Der Wolkenatlas (Autor: David Mitchell)
 
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Der Wolkenatlas von David Mitchell

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

David Mitchell hat mit seinem Wolkenatlas ein sehr ungewöhnliches Werk verfasst. Zunächst erinnert der Episodenroman an Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Dort wirst du, lieber Leser, in eine aberwitzige Verschwörung um Buchfälschungen verwickelt und liest eine Reihe von Romananfängen. Der Wolkenatlas bietet dem Leser sechs Episoden, die wie eine Matroschka in einander gestapelt sind: Die erste Episode beginnt im 19. Jh.; nachdem sie zur Hälfte erzählt ist, bricht der Text ab und die zweite etwa achtzig Jahre später spielende Episode beginnt. Das geht so bis zur sechsten Episode weiter, die ohne Unterbrechung geschildert wird. Dann wird die fünfte zu Ende erzählt und so weiter bis schließlich die erste abgeschlossen wird. Nicht nur darin unterscheidet sich der Roman von dem Calvinos: Die Romananfänge der Winternacht werden nur über die Rahmenerzählung, die Episoden Mitchells dagegen werden inhaltlich locker verknüpft. Thematisch sind dann wieder beide eng mit einander verbunden: Calvino bietet einen Querschnitt durch die Literatur des 20. Jh., Mitchell eine Auseinandersetzung mit den Themen Macht und Machtmissbrauch.

 

Zu den einzelnen Episoden:

Das Pacifiktagebuch des Adam Ewing: Adam Ewing ist ein junger amerikanischer Notar, der aufgrund von Erbschaftsangelegenheiten während des Kalifornischen Goldrausches Mitte des 19. Jh. den Pazifik bereist. Die Umstände verhindern eine Weiterfahrt der Prophetess und so lernt Mr. Ewing den englischen Arzt Dr. Henry Goose kennen und gerät einmal mehr an den Ersten Offizier Boerhaave, einem verrohten Holländer. Auch befasst sich der Amerikaner mit der Situation der Polynesier: Sollten die zivilisierten Weißen nicht die kindlichen Rassen mit Liebe anleiten? Die meisten Weißen denken anders: Nigger verstehen nur die Sprache der Peitsche! Dr. Goose geht in einem Gedankenspiel sogar noch weiter: Wäre es nicht gnädiger die Ausrottung der zum Aussterben verurteilten minderwertigen Rassen voranzutreiben wie man einen lahmen Gaul weiteres Leiden erspart? Wieder auf See verschärft sich die Situation Zusehens. Mr. Boerhaave würde den lästigen Notar am liebsten über Bord werfen, Dr. Goose diagnostiziert einen gefährlichen Wurmbefall bei ihm und dann hat sich noch ein entlaufener Moriori-Sklave als Blinder Passagier in seiner Kabine versteckt.

Briefe aus Zedelghem: Juli 1931 setzt der verstoßene und enterbte Komponist Robert Frobisher einen verzweifelten Plan in die Tat um: Mit seinem letzten Geld reist er über den Kanal nach Frankreich und weiter mit dem Zug nach Belgien. Völlig pleite radelt er zum Château Zedelghem, dem Wohnsitz seines Idols Vyvyen Ayrs. Dieser ist wegen einer fortgeschrittenen Syphilis arbeitsunfähig. Frobisher schlägt vor, die handwerklichen Arbeiten zu übernehmen. Ayrs ist zunächst skeptisch, geht aber dennoch darauf ein. So lebt Frobisher mit Ayrs, dessen Frau Crommelynck und Tochter Eva im Château. Der zunächst selige Robert entdeckt zunehmende Schwierigkeiten: Eva kann Robert nicht ausstehen und ist reichlich unhöflich. Ayrs ist launisch: Mal lobt er Frobisher überschwänglich, mal macht er ihn herunter. Außerdem fordert er stetig mehr und liefert immer weniger eigene Beiträge. Der junge Engländer revanchiert sich, indem er aus dem Château geklaute Bücher verscherbelt um seine Schulden zurückzuzahlen. Und die Gattin Ayrs – flirtet sie mit dem Arbeitsgast?

Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall: Luisa Rey ist die Tochter des berühmten Enthüllungsjournalisten Lester Rey. Luisa hat es nur zur Kolumnistin im Klatschblatt Spyglass gebracht. Als sie Mitte der 70er nach einer Party zusammen mit dem Physiker Rufus Sixsmith im Fahrstuhl stecken bleibt, erfährt sie einiges über das HYDRA-Projekt des Seaboard-Konzerns: Sixsmith deutet an, dass der Reaktor nicht sicher sei. Er verrät ihr nicht, dass man versuchte ihn zu bestechen, zu erpressen und nun bedroht. Alle anderen hatten nachgegeben. Er kämpft noch mit seinem Gewissen: Kann er wegsehen, wenn ein Unfall ganz Buenas Yerbas zerstört? Unterdessen muss sich Luisa in der Redaktion mit ihrem Thema durchsetzen, denn ein unsicherer Reaktor klingt langweilig. Indes birgt ein Artikel darüber ganz andere Gefahren: Eine Klage von einem der mächtigsten Konzerne der USA. Dennoch lässt sich Luisa nicht beirren und beginnt mit den Nachforschungen. Rasant wird die Reporterin in eine weit verzweigte und brandgefährliche Verschwörung verstrickt.

Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish: Dermot "Duster" Hoggins ist der Autor von Faustfutter. Als er während der Lemon-Prize-Verleihung auf den Rezensenten Sir Finch, der es mit viel Häme verrissen hatte, trifft, wirft der Autor den Kritiker nach kurzem Streit vom Dach. Während ein toter Kritiker seinen Mörder nur ins Gefängnis bringt, bringt der Mord dem Verleger erst Ruhm und dann Geld ein – Faustfutter wird sofort zum Bestseller. Verleger Timothy Cavendish kann das Geld gut gebrauchen, denn er hat einiges an Schulden offen. Als jedoch "Dusters" Brüder auftreten und ein ordentliches Stück vom Kuchen einfordern – sie erinnern an das Schicksal eines gewissen Kritikers – ist der alte Verleger schon wieder pleite. Sein Bruder hilft ihm nur sehr widerwillig. Er besorgt Timothy ein Zimmer im Haus Aurora. Nach einer zermürbenden Irrfahrt mit Englands maroden öffentlichen Verkehrssystem inklusive Überfall kommt der Alte erschöpft an, unterschreibt im Gästebuch und fällt sofort einschlafend ins Bett. Nur dass er nicht im Gästebuch, sondern eine Betreuungsvollmacht unterschrieben hatte. Von jetzt an darf er keinen Kontakt zur Außenwelt mehr haben – die strenge Leitung verbietet es. Es gilt zu fliehen, doch das erweist sich für einen über Sechzigjährigen als schwierig.

Sonmis Oratio: Vor ihrer Hinrichtung schildert Sonmi-451 die Ereignisse, die zu ihren Fehlverhalten führten. Sonmi-451 war eine Bedienerin in einem Papa-Song-Restaurant. Der Konzern beschäftigte zu ihrer Zeit Klone aus vier Reihen: Hwa-Soons, Yoonas, Ma-Leu-Das und Sonmis. Morgens um 4.30 werden die Klone durch ein Stimulans geweckt, machen Morgentoilette und nehmen an der vom Logoman geführten Andacht teil. Eine Minute vor fünf nehmen sie ihre Position im Restaurant ein und dann bedienen sie die Gäste bis zur Sperrstunde. Anschließend wird das Restaurant gereinigt und nach einem zwanzigstündigen Arbeitstag gibt es vier Stunden Schlaf. Nach zwölf Jahren hat ein Klon seine Lebensschuld abgearbeitet und kommt ins Elysium auf Hawaii. Sonmi-451 arbeitet mit Yoona-939 zusammen. Diese Yoona fängt plötzlich an unaufgefordert zu sprechen und verwendet komische Worte. Sie weiht Sonmi-451 des Nächtens in ein Geheimnis ein und schnauzt einmal eine reinblütige Kundin an. Der Chef macht ihr das Leben zur Hölle und als Yoona-939 flüchtet, wird sie zusammengeschossen. Sonmi-451 beginnt ebenfalls sonderbare Worte zu gebrauchen und spürt den Drang zu lernen – langsam kommt sie hinter eine monströse Verschwörung in der Konzernokratie.

Sloosha's Crossin' un wies weiterging: Zachry Bailey erzählt vom Leben in den Neun Tälern. Sein Pa war von einer Bande Konas ermordet und sein Bruder Adam versklavt worden. Sklaven der Kona halten nie lange durch. Das Schlimmste daran: Zachry hatte die Wilden versehentlich hergeführt und sich dann feige versteckt. Old Georgie, der Satan, sieht alles – damit ist Zachrys Seele wieder etwas schwerer geworden. Zachry ist Ziegenhirte, andere aus dem Dorf weben, nähen oder bauen Feldfrüchte an. Die Clevers der Alten können sie nicht mehr reparieren oder gar herstellen. Vom Stamm der Prescience tauschen sie aber manchmal besonders gute Messer oder Töpfe und dergleichen. Sie kommen unregelmäßig an Ha-Why zum Handeln vorbei. Eines Tages bitten sie die Prescience Meronym, die das Leben in den Neun Tälern studieren will, aufzunehmen. Da die Baileys nicht bei der Versammlung sind und noch ein freies Zimmer haben, wird die Fremde bei ihnen einquartiert. Zwar schmeißt Meronym nicht mit altem Clever um sich, doch sie ist schon boah alt: Sie ist fünfzig und sieht noch aus wie fünfundzwanzig. So alt wird in Sonmis Namen niemand – nur Truman der Dritte und der hatte einen Pakt mit Old Georgie geschlossen. Zachry forscht nach.

