Ich geb’s zu: Diesen Roman wollte ich links liegen lassen. Bereits der Klappentextbeginn hat mich abgeschreckt: »Seit die außerirdischen Majoda die Erde zerstört haben, gibt es nur noch wenige Orte in der Galaxis, die ausschließlich von Menschen bewohnt werden. Einer davon ist die Raumstation Gaea, die Heimat der jungen Kyr. Sie ist die beste Kämpferin ihres Jahrgangs, und sie kennt nur ein Ziel: Rache für die Vernichtung der Erde zu nehmen.«
Gähn. Und schlägt man das Buch im Laden auf, so bekommt man als allererstes eine saftige Trigger-Warnung ab. Es wird schon einige Zeit von namhaften Leuten diskutiert, ob diese speziellen Hinweise hilfreich oder kontraproduktiv sind. Literatur soll eigentlich auch überraschen und fordern. Jedenfalls wird man vom Verlag über folgendes alarmiert: »Die letzte Heldin zeigt sexistische, homophobe, transphobe, rassistische und ableistische Haltungen, thematisiert sexuellen Missbrauch und erzwungene Schwangerschaften, Gewalt, Kindesmissbrauch, missbräuchliche Radikalisierung von Kinder, Genozid, Suizidgedanken und Suizid.«
Davon abgesehen, dass solche Warnungen eher auf den Buchumschlag gehören (und die Verlagswebseite), damit Interessierte sie gleich registrieren und das Buch umgehend wieder weglegen, falls davon jemand mit Gewalt oder Suizid ernsthafte Probleme hat, fragte ich mich zunächst, ob ich dieses Spoiler-Konzentrat wirklich brauche. Es ist sicherlich sinnvoll für stark gefährdete Personen, aber lesen diese bevorzugt Military SF? Immerhin ist diese umfangreiche Warnung nicht auf dem Mist von Heyne gewachsen, sondern findet sich auch in der englischsprachigen Originalausgabe. Insofern kommt die Warnung vielleicht von der Autorin selbst (oder ihrem Lektorat) und das würde das Brimborium diskussionslos legitimieren.
Wer also bereits von Trigger-Warnungen genervt ist, sei hiermit vorgewarnt. Und wer sich über das Gendern aufregt, bekommt gleich auf der ersten Seite des eigentlich Romantexts den nächsten Dämpfer. Der erste Satz unter der Überschrift »Wer sind die Menschen?« lautet wie folgt: »Diese missverstandenen Nachzügler*innen auf der intergalaktischen Bühne haben eine stolze Geschichte.«
Während ich Sinn und Zweck von Gendersternchen nachvollziehen kann und bei Sach- und Nachrichtentexten auch toleriere, stört es bei der Lektüre eines belletristischen Romans doch etwas. Besonders in Dialogen. Allerdings ist es möglicherweise der Übersetzerin zu verdanken, dass es hier nicht ausgeartet ist. Nur einmal, bei einer Aufzählung, wirkte das Gendern etwas übertrieben, aber ansonsten gibt es keine »Sternchenflut«.
Warum also habe ich mir diesen Roman doch besorgt, obwohl ich keine Military SF mag? Ganz einfach: Auf dem SF-WorldCon in Glasgow, wo ich nach langer Abstinenz mal wieder einen SF-Welt-Kongress besucht habe, wurden die diesjährigen Hugo-Awards verliehen und in der Königskategorie »Bester Roman« gewann die Britin Emily Tesh mit ihrem SF-Erstling Some Desperate Glory. Da es mir wichtig ist, zumindest die Preisträger dieser wichtigsten Auszeichnung im SF/F-Genre zu kennen, habe ich meine ursprüngliche Entscheidung revidiert und den Roman gelesen.
