Der Krake von China Miéville
Rezension von Ralf Steinberg
Verlagsinfo:
Tief im Forschungstrakt des Natural History Museum lagert ein außergewöhnliches Ausstellungsstück - eins der Sorte, die man normalerweise im Leben nicht zu Gesicht bekommt: ein perfekt erhaltener Riesenkalmar. Doch was hat es zu bedeuten, dass dieses Geschöpf plötzlich spurlos verschwindet? Der Kurator Billy Harrow begibt sich Hals über Kopf auf die Suche durch ein London voller Kulte, die einander bekriegen, surrealer Magie, Verrat und Meuchelmördern. Möglicherweise ist die Riesenkrake, die er im Museum aufbewahrt hatte mehr als nur eine biologische Rarität. Denn manche behaupten, sie sei eine alte Gottheit ...
Rezension:
Billy Harrow ist ein durchschnittlicher Londoner. Er arbeitet im Darwin Centre, einem Naturkundemuseum und hat sich auf Mollusken spezialisiert. Bei einer ganz normalen Führung durch die Gänge und ehrwürdigen Hallen des Museums geschieht das unvorstellbare: der Höhepunkt des Rundgangs, ein konservierter Riesenkrake ist samt Tank verschwunden. Dabei ist das Präparat so groß, dass es gar nicht aus dem engen Raum unbemerkt heraus geholt werden kann. Doch schon bald muss Billy erkennen, dass das Unmögliche sehr wohl möglich ist und noch eine ganze Menge mehr ...
Nun, der anfängliche Plot klingt nicht ganz überraschend für Leser von China Miéville. London ist bei ihm schon immer eine ganz besondere Stadt gewesen und nicht erst in Un Lon Dun führt er uns in eine seltsame Parallelwelt. So wird man erneut diverse Ideen wiederfinden, die er bereits in Kurzgeschichten oder in den Baslag-Romanen aufwarf. Zudem dürfte der umfassend belesene Phantastikfreund zumindest schon einmal von Neil Gaimans Neverwhere gehört haben, jener grandiosen Magieabfüllung Londons.
Was kann Miéville dem Thema Neues abgewinnen?
Nun, zunächst bietet er dem Leser eine zunehmend düster werdende Welt an obskuren Typen, zu denen etwa Sektensammler, Star Trek-Fans oder Gewerkschaftler gehören. Allerdings handelt es sich nicht um normale Nerds sondern am magisch begabte Wesen, oder wie es im Roman wortschöpferisch heißt: des Kunstens fähige Einwohner Londons. Diese Parallelwelt ist logischerweise mächtig, chaotisch und winkelgassengrau.
Das Verbrechen ist überall, aber auch eine Sonderabteilung der Polizei, die sich mit seltsamen Vorfällen beschäftigt, natürlich voller Insider. Auch dieser Aspekt dürfte bekannt vorkommen. Miéville kopiert das aber nicht einfach, er vertauscht Geschlechterrollen, erfindet nebenbei ein verrücktes Ermittlertrio und vor allem stellt er auf die Gegenseite ein finsteres Verbrecherensemble. Mit dem Duo Goss und Subby dürfte Miéville sogar eine neue Qualität des Bösewichts gelungen sein. Selten hat das Böse so hassenswert agiert. Es gibt sogar eine explizit eklige Szene, die umso übler erscheint, da sie offenbart, wie wenig die normalen gesellschaftlichen Normen in Miévilles London gelten. Doch obwohl die Figuren ständig behaupten, sie wüssten worum es geht und wohin das alles führen wird, lässt der Autor sie einfach durch die Handlung stolpern, frei aufeinander reagierend. Dabei entsteht eine Art Verwirbelung der Geschehnisse, die nur scheinbar auf ein Finale hinausläuft.
Auch hier trickst Miéville mit den Erwartungen. Die Figuren mühen sich selbst, das Finale zu erreichen. Nicht eine, sondern gleich zwei Apokalypsen recht schräger Glaubensrichtungen werden aufgeboten, um das wahre Ende herbeizuführen.
Mit jedem Kniff, der die Geschichte neu definiert, Figuren zerschellen lässt oder mal schnell neue universelle Gesetze erfindet, wird der Eindruck präsenter, dass Miéville sich selbst berauscht an den Möglichkeiten seines »kunstvollen« Londons. Das Auftürmen der Ideen und ihre philosophische Determinierung werden zunehmend barock.
Das betrifft auch die Religion.
Miéville beginnt mit der sehr plastischen Schilderung des Kraken-Kultes. Vom Prolog an wird eine uralte Religion vorgestellt, in deren Zentrum die Riesenkraken stehen. Wie in Verschwörungsstorys üblich, wird der gesamte Kult inklusive über Jahrhunderte hinweg angehäuftes Wissen, zerstört. Bei Miéville wird dieses Auslöschen auf mehreren Ebenen wieder verwendet. Da geht es um die Krakentinte, um die Tinte der Bücher und das irgendwie damit metaphorisch verbundene Wissen, aber auch um die geistliche Definition dieser Religion. Beständig steht die Frage im Raum, ob die Gläubigen die Götter schaffen oder nur auswählen. Dabei ist es gar nicht wichtig, ob die Frage beantwortet wird, sondern ob man wiederum dieser Antwort glaubt.
So gelingt es Billy in einer der Finalszenen, in pratchettscher Manier, das Universum davon zu überzeugen, dass der eingelegte Krake durch die Präparation zum Bestandteil einer ganz anderen religiösen Aggregation geworden ist. Der tatsächliche Kampf wird hier um die Deutungshoheit geführt. Dass all die mythologisch aufgeladenen Deutungen schlussendlich auf einen Glaubensverlust zurückzuführen sind, ist der eigentliche Clou des Romans. Während man sich immer tiefer in Apokalypsen, Machtkämpfen, Zeitbränden und ähnlich hirnschmelzendem Tohuwabohu verstrickt, laufen ganz profan menschliche Motive im Hintergrund ab.
Fraglos bietet Miéville mit »Der Krake« einen überbordenden und intellektuell ansprechenden Phantastik-Roman, jedoch nehmen die Unschärfen an den Rändern zu. Zu oft liegt der Fokus auf den phantastischen Details. Die Figuren wachsen nicht, sondern werden ungekrempelt, wie auch die Handlung immer mal wieder um unbekannte Monde zu kreisen scheint. Man wünscht sich mehr Konzentration.
Mit dem Titelbild von Arndt Drechsler kann man sehr zufrieden sein. Düster, aber thematisch auf den Kopf des Kraken getroffen. Phantastik bei Bastei ohne Drechsler scheint unvorstellbar zur Zeit.
Fazit
»Der Krake« von China Miéville ist ein randvoller Zirkus des Phantastischen. In seiner Manege trifft man auf bekannte Nummern in neuen Kostümen, aber auch sensationelle Ideen in Welturaufführung. Aber nur, wer auch den Clown im Auge behält, verpasst nicht die Höhepunkte.
Nach oben