Die Arena von Stephen King
Rezension von Torsten Scheib
Rezension:
Der erste Eindruck? Schwer. Buchstäblich. Gefolgt von Fragen wie: „Kann man damit einen Menschen erschlagen?“ – „Werde ich ersticken, wenn ich beim Lesen dieses Backsteins einschlafe und das Gewicht mein Gesicht unter sich erdrückt?“ – „Wie viele Urlaubstage habe ich noch übrig?“ Und natürlich dem Klassiker: „Warum tue ich mir das eigentlich an?“
Es gab eine Zeit, da stellte sich eine Frage wie letztgenannte erst gar nicht, wenn ein neuer Stephen King-Roman unters Volk gebracht wurde. Man fragte nicht, man kaufte – und bekam genau das, was man erwartet hatte. The Stand – Das letzte Gefecht, Es oder Needful Things – In einer kleinen Stadt waren dank ihrer Seitenzahl mit Sicherheit alles andere als Büchlein für die Mittagspause und/oder die Busfahrt zur Arbeit (wenngleich sie auch dort noch immer gerne und häufig gelesen werden), doch fesselten sie den Leser bis zur letzten Zeile. Und warum? Weil Stephen King es jedes Mal schaffte, glaubwürdige Charaktere mit einer temporeichen Handlung und einer sich konstant steigernden Spannungsschraube zu kreuzen; von seinem einmaligen Talent als Erzähler ganz zu schweigen.
Doch dann, irgendwann in den 90ern, geriet der gut geölte Motor ins Stocken … irgendwie. Kings Romane wurden immer ausufernder, seine Beschreibungen immer detaillierter – und der Leerlauf immer größer. Sogar im vierten Teil seines Mammut-Epos um den dunklen Turm, „Glas“, schlich sich dieser Leerlauf ein, der sicherlich nicht wenigen seiner konstanten Leser mit Besorgnis erfüllte. Natürlich, Werke wie Schlaflos, Das Bild oder Sara fanden weiterhin ihre Käufer, doch schien die Luft weitestgehend raus zu sein bei jenem Schriftsteller, der das praktisch tote Horror-Genre Anfang der 1970er im Alleingang reaktivierte und gleichzeitig eine einzigartige Karriere vorlegte. Oder?
Ein Blick auf Kings jüngste Werke lässt möglicherweise alles in einem etwas anderen Licht erscheinen. Nach dem finalen Roman um den dunklen Turm verkündete King das Ende seiner schriftstellerischen Karriere. Was es zu schreiben gab, habe er geschrieben – oder vielleicht auch nicht, denn schon kurze Zeit später erschien mit Colorado Kid ein brandneuer, wenngleich auch sehr kurzer Roman. Von den drei folgenden Büchern (Die Arena nicht mit eingeschlossen) und einer Geschichtensammlung ganz zu schweigen. So viel also zum Thema Rente. Doch sind Kings Elaborate aus den Jahren 2005 bis 2008 auch noch auf einer anderen Ebene interessant, da sie samt und sonders Werke eines gereiften und kritischen Mannes sind, der es nicht mehr nötig hat, sich selbst oder irgendwelchen Kritikern etwas zu beweisen und stattdessen einfach nur schreibt. Und, wie bereits erwähnt, kann der Mann ziemlich gut schreiben. Mit fortgeschrittenem Alter womöglich sogar noch besser und durchdachter wie zu Jungspund-Zeiten. Vergleicht man Kings Werke aus den 90ern mit einem 700-Seiter vom Schlage Love treten die Unterschiede schnell zutage. Wo King noch vor anderthalb Jahrzehnten unentschlossen, unspektakulär; ja einfallslos wirkte, ist seine Prosa schlichtweg zu einem Genuss geworden, für die man selbst eventuelle Längen gerne in Kauf nimmt, um sich an diesem grandiosen Stil laben zu können.
Nun also „Die Arena“. Mit 1.280 Seiten nach „The Stand“ und „Es“ Kings längster Roman. Und die ungeklärte Frage; genussvolle Prosa hin oder her: Kann King den Leser über die gesamte Strecke des Buchs bei der Stange halten? Oder sind die knapp 1.300 Seiten ein Rückfall in eigentlich vergessen geglaubte Zeiten des Durchschnitts?
