Druckversion: Der Report der Magd (Autorin: Margaret Atwood)

Der Report der Magd von Margaret Atwood

Rezension von Ralf Steinberg

 

Verlagsinfo:

In der Republik Gilead lässt man Desfred keine Wahl: sie muss gebären. Sonst wird sie, wie alle Abweichler, entweder an der »Mauer« gehenkt oder in einen langsamen Strahlentod geschickt. Aber kein noch so totalitärer Staat kann das Begehren auslöschen – weder das von Desfred noch das der beiden Männer, die ihre Zukunft in der Hand haben …

 

Rezension:

Ein Staatsstreich bringt christliche Fanatiker an die Macht in den USA und sie errichten ein brutales totalitäres Regime. Massive Probleme mit der Fruchtbarkeit ihrer Frauen lässt die Elite ein perfides System entwickeln: Frauen, die vor dem Sturz der Demokratie bereits ein Kind zur Welt brachten und nicht zur Elite gehören, erzieht man zu Mägden um. Sie leben im Haushalt eines Mächtigen und müssen sich in einer grotesken Zeremonie vom Hausherren begatten lassen. Die Ehefrau sitzt dabei hinter der Magd.

Der Bericht einer solchen Magd, nach ihrem Kommandanten als Desfred benannt, steht im Zentrum des Romans.

 

Margaret Atwoods 1985 erschienener Roman gehört inzwischen zu den Klassikern der Science-Fiction, ohne unbedingt als SF wahrgenommen zu werden, und ist in jüngster Zeit durch die Verfilmung als TV-Serie und im Kontext der US-Präsidentschaft von Donald Trump wieder verstärkt in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Atwoods düstere Extrapolation einer Welt, in der die Gleichberechtigung der Frau wieder zurückgedreht wurde, um der Sicht religiöser Spinner zu entsprechen, ist genau deshalb so berührend und erschreckend, weil es diese Spinner immer noch gibt und sie lauter denn je nach einem Umsturz brüllen.

 

Atwood beginnt ihren Report der Magd langsam. Aus dem Alltag der Magd heraus erfahren wir nach und nach, wie das gesellschaftliche System aufgebaut ist, dass es eine zerstörte Welt davor gibt und dass es Konsequenzen hat, die Regeln zu übertreten.

Wir erfahren den wahren Namen der Magd nie. Solange sie im Haus wohnt, heißt sie nach ihrem Hausherrn ›Desfred‹. Ihr ist es verboten zu lesen, mit Männern zu reden oder überhaupt etwas anderes zu tun, als nach strengen Regeln einzukaufen und sich begatten zu lassen. Aus Angst vor Selbstmord gibt es kaum irgendwelche Gegenstände in ihrem Zimmer. Man unterzieht sie einer strengen Diät, ganz aufs Gebären ausgerichtet. Ihre Kleidung ist festgelegt: rotes Kleid, weiße Haube, die ihren Gesichtskreis einschränkt, denn sie soll nichts sehen und ihr Gesicht verborgen bleiben.

Alles dient dazu, die Mägde auf ihre Rolle als Gebärende zu beschränken. Als Leihmutter. Drei Chancen auf ein Kind bekommen sie.

 

Diese Beschränkung auf eine einzige nützliche Funktion ergibt eine zunächst unterschwellige Bedrohung, die sich immer deutlicher herauskristallisiert, je mehr wir über diese schreckliche Gesellschaft, ihre inneren Abläufe und Strukturen erfahren.

 

Aber auch die Bruchstücke aus dem Leben unserer Hauptfigur vor der gesellschaftlichen Veränderung bringen immer mehr das Gefüge der Alltäglichkeit zum Einsturz. Es ist bitter zu erleben, wie sehr sie sich änderte, ändern musste. Besonders bewegend ist ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Körper. Sie mag ihn nicht mehr ansehen, cremt ihn aber ein in der Hoffnung, dass er irgendwann einmal wieder aus Liebe begehrt wird. Margaret Atwood nutzt zur Darstellung der Sehnsüchte ihre Figur die Bedeutung von Kleinigkeiten. Die vier Buchstaben auf einem Kissen werden als »Lesen« genossen, als Widerstand. Jedes Ding wird bewusst wahrgenommen. Handtücher erinnern in ihrer Normalität an das Verlorene, zerstörte, eine Gardine wird zum Schleier …

 

Ein typischer Begleiter einer Diktatur ist die permanente Angst. Atwood zeigt das mühelos in jeder noch so kleinen Szene. Die als Martha eingestufte Hausangestellte Cora lässt das Tablett fallen ließ, weil sie denkt, Desfred hätte sich umgebracht und dann verbünden sich die beiden, aus Angst Scherereien zu bekommen. Erwachsene Frauen.

