Die Flüchtigen (Autor: Alain Damasio)
 
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Die Flüchtigen von Alain Damasio

Rezension von Ralf Steinberg

 

In einer nahen Zukunft hat sich Lorca zu einer Spezialeinheit der Armee gemeldet, die sich mit einem seltsamen Phänomen befasst: Die Flüchtigen.

Etwas, das sich schnell bewegt, sich an jede Art von Objekten angleichen kann, es zu assimilieren und imitieren imstande ist und damit quasi unsichtbar. Falls es doch gelingt, es wirklich zu sehen, keramisiert es. Keine Strukturen im Inneren, nur eine meist wunderschöne Skulptur bleibt zurück.

Für die Armee ein erforschenswertes Rätsel, für Lorca die Möglichkeit, seine verschwundene Tochter wieder zu finden.

Die vierjährige Tishka verschwand spurlos aus dem Kinderzimmer. Keine Hinweise auf eine Gewalttat. Und während Lorcas Frau Sara von einer Entführung ausgeht und unter der entsetzlichen Last der Trauer und Verzweiflung leidet, ist sich Lorca sicher, dass seine Tochter mit etwas mitgegangen ist, von dem sie nur ihm erzählt hatte. Etwas, das sie im Kinderzimmer besuchte. Mit obsessiver Entschlossenheit geht Lorca den Gerüchten über die Flüchtigen nach, etwas bei dem Sarah nicht mitgehen kann. Die Beziehung zerbricht, Lorca schließt sich dem Militär an, obwohl er eigentlich zu alt dafür ist.

 

Der Roman beginnt mit der Abschlussprüfung Lorcas, in der er seinen ersten Flüchtigen in einer kleinen, rein weißen und leeren Kammer fangen muss. Später weitet sich Raum immer mehr. Ein leerstehendes Museum, ein besetztes Hochhaus, eine Insel, Marseille …

Für diese Öffnung nimmt sich Alain Damasio viel Zeit. In der deutschen Übertragung sind es über 840 Seiten.

Doch wir bekommen dafür auch eine ganze Menge geboten. So wird auch der Weltenbau nach und nach entwickelt. Wir lernen eine dystopische Gesellschaft kennen, in der alles Kommunale privatisiert wurde. Straßen, Parks, gar ganze Städte gehören Konzernen, die ihre Eigentumsrechte mit privaten Ordnungskräften durchsetzen. Premiumbürger können werbefrei durch die Stadt laufen, Parks jederzeit nutzen, Luxusangebote in Anspruch nehmen. Alles geregelt und überwacht durch smarte Ringe. Wer nicht genug verdient, wird mit Werbung zugeschüttet, muss gute Straßen und Wege meiden, darf bestimmte Einrichtungen von Bildung bis Kultur nicht besuchen, ist ein Wesen zweiter Klasse.

Doch es gibt Widerstand. Bewegungen, die sich ihre öffentlichen Räume und Freiheiten zurückholen möchten.

Und Angesichts der mächtigen Gegenseite auch so etwas wie die Flüchtigen sein müssen. Dieser Widerstand wächst im Roman ähnlich wie schon die Größe der Schauplätze. Hier kann sich Damasio auch mit alternativen Formen der Organisation von Gemeinschaften befassen, nichtkapitalistische Gesellschaftsentwürfe werden literarisch ausprobiert, was stark an Cory Doctorows Walkaway erinnert. Das ist sehr spannend inszeniert, wie auch die Schlachten und Verfolgungsjagden. Sie bieten Raum für Persönlichkeitsentwicklungen.

 

Was uns zu den Charakteren bringt. Lorca kommt nach der Prüfung in ein spezielles Team, das für die Armee Flüchtige jagen soll. Eingespielte Profis, jedes Teammitglied mit eigenen Aufgaben innerhalb des Teams, darüber steht ein Armeegeneral, der aus ganz besonderen Gründen Lorca fördert. Von Anfang an hat jede Figur ihre eigene Stimme. Die einzelnen Szenen wechseln immer wieder in die Ichperspektive und es ist gar nicht nötig darauf hinzuweisen, in wessen Kopf wir gerade gesprungen sind, weil Sprache, Tonalität und Wortwahl stets eindeutig zuordenbar sind. Das erstreckt sich auch auf die Nebenfiguren, von denen im Laufe der Handlung etliche dazu kommen und einige von ihnen begegnen wir immer wieder, bis ins Finale hinein. Damasio hat nie Probleme, dieses Ensemble zu orchestrieren und somit wir als Leser·in auch nicht. Das ist vor allem bei Lorcas Team wichtig, da sie alle Entwicklungen durchlaufen, die auf ihre Erlebnisse und Entscheidungen beruhen.

Natürlich liegt der Fokus der Figurenentwicklung auf Lorca und seiner Frau Sahar. Sahar versucht ihre Trauer mit Therapiesitzungen und kostenlosem Unterricht auf freien Plätzen für die von Konzern-eigener Bildung Ausgeschlossenen zu überwinden. Sie kann Lorcas Festhalten an der Idee, Tishka lebte noch, nicht akzeptieren, es schmerzt sie viel mehr und sie hasst ihren Mann dafür. Lorca hingegen liebt sie noch immer und leidet unter ihrer Abweisung. Von diesem katastrophalen Punkt aus, wird die Beziehung der beiden einige Male neu definiert. Dabei entwirft Damasio das Bild einer ganz großen Liebe, die unweigerlich zu Herzen geht.

 

Die größte Besonderheit des Romans stellt aber wohl die Typographie dar. Der Text bekommt zusätzliche Zeichen: Punkte, Striche, Buchstabenschnörkel, Akzente bis hin zu einer eigenen Notation. Ihre Bedeutung erschließt sich erst nach und nach und mündet in erstaunlichen Konzepten zu Linguistik und ganz neuen Worten.

Hinzu kommen Szenen, die fast komplett im Konjunktiv geschrieben sind und eine Sicht auf die Handlung bieten, die zunächst verwirrt, deren Bedeutung dann aber umso erstaunlicher in das Konzept des Romans passt.

Die Übertragung ins Deutsche durch Milena Adam ist dabei ganz besonders hervorzuheben, wie auch den Satz. Beides bestimmt keine leichten Aufgaben, zumal bei der Textmenge.

Fazit

»Die Flüchtigen« von Alain Damasio ist ein ganz besonderes Werk. Literarisch auf sehr hohem Niveau, erzählt es eine Utopie jenseits der kapitalistischen Katastrophen und stellt dabei die Menschlichkeit und die Liebe in den Vordergrund. Was Damasio hier mit Sprache und Typographie hervorbringt, hebt sein Werk aus der Menge traditionell erzählter Literatur heraus und darüber hinaus ist es eines der besten Science-Fiction-Bücher der letzten Jahre.

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Buch:

Die Flüchtigen

Original: Les furtifs, 2019

Autor: Alain Damasio

Übersetzerin: Milena Adam

gebundene Ausgabe, 843 Seiten

Matthes & Seitz, 2021

Cover: Dirk Lebahn

 

ISBN-10: 3751800395

ISBN-13: 978-3751800396

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 20.11.2024, zuletzt aktualisiert: 26.05.2025 07:13, 23886