Die Realität kommt von Rudi Nuss
Rezension von Ralf Steinberg
Den Untergang der Zivilisation verbindet man meist mit Kriegen oder Katastrophen. Rudi Nuss schaut sich an, wie eine Welt aussehen könnte, die durch Upload und Singularität langsam verschwindet.
Der Titel Die Realität kommt ist dabei Programm, denn die Realität ist keine feststehende Größe sondern eine Variable. Virtuelle Realitäten bilden hier Gegenwart wie Vergangenheit ab. So spielt etwa die VR Arkadi 3 eine große Rolle, die bereits zu Sowjetzeiten entwickelt wurde.
In dieser Melange aus Technik, Möglichkeiten und Verschwinden lebt Conny. In den Resten einer verlassenen und verwahrlosten VR treibt sie sich in der virtuellen Hinterlassenschaft einer Userin herum, vielleicht verliebt, auf jeden Fall fasziniert. Ihr Heim ist eine WG am Meeresstrand, voller Zivilisationsmüll aus dem das Paar bei dem und mit dem sie lebt Kunst und Drogen herstellt und dabei in einer tiefen Liebe dem Untergang trotzt. Denn da draußen gehen Menschen in die bodenlose Tiefe der »Pools« und zelebriert der Kult der »Neuen Immersion« die Selbstauslöschung.
Geschlechter, Sexualität und Identifikation reichen auch in die virtuellen Räume, wenn man da sgar als Tier, gar als ein Rudel in mehrere Körper zersplintert, leben kann. Und hier macht sich Conny auf die Suche nach sich selbst, dem »girl with a dick«; und nach Marlo, jener Userin in Vogelgestalt.
Nach und nach tauchen wir ein in die Hintergründe der Welt, erfahren Zusammenhänge zwischen den Figuren und sehen die Fäden ihrer Existenz in der oberflächlich realen Welt und wie sie sich in die einst megahippe VR Avalon erstrecken.
Und dann kommt ein recht unerwarteter Cut. Ein zweiter Teil des Romans spielt in einem Hochhaus, abgeschottet vom Untergang, dem Draußen, mit altem und neuem Personal und auch eine Suche ergibt sich wieder, die nach der Maschine der absoluten Beruhigung, der ersten Maschine. Vielleicht ist das der wahre virtuelle Tod, nachdem dann diese so viel beschworene »Realität« kommt.
Rudi Nuss liefert mit seinem Roman-Debüt ein sprachlich beeindruckendes literarisches Werk ab, dass durch interessante Figuren geprägt ist, die sich in ihren Eigenschaften und Kanten im technologischen und sozialen Kontext einer Welt befinden, die teilweise so schon existiert. Dabei nutzt Rudi Nuss neue und zukünftige Worte, die das genauso bunt beschreiben, wie es sich beim Lesen anfühlen sollte, wenn man in eine undenkbar scheinende Zukunft eindringt.
Dabei spielt er mit großer Lässigkeit verschiedene Lebensentwürfe durch, ohne zu bewerten, vielmehr spürt man die große Freude daran, was alles möglich ist, wie vielfältig das Leben ist und wie umso vielfach unterschiedlicher es noch werden kann, wenn, neben den geistigen Grenzen, auch die körperlichen Beengtheiten fallen.
Und jenseits dieses philosophischen Weiterdenkens hat Rudi Nuss mit seinen Figuren und vor allem mit seiner Protagonistin Conny auch eine oder zwei spannende Geschichten zu erzählen. Nicht auf eine gewöhnliche Art, dafür ist die Sprache zu lyrisch und überraschend, aber fesselnd, sobald man in den surrealen Fluss eingetaucht ist.
Mit Rudi Nuss hat die deutschsprachige Science-Fiction eine neue quirlige Stimme gefunden und ich freue mich schon sehr auf seine nächsten Werke!
Fazit:
»Die Realität kommt« von Rudi Nuss ist ein ungewöhnlicher SF-Roman, der sprachlich wie auch thematisch überrascht. Das Leben in einer Welt voller virtueller Erweiterungen entwickelt einen hypnotischen Sog, der die Grenzen der Realität verschiebt und uns gleich mit. Kein Debüt für zwischendurch.
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