Ich erwähnte eingangs, dass es sich hierbei um Buch des Subgenres Militär-SF handelt. In Interviews erklärte Tesh, sie sei mit der Lektüre von Orson Scott Cards Das große Spiel (Originaltitel: Ender’s Game) aufgewachsen, der Mitte der 1980er-Jahre sowohl mit dem Hugo als auch den Nebula ausgezeichnet wurde. Des Weiteren könnte der Originaltitel »Some Desperate Glory« inspiriert sein vom Tagebuch eines Offiziers der British Army namens Edwin Campion Vaughan, das er über seine ersten acht Monate im Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Es wurde unter dem Namen Some Desperate Glory. The Diary of a Young Officer posthum in den 1980er-Jahren veröffentlicht und war ein großer Erfolg in Großbritannien.
Das Mädchen Kyr, das im eingangs zitierten Klappentext erwähnt wird, zählt zu einer Generation von genetisch modifizierten Supersoldaten, ebenso wie übrigens ihr Zwillingsbruder Magnus. Beide gehören auf der Raumstation Gaea zu den Besten ihres Fachs. Während Kyr bereits von Kindesbeinen an absolut auf Linie gedrillt wurde und mit voller Überzeugung gegen die Aliens, die die Menschheit auf der Erde ausgelöscht haben, in den Krieg ziehen will, verschwindet Magnus. Angeblich habe er desertiert, was Kyr nicht glauben kann, da er ihr großes Vorbild ist. Kyrs Weltbild kommt ins Wanken, als sie kurz vor ihrer Volljährigkeit zugeordnet wird. Junge Frauen kommen entweder als Arbeitskraft in den Hintergrund, als Soldatin in den Krieg oder in die sogenannte »Krippe«, um neue Menschen zu gebären. Kyr landet wider Erwarten in der Krippe. Mitentschieden hat ihr Onkel, Kommandant Aulus Jole, der, wie sich später herausstellt, nicht der tolle Mentor ist, für den Kyr ihn hielt.
Somit bricht Kyr aus ihrem vorgezeichneten Leben aus und flieht mit dem ungefähr gleichaltrigen, schwer zu greifenden Avicenna sowie einem Alien namens Yiso von der Raumstation, um sich auf die Suche nach Magnus und der Wahrheit zu begeben.
Das erweist sich jedoch als schwierig, denn der Roman schildert verschiedene Wahrheiten in dem er die Heldin verschiedene Realitäten durchleben lässt. Diese Parallelwelten machen die Handlung nicht nur spannend und komplex, sondern auch anspruchsvoll. Als Leser geht man durch diverse Szenarien, trifft auf Protagonisten, die ähnlich, aber nicht genau so sind wie Kyr, Magnus und Avicenna. Nur das Alien Yiso scheint den Überblick zu haben, und in der Tat steht über allem eine von den Außerirdischen geschaffene Super-KI mit dem Namen Weisheit.
»Die letzte Heldin« ist ein moderner, durchaus herausfordernder SF-Roman, der einiges zu bieten hat. Neben all den Themen, vor denen in der Trigger-Warnung eingangs gewarnt wird, gibt es auch drei Hauptpersonen, die allesamt queer sind. Für die Handlung hat das keine weitere Bewandtnis, aber mitunter gibt es Stimmen, nach denen es zu wenig SF für Schwule und Lesben gäbe, und so wäre hier ein Roman für all die Leute, denen das wichtig ist.
Der Hugo für dieses Buch hatte sich im Vorfeld abgezeichnet. Tesh hatte zuvor Fantasy geschrieben und für einen Kurzroman 2020 den World Fantasy Award bekommen. Ein Jahr später wurde ihr der Astounding Award (ehemals: John W. Campbell Memorial Award) verliehen, mit dem Autorinnen und Autoren ausgezeichnet werden, die in den vergangenen zwei Jahren debütierten.
Emily Teshs SF-Erstling »Die letzte Heldin« kann auf ganzer Linie punkten, da er das Subgenre der militärischen Science Fiction für die aktuelle Zeit überarbeitet und große Themen der aktuellen Gesellschaft aufgreift. Kyr, die letzte Heldin, dürfte nicht die größte Sympathieträgerin aller Zeiten sein, eher im Gegenteil, aber das muss sie auch nicht. Man kann gespannt sein, was von Emily Tesh, dieser neuen Stimme der britischen SF, als nächstes kommt.