Die Fahrt der Steampunk Queen herausgegeben von Marianne Labisch und Gerd Scherm
Ein Roman in Episoden
Rezension von Yvonne Tunnat
Das ist keine Anthologie, wie ich sie sonst kenne, in der man einfach in beliebiger Reihenfolge herumschmökern kann.
Die Autor:innen hier haben sich abgesprochen und ein Gesamtkunstwerk erstellt. Man kann zwar die einzelnen Beiträge auch einzeln genießen, hat aber einen größeren Lesespaß, wenn man auch die anderen Geschichten kennt.
Netter Service: Hinten gibt es eine Aufstellung aller Figuren und deren Funktionen. Ich stelle mir vor, dass die Vorbereitung vor und während des Schreibens sehr aufwändig gewesen sein muss, damit alle Stories gut zusammenpassen.
Es gibt in dieser Aufstellung sogar Bilder der Figuren. Wenn ich das mal so sagen darf: Der Reiseleiter Charles Raffer sieht aus wie Boromir.
Und das Foto der Figur Sean Kelly zeigt jemanden, der beim Untergang der Titanic ertrunken ist.
Ganz am Ende gibt es dann eine Vitae der Autor:innen, was bei der Recherche immer sehr hilft, vor allem, wenn man von jemandem mehr lesen möchte oder in den sozialen Medien verfolgen.
Rahmenhandlung, Zeit und Ort
Es gibt eine Rahmenhandlung, die in den einzelnen Kapitel der unterschiedlichen Verfasser:innen beleuchtet wird (in der Regel zusätzlich zu einem eigenen Plot der Einzelgeschichten).
Hier ist vor allem der Tod der Schiffseignerin Lady Summers ganz zu Beginn zu nennen. Lady Summers ist die Initiatorin der Fahrt und hat außerdem für einige der anderen Figuren darüber hinaus Dinge arrangiert. Ihr Tod kommt überraschend und die Umstände bleiben lange im Dunkeln.
Einige Figuren tummeln sich in mehreren Geschichten, teilweise als Nebenfiguren, manchmal wird auch nur über sie gesprochen oder auf sie verwiesen - was beim fortschreitenden Lesen mehr und mehr Spaß macht. Diesen Effekt habe ich sonst in Anthologien nie, da fange ich bei jeder Geschichte bei null an.
Beim Steuermann Stevenson habe ich mich sofort gefragt, ob das eine Hommage an den Autor der Schatzinsel ist - und ja, in einer Szene wird sogar explizit erwähnt, dass er mit dem Autor verwandt ist. Allerdings bleibt die Figur Stevenson in diesem Episodenroman nicht sehr lange lebendig.
Das Setting
Die Steampunk-Queen ist auf dem Mittelmeer unterwegs und fährt auf ihrer Reise Städte wie Genua an.
Alternative Steampunk-Realitäten machen mir oft viel Spaß. So auch hier. Die Geschichte spielt 1920, so wird ganz selbstverständlich »telegrafiert« oder man spielt altmodische Instrumente, oder hat mit mechanischen Werwölfen zu tun.
Die Technik
Gleich vorab: Infodump hat es nicht durch das gute Lektorat geschafft, das hier ganz offensichtlich durchgeführt wurde. So trägt die Beschreibung der verwendeten Technik immer noch etwas zur Handlung oder zur Figurenzeichnung bei. Beispielsweise hier, aus der Sicht eines Heizers, Ivan Koslov:
»Ihm schmeckte nichts, was sich jenseits seiner Dampfmaschinen abspielte. Kolben, Kessel, Schieber, Ventile und Übersetzungen – das war sein Zuhause. Dass das System ohne Dampfdruck und Turbinen arbeiten sollte, beunruhigte ihn sichtlich.«
An dieser Stelle sei erwähnt, dass Elektrizität auf der Steampunk Queen eine große Rolle spielt – und zumindest in einem Fall auch eine tödliche, also ist die Skepsis wohl auch nicht ganz fehl am Platz.
Einige Andeutungen an die heutige Zeit machen auch Spaß, siehe hier:
»Ließe sich eine Kamera an einem fliegenden Wesen befestigen? Was für Möglichkeiten das böte!«
Die Sprache, Bilder, Metaphern
Ich habe einige schöne Bilder entdeckt, von denen ich gern ein paar Beispiele nennen möchte:
»Sein eigenartiger, russischer Akzent verstärkte den Eindruck, er litte an einem Katarrh.«
(Ich als auditive Person schätze Beschreibungen hinsichtlich dessen, wie etwas klingt, sehr!)
Wenn Adjektive benutzt werden, dann oft sehr anschauliche und effektive, siehe hier:
»Alan Stevenson war verschwunden. Aufgelöst. Verkocht. Vaporisiert.«
Charakterisierung der Figuren
Hier sind einige herrliche, vielsagende Nebensätze gelungen, in denen die Figuren teilweise en passant mit wenigen Worte charakterisiert werden. Ein Beispiel gefällig?
