Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe (Autor: Stefan Heym)
 
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Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe von Stefan Heym

Erzählt nach den Aufzeichnungen eines gewissen Josiah Creech

 

Rezension von Ralf Steinberg

 

Rezension:

Daniel Defoe verbinden wohl die meisten Leser heute ausschließlich mit dem ersten Teil von Robinson Crusoe. Zu Lebzeiten kannte man ihn jedoch eher wegen etlicher satirischer Werke, deren berühmtestes das zunächst anonym erschienene The Shortest Way With The Dissenters (Der kürzeste Weg mit den Dissentern) war.

Darin überzog er die politische Meinung zur Religionstoleranz satirisch und offenbarte dadurch ihren wahren Charakter. Als man Defoes Autorenschaft erkannte, folgten Gefängnis, Geldstrafen und Pranger. Letztlich befreite ihn seine Beliebtheit bei der Bevölkerung.

 

Stefan Heym verstand es zeitlebens großartig, historische Themen spannend aufzubereiten und sie offensichtlich auf die Gegenwart zu projizieren. Sein Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe erschien 1970 bei Diogenes in Zürich, da Heym wegen kritischer Schriften unter einem Berufsverbot in der DDR stand. Veröffentlichungen im Ausland ahndete man mit Geldstrafen - die Ähnlichkeiten zu Heyms eigener Biografie lagen auf der Hand. Zudem stand die DDR nach dem Tod Ulbrichts vor Veränderungen, eine gute Zeit also, der Meinungsfreiheit Bahn zu brechen.

Mit spitzer Feder und in der flüssig angepassten Sprache des 18. Jahrhunderts begleitet Heim den Untersuchungsbeamten Josiah Creech, der für seinen Lord den Verfasser der Schmähschrift fassen und zur Rechenschaft stellen soll. Die Jagd wird in Tagebuchnotizen präsentiert, stets aus der bemüht objektiven Sicht des eifrigen Speichelleckers, die jedoch nur so überquillt vor Ressentiments gegen Menschen und Berufe anderer Schichten. Creech offenbart dabei die normale Dienstbotenmentalität, durch die man ein scheinbar erhöhtes Leben führt, allein durch den Schatten in dem man kauert. Während seiner Ermittlungen plaudert er locker über allerlei Methoden der Bespitzelung und Manipulation, von der Druckerei bis zur Justiz - die Parallelen zur DDR sind eng und, auch gar nicht so weit weg von unserem Alltag. Notorischer Verfolgungswahn und eine damit verbundene Einschränkung von Bürgerrechten zum Schutze des Staates - aktueller geht es kaum.

 

Defoe wird für sein satirisches Werk an den Pranger gestellt, obwohl die Bevölkerung ihm mehrheitlich zustimmt. Entweder weil sie die Satire als solche erkennen oder die krassen Maßnahmen sogar befürworten. Diesen Sommer gab uns Thilo Sarazin ein lebendiges Beispiel derlei Geschehnisse. Und obwohl Sarazin keinesfalls das literarische Niveau Defoes erreicht und zudem an den von ihm kritisierten Umständen nicht unwesentlich selbst Verantwortung trägt, lieferte die mediale Hatz und politische Hilflosigkeit genügend Querbezüge zu dem von Stefan Heym aufgezeigten Mechanismus.

Defoe wird beim Heym so dargestellt, als hätte er die Entdeckung der Autorenschaft nicht nur erwartet, sondern auch in die Aktion mit eingeplant. Indem der Autor öffentlich für die Satire angeprangert wird, gesteht die Administration ein, getroffen worden zu sein. Um so peinlicher, dass die Bevölkerung Defoe verteidigt.

Das Buch als Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung, der Autor als Volksverhetzer - Stefan Heym beweist, wie alt die Story ist. Zugleich wirft er einen feinen Blick in das Wesen eines Staatsdieners, der Dinge zu bewahren sucht, ohne sie zu hinterfragen - nicht umsonst klingt der Name wie „Kriecher“. Ein Wesen also, dass zu jeder Zeit an jedem Ort zu finden ist.

 

Meine Ausgabe erschien 1978 im Verlag Der Morgen, dem Presseorgan der DDR-CDU. Zwei Jahre zuvor wurde Wolf Biermann wegen Verletzung von Staatsbürgerpflichten ausgebürgert. Protestierende Künstler verhaftete man, drangsalierte sie und einige verließen ihr Land. Sie waren Dissidenten, Abweichler von der Staatsmeinung. Welche Ironie.

Daniel Defoe hätte bestimmt eine Ballade darüber verfasst.

 

Fazit:

Eine kleine Parabel über die Meinungsfreiheit, deren Aktualität die Meisterschaft Stefan Heyms beweist und zugleich einen tiefen Blick auf die vergessene Seite des Klassikers Daniel Defoe gewährt. Wer immer auch Autoren für ihre Werke an den Pranger stellen mag, sollte zunächst dieses Büchlein studieren und dann die Steine fallen lassen.

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Buch:

Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe

Erzählt nach den Aufzeichnungen eines gewissen Josiah Creech

Autor: Stefan Heym

Der Morgen, 1978

Illustrationen: Horst Hussel

gebunden, 90 Seiten

 

ISBN-10: 3371001636

ISBN-13: 978-3371001630

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 17.09.2010, zuletzt aktualisiert: 18.04.2024 09:19, 10987