Der Mann unter der Treppe (Autor: Marie Hermanson) (Kopie 1)
 
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Der Mann unter der Treppe von Marie Hermanson

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Frederik Wennéus kann sich glücklich schätzen: Seine schöne Frau Paula ist eine aufstrebende Künstlerin und er hat zwei süße kleine Kinder – Fabian und Olivia. Nach der Geburt Fabians hatte er seine Frau beknien müssen noch ein Kind zu bekommen, da Paula große Angst vor körperlichen Schmerzen hat, aber Frederik hatte sich so sehr eine Tochter gewünscht. Eigentlich hatte er Karriere in Göteborg machen wollen, aber mit zwei kleinen Kindern lernte er schnell die Sicherheit einer festen Stelle in Kungsvik zu schätzen. Außerdem bietet das Leben in der Kleinstadt den Kindern viel mehr Möglichkeiten. Jetzt hat Familie Wennéus ein wunderschönes altes Haus abseits der Stadt bezogen. Die Vorbesitzer haben es überraschend günstig abgegeben – bei diesem Preis hätte man sich in der Stadt nur eine kleine Wohnung leisten können. Eines Nachts, als Frederik wieder einmal nicht schlafen kann, begegnet er einem sonderbaren Kerl in der Küche. Der heruntergekommene Mann hatte gerade eine kleine Reparaturarbeit erledigt. Frederik will ihn hinauswerfen, doch der Kwådd – wie sich der nuschelnde Fremde nennt – behauptet unter der Treppe zu wohnen. Als er darauf verschwindet, hält Frederik die Begegnung für einen seiner sonderbaren Träume. Doch auch Fabian kennt den Mann unter der Treppe und weiß, dass er nett und gefährlich ist. Das Glück der Familie gerät immer mehr ins Wanken und der Kwådd wird immer aktiver – und gewalttätiger.

 

Die Kleinstadt Kungsvik liegt nicht weit von Göteborg an der schwedischen Westküste. Zunächst wird die Idylle – das schöne alte Haus mit dem prächtigen Garten und den umliegenden Wald – beschrieben, sogar recht ausführlich, wenn auch eher oberflächlich. Dann verschiebt sich der Fokus vom Schauplatz hin zu den Menschen – und dringt immer tiefer. Dann werden Details des Alltags thematisiert, die jedoch das Handeln der Figuren massiv beeinflussen – gerade die Arbeit Frederiks nimmt an Bedeutung zu. Ist das Setting in den ersten Kapiteln noch eher ein schönes Ambiente, so wird es im Laufe der Geschichte rasch zum Milieu mit Figuren, die fest im gegenwärtigen Schweden verwurzelt sind.

 

Frederik ist die Hauptfigur. Er stammt aus einer armen Arbeiterfamilie; seine Mutter arbeitete stets und sein trinkender Vater verlor fast ebenso schnell einen Job, wie er einen neuen auftat. Es war ein Schock für das Kind Frederik zu erfahren, dass sein Vater nur sein Stiefvater war – sein biologischer Vater war anscheinend geistesgestört und daher in einer geschlossenen Anstalt. Frederik schämt sich ob seiner Herkunft; Paula gegenüber lügt er sogar. Eigentlich würde er gerne ein Yuppie sein, doch seit es mit der Geld verachtenden Paula ernst wurde, hat er auf Sicherheit und Familie umgesattelt: Er will seinen Kindern mit aller Kraft ein heiles Zuhause bieten. Sogar die klassischen Rollen sind z. T. vertauscht. Frederik kümmert sich besorgt um die Kinder und macht immer um fünf Uhr Feierabend um Fabian aus den Kindergarten abzuholen, während Paula Karriere als Künstlerin machen will, ihre Arbeitszeit daher nicht einschränkt und den Kindern viele Freiheiten gewährt. Dass mit Frederik etwas nicht stimmt, wird dem Leser sofort klar: Er leidet unter Schlafstörungen. Dann liegt er oftmals stundenlang starr im Bett und hat bizarre oder morbide Phantasien. Manchmal weiß er nicht genau zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Im Laufe der Geschichte erleidet er einen stärker werdenden Realitätsverlust. Die zunehmende Frustration staut sich in Frederik auf – und macht ihn zunehmend gewaltbereit.

Weitere wichtige Figuren sind Paula und Fabian. Während man von Paula noch ein einigermaßen klares Bild erhält – sie ist eine willenstarke Karrierefrau aus der Oberschicht, die nach einem Unfall ihre Ziele in der Kunst zu erreichen versucht – sieht man Fabian nur durch Frederiks Augen. Und die sehen den Jungen rapide verrohen. Projiziert Frederik seine Stimmung auf seinen Sohn? Eine der Stärken des Romans ist zweifellos die feinsinnig wiedergegebene Wandlung der Figuren: Der zurückhaltende, zögerliche Frederik wird aufgrund des Realitätsverlustes immer aggressiver und die selbstbewusste, starke Paula immer hilfloser und verzweifelter.

