Der Vampir (Autor: John Marks)
 
Zurück zur Startseite


  Platzhalter

Der Vampir von John Marks

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Evangeline Harker sieht der Zukunft mit gemischten Gefühlen entgegen: Einerseits hat ihr Verlobter Robert ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht und ihr einen wunderschönen Diamantring geschenkt, andererseits ist sie Producerin für The Hour, der bedeutendsten Nachrichtensendung des US-Fernsehens, und muss in dieser Funktion nach Rumänien. Dort soll sie prüfen, ob sich ein Interview mit Ion Torgu, dem mächtigsten Unterweltboss Osteuropas arrangieren lässt. Alleine nach Rumänien, um dort einen skrupellosen Frauenhändler, Waffenschieber, Mörder und Schlimmeres zu treffen – Eve ist mulmig zumute. Zufälligerweise trifft sie in Rumänien eine weitere Amerikanerin: Clementine "Clemmie" Spence, die wie Eve aus Texas stammt. Da sie in die gleiche Richtung muss, nimmt Eve sie mit. Clemmie behauptet Missionarin zu sein, doch irgendetwas macht Eve misstrauisch – weiß die Andere etwas über ihre Aufgabe? Spioniert sie für einen feindlichen Sender? Dann verpasst Eve aufgrund eines Trauerzuges für ein totes Kind auch noch den Termin, doch es scheint, als habe ihr Kontakt auf sie gewartet. Der Mann ist ein Freak – unglaublich hässlich und von sonderbaren Gebaren. Er behauptet Ion Torgu selbst zu sein und, wenn sie ein Interview wolle, müsse sie jetzt sofort mit ihm mitkommen; telefonieren könne sie noch am nächsten Tag.

 

Das Geschehen findet in der nächsten Vergangenheit statt. Der 11. September und Ground Zero werden gelegentlich erwähnt und oft als Maßstab des Grauens verwendet. So arbeitete Eve im Gebäude neben den Twin Towers, doch sie muss feststellen, dass die Welt noch viel Grauenvolleres bereithält. Auf der anderen Seite ist es implizit wichtig, dass George W. Bush der US-Präsident ist. Es gibt Handys, E-Mails und vor allem top-moderne Fernsehtechnik. Der Leser erfährt einiges über die einzelnen Schritte in einer Nachrichtensendung, von den Hierarchien im Sender, über das Scouting der Producer hin zur digitalen Bearbeitung durch die Cutter. Wie sich der Leser denken kann, findet der größte Teil des Geschehens in New York statt, genauer gesagt, im Gebäude des Senders, in dem The Hour produziert wird. Daneben gibt es etwas Handlung in Rumänien, in Draculas Heimat Transsylvanien.

Bei der Darstellung des Settings lässt sich eine eigenwillige Diskrepanz feststellen. Während Rumänien selbst nur in zwei oder drei Szenen etwas ausführlicher beschrieben wird, wird das verkommene und verwahrloste Ambiente zumeist nur zur atmosphärischen Untermalung herangezogen. Der Sender wird dagegen immer wieder detailliert beschrieben; hier ist das Setting zusätzlich ein Milieu. Dieses wiederum wird sehr ausführlich zur Darstellung der allgegenwärtigen Paranoia, verwendet.

Es gibt nur ein phantastisches Element und das tritt oft nur zurückhaltend auf, ist dafür aber zentral für den Plot: der Vampir Ion Torgu. Um die Spannung nicht zu verderben, will ich an dieser Stelle nur wenig preisgeben: Einerseits setzt sich Der Vampir nicht nur mit dem Vampir-Motiv, wie es in Bram Stokers Dracula etabliert wurde, auseinander, sondern erheblich davon ab – was natürlich nichts Ungewöhnliches für Romane des späten 20. Jh. ist. Andererseits stellt Marks nicht umsonst ein Zitat aus Homers Odyssee (dem elften Gesang, in dem Odysseus die Toten beschwört) voran; damit erinnert es in gewisser Weise auch an Brian Lumleys Necroscope.