 

Auf den ersten Blick handelt es sich um sechs Episoden, die mehr trennt als vereint: Das Pacifiktagebuch des Adam Ewing ist eine als Tagebuch verpackte Abenteuergeschichte, Briefe aus Zedelghem ist eine desillusionierende Aufsteigergeschichte in Form eines Briefromans, Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall ein rasanter Thriller, Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish ist eine bittere Schelmengeschichte mit vielen Anspielungen an das Medium Film, Sonmis Oratio ist eine finstere Dystopie in Interviewform und Sloosha's Crossin' un wies weiterging ein mündlicher Bericht aus einer postapokalyptischen Welt. Wie auch Calvinos Anfänge unterscheiden sich die Episoden stilistisch außerordentlich. Am augenfälligsten sind die sprachlichen Veränderungen: Der Pazifik heißt bei Mr. Ewing "Pacifik" und der cynische Dr. Goose sucht Genugthuung mit Hilfe von Cannibalenzähnen. Bei Sonmi heißen Fotos "Kodaks", Minicomputer "Sonys" und Bürger sind "Konsumenten". Un beim mutichen Zachry is die ganze Sprache boah was abgeschliffm. Aber man kanns auch ohne altn Clever lesn. Darüber hinaus orientiert sich Mitchell mit den Episoden an verschiedenen Vorbilder, auf die der Erzähler oft selbst verweist: Das Pacifiktagebuch verweist auf Herman Melvilles Moby Dick, das Martyrium auf Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest, Sonmi hält Huxley und Orwell für Optimisten und Sloosha's Crossin' erinnert an Russel Hobans Riddley Walker. Die Anspielungen beschränken sich nicht allein auf das Literarische: Papa-Song ist Ronald McDonald und die Figur Luisa Rey spielt auf Karen Silkwood an.

 

Alle Episoden durchzieht thematisch ein Roter Faden – die Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Macht. Die reichen vom Rassismus von Ewings Zeitgenossen und Ayrs Ausbeutung von Frobisher über Seabords skrupellose Methoden zur Profit- und Machtakkumulation und Schwester Noakes kleinlichen und grausamen Herrschwillen zur totalen Ausbeutung der Klone und den barbarischen und brutalen Kona. Auch die verschiedensten Personen werden dabei betrachtet: Aufrechte Streiter gegen das Unrecht, Kämpfer gegen die eigene Unfreiheit, wankelmütige Kollaborateure, sadistische Radfahrer und kaltherzige Machtmenschen sind nur einige Aspekte. Kurzum: Das Thema Macht wird detailliert ausgeleuchtet ohne dabei aufdringlich zu wirken. Mitchell trägt ein überzeugendes Plädoyer gegen Friedrich Nietzsches Konzept des Willens zur Macht und für Mitmenschlichkeit und Solidarität vor.

Ein weiterer Pluspunkt ist die unglaublich präzise durchgeformte Struktur des Romans. Ein Beispiel: Der Roman beginnt mit Ewings Pazifikreise im 19. Jh. und endet auch dort. Man könnte sagen, der Kreis schließt sich. Unterdessen spielt die chronologisch späteste Episode, Zachrys Abenteuer, wieder im Pazifik, auf Hawaii. Das Elysium der Klone ist auf Hawaii und Sixsmiths Enkelin wird von dort eingeflogen. Es gibt zahllose Verbindungen und Parallelen zu entdecken.

 

Fazit:

Vom Pazifik des 19. Jh. über Europa und Amerika des 20. und frühen 21. Jh. in die Zukunft Koreas und Hawaiis erleben sechs mehr oder minder aufrechte Streiter für Gerechtigkeit und Solidarität, was es heißt, sich mit Träger der Macht auseinanderzusetzen. Mitchell gelingt es sehr unterschiedliche Episoden so präzise und beiläufig zu komponieren, dass das exzellente Gesamtwerk nicht nur spannend und flüssig lesbar, sondern auch ein eindrucksvolles Plädoyer für die Mitmenschlichkeit ist.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240418170038a0119d4f
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Titel: Der Wolkenatlas

Reihe: -

Original: Cloud Atlas (2004)

Autor: David Mitchell

Übersetzer: Volker Oldenburg

Verlag: Rowohlt Verlag (November 2007)

Seiten: 668-Broschiert

Titelbild: any.way u. a.

ISBN-13: 978-3499-24036-2

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 19.06.2008, zuletzt aktualisiert: 18.04.2024 09:19, 6739