bedeutung vermuten lassen. Borges scheint dieser Text es angetan zu haben, denn er hat ihn auch in seine Sammlung Einhorn, Sphinx und Salamander aufgenommen.

Ein alltäglicher Vorfall (2 S.): Es ereignet sich ein überaus sonderbarer Vorfall: A. will mit B. ein Geschäft abschließen. Dazu muss A. nach H. reisen. Am ersten Tag benötigt A. für Hin- und Rückreise jeweils 10 Minuten. Am zweiten Tag – ohne dass sich die Umstände geändert hätten – braucht A. 10 Stunden für diesen Weg. Aber das ist erst der Anfang der Eigentümlichkeiten.

Aufgrund ihrer ironischen und mathematisch-lakonischen Art ist die Geschichte sehr komisch, doch thematisch – es geht um den Verlust grundlegender, logischer Wahrheiten – könnte sie H. P. Lovecrafts kosmischen Schrecken durchaus Konkurrenz machen.

Schakale und Araber (6 S.): In der arabischen Wüste versucht ein Reisender abseits der Reisegruppe zu schlafen, doch das Heulen der Schakale vereitelt diese Absicht. Schließlich treten diese an den Mann aus dem Norden heran: Sie bitten ihn gegen die Araber vorzugehen, da diese die Wüste verunreinigen würden.

Eine weitere surreale, traumhafte Episode, dieses Mal mit sprechenden Tieren.

Elf Söhne (8 S.): Ein Vater berichtet von seinen elf Söhnen, die alle ihre Stärken und Schwächen haben – der eine ist schön und athletisch, doch es fehlt ihm an Ehrgeiz, der andere ist ehrgeizig und hartnäckig, doch er hat sich von seinem Vater abgewandt etc.

Warum Borges diese Geschichte auswählte ist mir unklar; es werden nur knapp die Vorzüge und Makel sehr unterschiedlicher Söhne beschrieben.

Ein Bericht für eine Akademie (15 S.): Der von der Journallie aufgrund einer Narbe im Gesicht „Rotpeter“ genannte Affe ist quasi zum Menschen geworden. Nun soll er der Akademie davon berichten. Seine Erinnerungen beginnen, als er in einem Käfig gequetscht im Auftrag Hagenbecks nach Hamburg verschifft wird. Der Käfig ist viel zu eng – findet das Tier keinen Ausweg, so wird es elendig verrecken.

Diese bitterböse, ironische Parabel setzt sich mit verschiedenen Wesenszügen des menschlichen Verhaltens und vor allem dem Glück auseinander.

Beim Bau der Chinesischen Mauer (20 S.): Ein historisch-soziologisch interessierter Ich-Erzähler tut vom Bau der Mauer kund: Es wurden jeweils zwei 500 Meter lange Mauerabschnitte aufeinander zu gebaut. Damit sollte die Moral gehoben werden, denn wenn ein Ingenieur irgendwo anfängt und irgendwann irgendwo aufhört, warum soll er sich dann anstrengen? Doch der Erzähler weiß noch von einer verborgenen Motivation.

Was zunächst trocken als Beschreibung des Baus eines der Weltwunder beginnt, wandelt sich plötzlich in eine Verschwörungsgeschichte – und der Secret Master ist, wie häufig bei Kafka, die Bürokratie – oder modern gesprochen: das System.

 

Insgesamt ist der Band schwer zu beurteilen; einerseits ist Kafka einer der bedeutendsten Autoren der Moderne und viele seiner Fiktionen gehören zur Phantastik, andererseits kennt wohl jeder einen Text von Kafka und weiß, dass Kafka phantastische Texte schrieb. Borges entschied sich dazu den exzellenten Texten einen Band zu gewähren, auch wenn damit kaum eine Entdeckung gemacht wird. Die Auswahl der Geschichten halte ich weitgehend für gelungen, auch wenn es nach meinem Dafürhalten besser geeignete Texte als Elf Söhne gibt.

 

Fazit:

Der Geier enthält einige herausragende Texte Franz Kafkas; wer Surreales und Groteskes mag und Kafka noch nicht kennen sollte, wird an dieser Auswahl J. L. Borges seine Freude haben.

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Titel: Der Geier

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 12

Autor: Franz Kafka

Verlag: Edition Büchergilde, 2007

Seiten: Hardcover, 100 Seiten

Titelbild: Bernhard Jäger

ISBN-13: 978-3940111128

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 18.07.2007, zuletzt aktualisiert: 27.02.2024 17:30, 4500