»Van Royen schickte Cliff nach unten, zu Doktor Gunter von Stolzenfels. De Breukelen hoffte, dass der Arzt nicht zu betrunken sein würde.«
Phantastik
Einiges ist sehr phantastisch: Körpertausch mit Kuscheltieren oder Verstorbene, deren Gesicht in einer Maschine auftauchen. Da muss man schon mitgehen wollen.
Es gibt hier nicht nur Menschen, künstliche Menschen und Menschen, deren Leben künstlich erhalten wurde – auch Vampire kommen vor, mechanische Werwölfe werden erwähnt, natürlich gibt es einen Geist und eigens von den Autor:innen geschaffene Wesen. An Phantasie mangelt es hier jedenfalls nicht.
Gerd Scherm bietet eine Vorgeschichte zur »Fahrt der Steampunk Queen«, an der ich mich als Leserin orientieren kann und so ein paar Eckdaten habe, bevor es zu den eigentlichen Stories kommt:
Rainer Schorm: Der Geist des Alan Stevenson
Gleich zu Beginn wird klar: Das ist nicht einfach Steampunk, hier wird phantastischer Weltenbau betrieben. Klar, das hier spielt in einer gut durchdachten Alternativwelt, passend zum Genre. Außerdem gibt es einen Kriminalfall. Es wird auf originelle Art und Weise gestorben.
Christian Künne: Thalassas salzige Tränen
Gleiche Zeit, gleiche Kulisse, anderer Protagonist, andere Perspektive und Erzählweise (Ich-Erzähler), gleich nochmal eine Spur phantastischer und in der Sprache deutlich unterschiedlich zum Vorkapitel.
Wie der Titel schon sagt, spielt hier ein Thalassa eine erhebliche Rolle. Mir war diese Figur aus der griechischen Mythologie noch völlig neu.
Da zeigt sich auch gleich ein besonderer Reiz dieses Projekts: Zwar sollte man chronologisch und vollständig lesen, kommt aber doch in den Genuss sehr unterschiedlicher Stimmen, wie es ein:e Autor:in alleine vermutlich nicht hätte leisten können.
Ansgar Sadeghi: Ohne Volldampf in die Zukunft
Ok, ich bin abgeholt. Diese Figuren – vor allem der Androide, dessen Herz für seine Kollegin allzu sehr schlägt – haben mich sofort fasziniert.
Anna verliebt sich in einen anderen Passagier, was den Androiden Odilius sehr betrübt. Dazu kommt, dass Odilius beizeiten Gedanken lesen kann, sodass aufkeimende Gefühle kaum vor ihm verborgen werden können. Er hat viel von einem Menschen, wenn ihm auch beispielsweise ein Geruchssinn oder Sexualorgane fehlen.
Der Mikro-Rassismus (teilweise auch mehr als das) ist hier sehr realistisch dargestellt, zumal die Figur Anna mehrfach diskriminiert ist (Frau und Schwarz).
Textbeispiel:
»Was versteht jemand wie Sie davon?«
[…]
»Wen meinen Sie mit ›jemand wie Sie‹?«, fragte sie. »Mich als Person? Alle Menschen mit schwarzer Hautfarbe? Sängerinnen? Haben Sie etwas gegen Frauen oder gegen Frauen mit dunkler Haut?«
Susann Obando Amendt: Ours Magique oder Der magische Bär
Meine Lieblingsfigur, der Androide, kam wieder vor (yeah!), außerdem hat auch der Protagonist dieser Episode, der Erfinder Paul, meine Sympathien rasch gewonnen. Da gehe ich auch bei einigen sehr phantastischen Körpertausch-Momenten gegen Ende der Geschichte gut mit.
Andreas Flögel: Geist in der Maschine
Mir hat diese kleine Episode außerordentlich gut gefallen, wenn auch die Wandlung der Figuren am Ende ein wenig plötzlich kommt. Aufgrund der Kürze der Geschichte kann ich da aber auch mitgehen und die Leerstellen selber füllen.
Die Charaktere, Sebas und seine Frau Diana, waren plastisch und echt - und außerdem herrlich ambivalent in ihren Moralvorstellungen (nein, streich das, eigentlich eher nicht rechtschaffen …).
Die Metaphern passen sehr gut zum Setting:
»Sebas’ Schädel fühlte sich an, als dröhnten die mächtigen Maschinen des Schaufelraddampfers darin. Ein Gefühl von riesigen Kolben, die das Gehirn in einem ständigen, stampfenden Auf und Ab zu Brei zerquetschten.«
Felix Woitkowski: Wer ist Peter?
Hier wird auch wieder kräftig gestorben. Unser Freund, der Heizer, kommt auch erneut als Nebenfigur vor, genau wie der Maschinist Gruber. Und, was mich sehr freut: Auch der Androide, meine bisherige Lieblingsfigur. Die Protagonisten dieser Geschichte mögen diesen aber eher nicht so sehr gern.
Sascha Dinse: Eidolon
Hier haben wir dann wieder einmal einen Ich-Erzähler, Theodore. Diese Episode fällt positiv aufgrund der treffenden Dialoge auf und der teilweise fast ekligen Atmosphäre, die durch allzu anschauliche Details unterstrichen wird. Das geht schon einen Schritt mehr in Richtung Horror als die meisten der anderen Episoden in diesem Band.