 

Die Anzahl der relevanten Figuren ist gemäßigt groß. Sie sind im Wesentlichen rund, vielschichtig und zentrisch. Allerdings lässt die Konzentration auf Angestellte des Senders sie bisweilen etwas exzentrisch und von Archetypen abgeleitet erscheinen. Es gibt vier Figuren mit eigenem Blickwinkel.

Da ist zunächst Evangeline Harker, die Wichtigste der Protagonisten. Sie ist eine junge Frau, die nach einer unglücklichen Affäre zur 'Wiedergutmachung' einen Job als Producerin bei The Hour bekommen hat. Zwar könnte sie leicht Besseres bekommen – ihr Vater ist ein texanischer Ölbaron und verfügt über beste Beziehungen – doch sie legt viel Wert auf ihre Unabhängigkeit. Dabei liegt ihr das alles nicht im Blut: Ihr Job stresst sie sehr, sie ängstigt sich vor den Rumänienauftrag und hat schon überlegt, alles hinzuschmeißen. Dann wäre sie nur noch die Gattin Roberts – wäre das so schlimm? Schlimm genug. So macht sich die Willensstarke, aber auch unsichere Producerin auf, um den Paten Osteuropas zu casten.

Die zweitwichtigste Figur dürfte Austen Trotta sein. Trotta ist Korrespondent bei The Hour und der Vorgesetzte von Eves Vorgesetzten. Er stammt aus einer Familie galizischer Juden und sein Judentum ist ihm selbst bisweilen ein Rätsel. Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters – er ist über sechzig – leidet er unter Krebs und hat permanent starke Rückenschmerzen. Zwar hat er die nötige Härte, um den Job gut zu machen, dennoch ist er ein anständiger Mensch, der sich um seine Mitarbeiter sorgt.

Es folgen Julia Barnes, eine aufmerksame Cutterin, die einst zum gewaltbereiten politischen Widerstand der USA gehörte und sogar auf der Flucht vor den Bundesbehörden war, und Stimson Beever, ein etwas naiver und sensibler Produktionsassistent, der zu den besten Freunden Eves gehört.

Neben diesen Figuren gibt es noch einige weitere für den Plot wichtige Figuren: Da ist der paranoide Chef Bob Rogers, die taffe Chefproducerin Sally Benchbarn, die eitle Sendungsikone Ed Prince, die zwielichtige Missionarin Clemmie Spence, Eves Verlobter Robert, Eves Freund Ian und der Pechvogel Remschneider, um nur einige zu nennen. Anfangs wird es dem Leser zweifelsohne schwerfallen, sich im Namensdickicht von The Hour zurechtzufinden.

Obschon die Figuren quasi das Herz des Romans sind, entwickeln sich nur die vier wichtigsten und, abgesehen von Eve, das auch nur sprunghaft.

 

Vom Plot her ist Der Vampir eine Mischung aus Sittengemälde einer US-Nachrichtensendung und Horror-Thriller: Einerseits gewährt der Autor, der vormals als Producer bei der Nachrichtensendung Sixty Minutes arbeitete, viele Einblicke ins Wesen der Nachrichtenproduktion. Andererseits muss Eve in Rumänien feststellen, dass es größere Schrecken als 9/11 gibt, und dann dringt eben jenes Monster im Sender ein. Wer ist damit verbündet, wen kann man selbst als Verbündeten gewinnen? Und was kann man gegen das Monster unternehmen? Die Action-Elemente des Thrillers sind entsprechend des Mixes einigermaßen dünn gesät. Was meines Erachtens Teil eines Dilemmas ist: Sittengemälde und Thriller harmonieren nicht gut – das Sittengemälde benötigt einen ruhigen, breiten Aufbau, der sich langsam entfaltet, der Thriller bezieht seine Spannung aus einer unruhigen, krassen Handlung. Diese widersprüchlichen Plotstränge werden besonders eklatant gegen Ende spürbar: Der Thriller erfordert erheblich zunehmendes Tempo, das gibt es aber nicht. Damit hängt ein dramaturgisches Problem zusammen – das Ende eines Romans erfordert nicht nur eine Erhöhung des Einsatzes bzw. ein Zunehmen der Krassheit, es erfordert auch eine dramaturgische Verdichtung. Auch die gibt es nicht. Marks lässt es im letzten Kapitel krachen, aber das ist nur eine Frage des Inhalts, nicht der Dramaturgie oder des Plotflusses. Um diesen Mangel auszugleichen, überzieht er die Ereignisse außerordentlich – bisweilen fühlte ich mich an die blutigen Sketche von Monty Python erinnert.