 

Doch Desfred kommt irgendwann an den Punkt, da sie ihre Angst abzuschütteln beginnt. Ihr Leben wird immer komplizierter und ihr ist bewusst, dass es keinen glücklichen Ausweg geben wird. So beginnt sie zu nehmen, was sie bekommen kann. Als sie erkennt, dass der Kommandant sie insgeheim zu einer ganz normalen Geliebten umfunktionieren will, geht sie darauf ein. Es hilft gegen die Langeweile und erlaubt ihr, zu lesen, zu spielen, sich als Frau wahrgenommen zu sehen. Dabei können wir hinter die Fassade der Regime-Elite blicken, als sie der Kommandant dazu überredet, mit ihm auszugehen. Sie darf ein Kleid anziehen, sich schminken und in aller Heimlichkeit fahren sie zu einem Klub, der in Wahrheit nichts anderes als ein Puff ist. Hier erlebt man wie der Kommandant in der Öffentlichkeit tickt. Ein Angeber, Machtmensch, der eine ganz spezielle Lebensweise führen möchte. Es gibt da eine Diskrepanz zwischen seinem häuslichen Leben voller sittenstrenger Regeln und Pflichten und den Ausschweifungen jenseits des erlaubten und auch von ihm selbst getragenen gesellschaftlichen Rahmens. Im Fokus stehen aber auch hier die Frauen. Durch die aus der Umerziehungsanstalt geflohene Moira erfahren wir, dass sich die Frauen hier ein paar Jahre fragwürdiger Freiheit erkaufen. Als Alternative gibt es nur tödliche Zwangsarbeit, gesellschaftliche Unterdrückung oder Tod. Diese Gesellschaft ist für Frauen in höchstem Grade toxisch. Selbst für die Ehefrauen, also eigentlich Begünstigte und Stützen des Systems.

 

So geht unsere Magd mit der verbitterten Hausfrau einen Pakt ein. Nick, der Chauffeur, der schon die geheimen Treffen mit dem Kommandanten arrangiert, soll mit Desfred schlafen, um endlich schwanger zu werden. Bei Nick bekommt Desfred dann endlich wieder echten Sex, Zärtlichkeiten, partnerschaftliches Reden.

Dabei vergisst sie dennoch nie ihren Mann und ihre kleine Tochter. Einen kurzen Blick auf das Bild des Mädchens ist der Preis, den Desfred für das Schlafen mit Nick von der Ehefrau erhält. Dahinter verbirgt sich etwas, dass die ganze Umerzieherei und Unterdrückung verdrängen will: Liebe, Begehren, Sinnlichkeit. In den Visionen der brutalen Umerziehungs-Tanten kommt das nur als Sünde vor. Sie erträumen sich eine Gemeinschaft von Frauen, die alle brav und froh ihre Pflichten erfüllen. Dienen und Gebären. Für die Ehefrau ist die Kinderlosigkeit nicht nur ein gesellschaftlicher Makel, durch ihn muss sie auch das beständig staatlich angeordnete Fremdgehen ihres Mannes ertragen. Wo man auch hinschaut, der gesellschaftliche Druck auf die Frauen ist hoch.

 

Dabei pervertiert das soziale Leben in großem Umfang. Atwood bebildert diese Entwicklung mit eindrucksvollen Szenen.

In der Geburtsritualszene werden die Mägde und Ehefrauen in zwei getrennten Zirkeln zusammengebracht. Während die Mägde mit einstudierten Rufen die Geburt begleiten und miterleiden müssen, feiern die Ehefrauen eine Scheingeburt, in der die nichtschwangere Ehefrau so tut, als würde sie gebären und nicht ihre Magd. Eine fast urzeitlich anmutende Massenorgie. Das ist etwas, was vielen Dystopien fehlt, ein nachvollziehbares Brauchtum. Diktaturen erschaffen solche Riten und verbindende Veranstaltungen.