»… dass ihre nackten Füße von schwarzen, sich windenden Würmern umspielt werden, deren vor Zähnen starrende, kreisrunde Mäuler mir einen Schauer über den Rücken jagen.«
Arno Endler: Das Scheitern des Erfinders
Hier geht es um Sean, dem sechzehnjährigen Kabinenboy. Und es ist ebenfalls eine mit klarem Plot und guter Pointe, die bei mir weit vorn in der Hitlist steht.
Sean ist zuständig für den Passagier Arthur Mayer, einen Erfinder. Dieser hat seinen Sohn Archibald bei sich, der aber irgendwie gruselig aussieht. Alt. Das erzeugt gleich Neugier – nicht nur Seans, sondern auch meine. Die Beschreibung des seltsamen Wesens ist extrem gelungen:
»Ein Hundertjähriger hätte nicht merkwürdiger aussehen können. Die Falten und Flecken, dazu eine zum Teil aufgedunsene, wabbelige Haut, die wie übergestülpt wirkte, mehr Fremdkörper denn natürliche Erscheinungsform.«
Sean ist außerdem hervorragend charakterisiert, vor allem die Grenze zwischen ihm als einfachem Kabinenboy und den eher wohlsituierten Passagieren und wie diese ihm selber bewusst ist.
Es kommt zu einer spannenden Nebenhandlung, als Mayer beschuldigt wird, bei einer Maschine gemogelt zu haben. Hier werde ich als Leserin gekonnt in die Irre geführt.
Der Schluss hat ein klares Thema und auch eine Pointe, auch wenn ich emotional vielleicht noch einiges vermisse aufgrund der Tragweite der Entscheidung am Ende. Ein paar Tränenspuren waren mir dann doch zu wenig. Aber ich sehe ein, dass so etwas schwer zu schildern ist, ohne melodramatisch zu werden.
Frederic Brake: Katzenzorn
Das hier ist schon fast ein Ausflug in die Dark Phantastik, wobei der Steampunk wohl sowieso immer haarscharf daran vorbeischrammt.
Welche Wesen genau hier vorkommen, möchte ich nicht verraten, aber einiges hat mich dann schon überrascht. Um ermittelnde Beamte aus zwei England und Deutschland geht es hier jedenfalls nicht.
Ein »Bastat« ist übrigens ein Bastet-Bastard.
Diese Episode bietet eine Wendung, mit der ich nicht gerechnet habe.
Eska Anders: Eine nicht alltägliche Freundschaft
Das Ende hier ist richtig rührend. Die Ich-Erzählerin Fräulein Helga trägt ein kleines Wesen mit sich in der Handtasche herum: Pherenike. Diese gehörte eigentlich in eine Amphore, die aber zerbrochen ist. Pherenike möchte zurück nach Hause und Helga möchte ihr das ermöglichen, obwohl sie sehr an ihrer kleinen Freundin hängt.
Marianne Labisch: Das Tagebuch der Laura März
Der Ton dieser Episode macht richtig Spaß. Das ist Lauras Stimme, ganz klar. Sehr frisch geschildert und nah an der Figur dran. Außerdem macht es mir Freude, dass so gut wie alle Figuren erwähnt werden (aus Lauras spezieller Sicht), die in der Anthologie vorgekommen sind. Plus, witzigerweise macht sich nun endlich jemand ans Werk, den Tod von Lady Summers aufzuklären und kommt damit auch ein ganzes Stück weiter. Jedoch wird Laura bald abgelenkt durch neue Liebes- und Lebenspläne, sodass sich ihre Prioritäten sich im Laufe der geschilderten Zeit ein wenig verschieben.
Ein bisschen Kolorit der damaligen Zeit kommt auch rüber, beispielsweise ist der erste Mann von Laura im Krieg verblieben und wurde bisher noch nicht von ihr für tot erklärt. Wie diese Informationen eingeflochten und nach und nach entblättert werden, empfand ich als sehr gekonnt.
Außerdem finde ich es gut, dass auch Laura sich über die vielen Toten aufregt und endlich mal jemand beim Namen nennt, wie krass es ist, wie viel hier gestorben wird!
Laura gibt hier und da mehr über sich preis, als sie vielleicht beabsichtigt, sie outet sich zum Beispiel als sehr neugieriges Ding, das nicht davor zurückschreckt (bzw. zurückschrecken würde), fremde Post zu lesen.
Mein Lieblingssatz:
» … aber ich frage mich, wozu wir künstliche Menschen benötigen. Es gibt doch mehr als genug echte.«
Im Falle von Odilius Terstedt bin ich aber froh, dass es ihn gibt.
Gerd Scherm: Der Bericht des Kapitäns
Nun, hier wollte man aber sichergehen, dass es keine »Fahrt der Steampunk Queen Teil 2« geben kann.
Es gibt ein paar schöne Details, z. B. dass jemand eine Leiche anhand der Stiefel erkennt (wobei ich schon Ideen hatte, dass vielleicht jemand anderes die Stiefel angezogen haben könnte, aber wir sind hier ja nicht bei Agatha Christie).
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