Schließlich sind noch ein paar Ungereimtheiten negativ zu vermerken. So wird ein Gewehr unter einem Schal versteckt – dazu fällt mir ein Witz von Terry Pratchett ein: Wenn man einen Elefanten unter einem Laken versteckt, dann sieht man ihn zwar nicht direkt, aber trotzdem weiß man irgendwie, dass er da ist. Außerdem ist der Roman eine Auseinandersetzung mit Stokers Dracula auf vielen Ebenen; Torgu und Eve Harker diskutieren den Roman sogar kurz – dennoch fällt niemanden auf, dass Eve denselben Familienname trägt wie Jonathan und später Mina und eine ähnliche Funktion erfüllt.

 

Erzähltechnisch ist der Roman recht konservativ, aber sehr variantenreich und daher ungewöhnlich. Erzählt wird das Geschehen aus vier unterschiedlichen Perspektiven: Eve Harker verfasst einen Bericht in Form einer Icherzählung, Austen Trotta führt ein Therapietagebuch, Stimson Beever schreibt E-Mails (und erhält welche) und Julia Barnes Erlebnisse verfolgt der Leser aus ihrer personalen Perspektive. Das ist meines Erachtens wiederum nicht ganz stimmig – Julias Abschnitte sind zwar klar subjektiv gefärbt, aber dennoch von der Erzählerrede dominiert, während die anderen Stränge reine Figurenrede sind.

Der Handlungsaufbau ist im Wesentlichen progressiv, obwohl die viele verschriftlichte Figurenrede der Form nach regressiv ist; hinzukommen einige echte Rückblenden. Während das Sittengemälde episodisch wirkt, ist die Vampirjagd ganz klar dramatisch aufgebaut.

Sätze und Wortwahl sind dem jeweiligen Stil der Erzähler angepasst und entsprechend variabel; gemeinsam ist ihnen aber eine wunderbar klare und stets akkurat treffende Sprache.

 

Fazit:

Eve Harker soll für die Nachrichtensendung The Hour prüfen, ob man eine Sendung mit dem Paten Osteuropas bringen kann. Bald findet sie heraus, dass Ion Torgu ein wahres Monster ist, das mit dem Sender seine eigenen, finsteren Pläne verfolgt. John Marks Der Vampir ist ein sehr ambivalenter Roman. Die Mischung aus Sittengemälde und Horror-Thriller mit Vampir bietet ein interessantes Setting und aufgrund der runden Figuren und des klaren Stils einige Momente intensiven Grauens. Die Dramaturgie ist dagegen ziemlicher Murks. Auch wird der ungewöhnliche Vampir nur sehr offenen Leser zusagen – die meisten Vampierfans wird er bitter enttäuschen.

 

Nach oben

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240328121737e5881a47
Platzhalter

Roman:

Titel: Der Vampir

Reihe: -

Original: Fangland (2007)

Autor: John Marks

Übersetzer: Wolfgang Thon

Verlag: Aufbau (September 2009)

Seiten: 494 - Broschiert

Titelbild: Anke Fesel

ISBN-13: 978-3-7466-2528-7

Erhältlich bei: Amazon


Platzhalter
Platzhalter
Erstellt: 20.12.2009, zuletzt aktualisiert: 17.04.2023 20:56, 9768