Es fängt harmlos an; natürlich. Die Einwohner des kleinen Städtchens Chester’s Mill gehen den Dingen nach, denen sie eben nachgehen. Bauern bestellen ihre Felder. Kinder spielen oder fischen. Claudette Sanders, Ehefrau des Ersten Stadtverordneten Andy Sanders, nimmt gerade eine weitere Flugstunde – und fliegt gemeinsam mit ihrem Fluglehrer mitten in den Tod. Eine unsichtbare Kuppel hat sich ohne Vorankündigung über Chesters’s Mill gelegt, und die Kleinstadt von der Außenwelt isoliert. Doch erst, nachdem weitere unschuldige Opfer zu beklagen sind, wird sich die Einwohnerschaft des unheimlichen Ereignisses bewusst und fängt an, Fragen zu stellen: Ist die Kuppel das Resultat eines terroristischen Angriffs? Ein unbekanntes Phänomen? Ein perverses Experiment der eigenen Regierung?
Und während außerhalb der Kuppel die ersten Versuche unternommen werden, die Bewohner aus ihrer misslichen Lage schnellstmöglich zu befreien, fängt selbige innerhalb allmählich zu eskalieren an. Denn nicht jeder Bürger sehnt sich nach der Freiheit. Schon gar nicht der Zweite Stadtverordnete Jim Rennie, seines Zeichens Gebrauchtwagenverkäufer, schwer gottesgläubig und der Betreiber der wohl landesweit größten Produktionsstätte von Crystal Meth, beheimatet in Chester’s Mill. Außerdem giert Rennie nach Macht. Und die gegenwärtige Situation stellt für ihn ein Geschenk Gottes dar. Mit perfider Hinterlistigkeit schürt Rennie die Ängste der Einwohner und stellt sich gleichermaßen als Retter dar; als Einzigen, der die anarchischen Zustände in Chester’s Mill beenden und einen Zustand der Ordnung installieren kann. Dabei gehen Rennie und seine gewaltbereiten Männer auch über Leichen, während die Ordnung langsam aber sicher zur Diktatur verkommt. Lediglich eine Handvoll Männer und Frauen hegen Zweifel an den Plänen des Zweiten Stadtverordneten, der längst seine bluthungrigen, menschlichen Jagdhunde auf die Dissidenten angesetzt hat. Ob es der kleinen Gruppe dennoch gelingen wird, Jim Rennie zu Fall zu bringen? Und was ist mit jenen, welche die Kuppel platziert haben? Wird man den Urhebern rechtzeitig auf die Schliche kommen, bevor Dinge wie Nahrung, Wasser oder Luft zur Neige gehen?
Eigentlich ist „Die Arena“ kein Horror- bzw. Science Fiction-Roman im klassischen Sinne. Besagte „Arena“ (oder Kuppel) ist eigentlich kaum mehr als ein typischer MacGuffin; ein Objekt also, dessen eigentlicher Zweck darin besteht, die Handlung auszulösen und vorwärts zu treiben. Und das tut sie in der Tat! Anders als normalerweise üblich bei King, wird diesmal auf langen Vorlauf verzichtet. Der Leser findet sich sofort inmitten der Katastrophe wieder, die genüsslich – und reichlich blutig – ausgeschlachtet wird. Das hat Tempo, das steigert das Unbehagen, das ist Stephen King von seiner allerbesten Seite!
Doch auch wenn es nach dem ersten Drittel nicht mehr ganz so rasant und schweißtreibend zur Sache geht, verliert „Die Arena“ keineswegs seine Anziehungskraft. Wieder mal offenbart King den Durchschnittsmenschen als das wahre Monster und zeigt glaubwürdig, wie fragil jenes Kartenhaus namens Demokratie sein kann, das von Jim Rennie und seinen Schergen zu Fall gebracht wird.
Ohnehin ist Kings neuester Output ein sehr politisch angehauchtes Buch. Doch keine Sorge, der Zeigefinger bleibt unten. Trotzdem sind die Bezüge zur Ära Bush und Dick Cheney unverkennbar, ebenso der kritische Blick auf den typischen US-Bürger („Hungernde Kinder? In diesem Land? Unmöglich!“). So verwandelt sich „Die Arena“ von einem spannungsgeladenen Thriller mit leichtem SciFi- und Horror-Touch zu einer meisterhaft vorgetragenen Parabel über Politik, Autorität, Macht und nicht zuletzt der Angst selbst. Oder anders ausgedrückt: „Die Arena“ ist ein beeindruckendes, bärenstarkes Werk geworden; verfasst von einem Stephen King in Hochform.
Fazit:
Zweifellos eines der herausragendsten Bücher des Jahres 2009 und Kings bestes Werk seit langer Zeit!
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