Daneben gibt es noch einige weitere Verwandte, Bekannte und Arbeitskollegen, die jeweils nur knapp charakterisiert werden können, aber dennoch sehr rund wirken.

Es bleibt der Kwådd zu erwähnen. Diese eigenartige Gestalt ist klein, nur etwa 1,5 m groß, und hat dunkle, verfilzte Haare und einen ebensolchen Vollbart. Seine verschmutzten T-Shirts und Jogginghosen unterstreichen den Eindruck der Verwahrlosung. Eigenartigerweise nuschelt er mal und mal spricht er mit kristallklarer Stimme. Anfangs ist er hilfsbereit, doch je mehr Fredrik versucht ihn zu vertreiben, desto aggressiver wird er – das kontaktscheue Wesen verhält sich wie ein moderner, heruntergekommener Kobold. Sieht man von Frederik und Fabian ab, so hat keiner direkten Kontakt mit ihm – ist er nur ein Produkt der Phantasie?

 

Der Plot ist ungewöhnlich: Es ist eine Mischung aus Psychothriller und Rätselplot einer todorovschen Phantastikgeschichte. Üblicherweise begleitet der Leser bei einem Psychothriller den Kommissar auf der Jagd nach dem Psychopathen oder das Opfer des Geisteskranken durch sein Martyrium. Hermanson dagegen schildert das Geschehen aus der Sicht des geistesgestörten Frederik. Es geht um viele Alltäglichkeiten, die Frederik stressen und frustrieren und um seine Versuche damit umzugehen. Spannungsquelle ist hier vor allem die Entwicklung Frederiks und Paulas, aber auch die latente Bedrohung, die von Frederik – oder dem Kwådd – ausgeht. Damit hängt über der Familie stets ein Damoklesschwert.

Lebt wirklich ein aggressives Wesen unter der Treppe? Oder ist der Aggressor Frederiks "alter Ego", das die Drecksarbeit für den anständigen Mann erledigt? Der Roman legt die letztere Deutung nahe. Doch es gibt auch ein paar Hinweise, die vermuten lassen, dass Kwådd real ist. Zunächst sind diese recht subtil, doch gegen Ende gibt es auch eher plumpe Winke. Insgesamt bleibt die Unschlüssigkeit meines Erachtens über das Ende hinaus bestehen.

Damit drängt sich ein Vergleich mit Henry James Das Durchdrehen der Schraube auf. Dort stellte sich dem Leser die Frage, ob die junge Erzieherin eine Hysterikerin ist, die ihre überreizten Vorstellungen auf ihre Umwelt projiziert, oder ob es tatsächlich die Geister der bösen Diener sind, die ihre zwei Schützlinge bedrohen. James' Werk ist subtiler und in der Ausdeutung offener – damit wohl künstlerisch anspruchsvoller. Hermansons Werk ist leichter zugänglich und entwickelt sich wesentlich rasanter – damit ist es wesentlich unterhaltender.

 

Der Handlungsaufbau ist zwar dramatisch, da sich die Handlung aber über ein Jahr erstreckt, gibt es einige chronologische Sprünge. Trotz einiger regressiver Erläuterungen ist die Geschichte progressiv und klar desillusionierend – sie ist durchaus emotional anstrengend. Es gibt nur einen Strang, der aus der personalen Sicht Frederiks geschildert wird; ein Kapitel allerdings wird aus Paulas Perspektive erzählt – ob dieses nun als literarischer Kniff oder Fehlgriff zu werten ist, bleibt dem geneigten Leser überlassen.

Der Stil ist emphatisch; die Sätze sind oft kurz und abgehackt um die Gedankengänge Frederiks einzufangen. Angehängte Halbsätze simulieren die Stream-of-Consciousness-Technik ohne so kompliziert zu sein. Die Wortwahl ist weitgehend modern und eingängig, auch wenn es ein paar Wendungen gibt, die im skandinavischen Sprachraum unauffällig, aber im deutschen ungewöhnlich klingen.

 

Fazit:

Familie Wennéus bezieht ein Traumhaus – aber die Idylle zerbricht mit dem Auftreten des mysteriösen Kwådd. Ein spannender Psychothriller mit hervorragenden Figuren. Leider sind einige Hinweise etwas plump geraten, sonst aber ist es zudem noch ein geschicktes Spiel mit der Unschlüssigkeit: Ist der Kwådd real? Doch noch ein Wort der Vorsicht: Die Geschichte ist so wenig heiter, dass sie emotional durchaus anstrengt.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404242230346d0be152
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Der Mann unter der Treppe

Autor: Marie Hermanson

Suhrkamp, Juni 2007

Broschiert, 269 Seiten

ISBN-10: 3518458752

ISBN-13: 978-3518458754

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 07.08.2007, zuletzt aktualisiert: 12.04.2024 09:51, 4647