Noch deutlich wird das in einer weiteren Szene. Die Errettung ist eine Zeremonie in der Frauen hingerichtet werden, die die Regeln brachen. An sich schon eine bitterböse Sache, die an die öffentlichen Selbsterniedrigungen während der Kulturrevolution erinnert (nachzulesen etwa in Cixin Lius Die drei Sonnen). Atwood setzt noch eins drauf. Die unter hohem psychischen Druck stehenden Mägde zerreißen einen Mann, der ihnen als Vergewaltiger präsentiert wird. Das System macht die Frauen nun zu Henkerinnen, aus den Opfern werden Täterinnen. Das ist jetzt mehr als Mitlaufen, Mitmachen, weil die Alternativen zu schrecklich sind. Eine perfide Strategie.

 

Dazu kommt die Erkenntnis, dass die Tochter der Magd schon bald zu jenen Frauen gehört, die sich kaum noch an eine andere Welt erinnern. Die nur noch das System aus Dienen und Gebären kennen. Kein Wunder, dass Atwood ihre Hauptfigur trotz der kuscheligen Liebesaffäre mit Nick immer wieder an Selbstmord denken lässt.

 

Das Ende ist offen mit leicht hoffnungsvoller Tendenz. Aber nach all dem Schrecken, den wir mit ihr erleben mussten, kommt kein Aufatmen zustande.

 

Und was macht Margaret Atwood dann? Sie springt weit in die Zukunft und lässt einen Historikerkongress die Glaubwürdigkeit des Berichts untersuchen. Was für ein Kontrast. Da sitzen ein paar Männer zusammen, machen pubertäre Witze, lachen in lockerer Runde und betrachten das ganze mit nüchterner Analyse-Brille. Von Empathie ist nichts zu spüren.

Atwood wirft uns nach ihrer grauenvollen Dystopie mal eben ganz locker in einen Debattierclub, der nur scheinbar in der Zukunft tagt. Denn eigentlich beschreibt sie da die Gegenwart. Genauso würde über den Bericht einer Sklavin aus dem 18. Jahrhundert geredet werden. Eine sehr interessante Art, diesen Roman enden zu lassen.

 

Die stilistische Meisterschaft Atwoods trägt sowohl die Gräuel als auch die sanften Momente der Handlung. Helga Pfetsch als Übersetzerin hat Großartiges geleistet, diese Meisterschaft zu wahren.

 

Erwähnenswert ist auch das edle Design der Ausgabe des Berlin Verlages. Während der Schutzumschlag schwarz gehalten ist und nur die Silhouette der Magd in leuchtendem Rot ihres Kleides und dem reinen Weiß ihrer Haube erstrahlen, ist das Buch selbst komplett tiefrot. Sogar alle Seitenränder tragen diese Farbe und beeinflussen den haptischen Eindruck des Lesens.

 

Für den 10. September 2019 hat Atwood das Erscheinen eines Sequels unter dem Titel The Testaments angekündigt.

 

Fazit:

»Der Report der Magd« von Margaret Atwood erweitert den dystopischen Blick Orwells um die Sicht auf die Rolle der Frauen in totalitären Regimen. Und wie der IS bewies, tun sich Menschen so etwas wirklich an. Man muss sich stets bewusst machen, dass aus der Einschränkung von Menschenrechten, aus welchen Gründen auch immer, Verbrechen hervorgehen. Margaret Atwood reibt uns das mit großer Kunstfertigkeit und Mitgefühl für ihre weiblichen Figuren unter die Nase.

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Buch:

Der Report der Magd

Originaltitel: The Handmaid’s Tale, 1985

Autorin: Margaret Atwood

Übersetzerin: Helga Pfetsch

Gebundene Ausgabe, 413 Seiten

Berlin Verlag, 17. November 2017

Cover: Suzanne Dean und Noma Bar

 

ISBN-10: 3827013844

ISBN-13: 978-3827013842

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B01N74WXJQ

 

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, zuletzt aktualisiert: 10.03.2024 18:58