Wer sich im Superheldenuniversum von Marvel auskennt, für den ist Daisy Johnson eine Agentin der Organisation S.H.I.E.L.D., erfunden 2004 von Brian Michael Bendis und Gabriele Dell’Otto. Sie agiert unter dem Namen Quake und hat es seit dem von den Comics bis in Marvels »Cinematic Universe« geschafft.
In England gibt es aber noch eine Daisy Johnson. Geboren im Jahr 1990, ist sie eine junge aufstrebende Autorin, die bereits mit ihrem ersten Roman (Untertauchen, auf Deutsch ebenfalls bei btb) für Furore sorgte, weil sie als Youngster mit ihrem Debüt gleich für den renommierten Booker Prize nominiert wurde.
Auf dem Frontcover ihres zweiten Romans Die Schwestern prangt ein Zitat einer britischen Tageszeitung The Guardian, die ich sehr schätze: »Daisy Johnson ist das dämonische Kind von Shirley Jackson und Stephen King,« Eine kurze Recherche ergab, dass der Roman sogar gleich zwei Mal innerhalb weniger Tage vom Guardian besprochen wurde. Ein weiteres Indiz, dass es sich hierbei um keine unwichtige Novität handeln dürfte.
Der Roman ist mit seinen knapp unter 200 Seiten relativ schnell gelesen. Der Plot lässt sich ebenso rasch zusammenfassen. Sheela, eine Kinderbuchautorin und alleinerziehende Mutter, zieht mit ihren beiden Töchtern Juli und September in ein entlegenes Cottage am Meer. Das sogenannte »Ruhehaus« ist ein heruntergekommener Zufluchtsort mit schwerer Vergangenheit. Nicht nur wurde Peter, der Vater der beiden Kinder, dort geboren, es ist eine Art mystisch-düsterer Ort, der auf Sheela phasenweise nicht wie ein Gebäude, sondern wie ein Körper wirkt. Sheela »hatte schon immer gewusst, dass Häuser Körper sind«, beginnt das Kapitel des zweiten Teils, das die Gedankenwelt der Mutter schildert.
Nicht nur das marode Haus, sondern auch die drei Hauptprotagonisten haben schwerwiegende geheimnisvolle Altlasten, die im Verlauf der Handlung aus dem Dunklen geholt werden. Es ist etwas Schwerwiegendes passiert, denn die Mutter spricht nicht mehr mit ihren Töchtern.
Juli und September sind keine Zwillinge, benehmen sich aber so. September dominiert die knapp ein Jahr jüngere Juli in jeder Hinsicht extrem. Sie haben sogar ihre Geburtstage zusammengelegt, um sich näher zu sein. September wird nur indirekt von Juli beschrieben. Ein simpler erzähltechnischer Kniff mit großer Wirkung, denn er macht die Grausamkeiten von September etwas erträglicher. Die Palette dessen, was September alles von ihrer Schwester verlangt, ist teilweise harter Tobak und geht bis hin zur Selbstverstümmelung und noch Schlimmerem.
»Die Schwestern« erinnert stellenweise wirklich an Shirley Jacksons Roman Wir haben schon immer im Schloss gelebt, erreicht aber nicht dessen gespenstische Atmosphäre. Johnsons Stil ist moderner und literarischer; in Kombination auch anspruchsvoller. Es wird viel bruchstückhaft mit Rückblenden erzählt, was das Lesen herausfordernd macht.
Hinzu kommt, dass alles, was aus der Sicht von Juli geschildert wird, auch als unzuverlässig gelesen werden kann. Bis zum Schluss dachte ich zeitweise während der Lektüre, dass September nur ein Hirngespinst von Juli hätte sein können.
Und übrigens. Mit Stephen King, wie es auf dem Titelbild steht, hat der Roman nichts zu tun. King-Fans können bitte weitergehen … es gibt nichts zu lesen.
Insgesamt ist der Roman »Die Schwestern« ein psychologisches Horrordrama, das sich auf ungewöhnliche Weise Themen wie Depression sowie häuslicher und sexueller Gewalt nähert. Ein Buch, das in Echtzeit schnell gelesen ist, aber dessen Intensität länger nachhallt als gedacht. Vermutlich auch in so manchen nächtlichen Träumen seiner Leserinnen und Leser, die auf die Lektüre folgen.