Die Tochter der Amazone von Alice Hoffman
Rezension von Christel Scheja
Es hat schon einige Bücher über das mythische Volk der Amazonen gegeben - solche, die sich eng an die bekannten griechischen Sagen gehalten haben, aber auch andere, die versuchten, ein möglichst realistisches Bild des Frauenvolkes zu zeichnen. Anhand von archäologischen Funden konnten die Amazonen zwar noch nicht als solche nachgewiesen werden, aber dass es Stammesgesellschaften gegeben hat, in denen Frauen ein höherer Stellenwert eingeräumt wurde als üblich und in denen es auch Kriegerinnen gab ist mittlerweile anerkannt.
Alice Hoffmann geht einen Mittelweg. Sie verzichtet darauf ein möglichst historisches Bild der Amazonen zu zeichnen, auch wenn sie nahe an den archäologischen Erkenntnissen über die Steppenvölker Asiens bleibt, dichtet den Kriegerfrauen aber auch Eigenschaften und Verhaltensweisen an, die durch Sagen überliefert wurden.
Regen wächst als Tochter der Amazonenkönigin in einer harten Zeit auf. Sie selbst ist die Frucht einer Massenvergewaltigung, die ihre Mutter hart und kalt gemacht hat, und ihr Stamm wird immer wieder von Feinden bedroht. Gefühle bedeuten Schwäche - Regen lernt sehr schnell, dass es darauf ankommt stark und unerbittlich zu sein, wenn man überleben will.
So ist sie schon mit jungen Jahren eine geschickte Kriegerin und unvergleichliche Reiterin, die eins mit ihrer Stute wird. Dann gewinnt sie auch noch eine Bärin zur Freundin.
Trotzdem ist Regen nicht zufrieden. In ihrem Herzen herrscht Verwirrung, denn sie lässt ihre Gefühle zu, empfindet Trauer, dass ihre Mutter sie nicht liebt, beneidet deren Dienerin und Freundin. Sie kann den ständigen Krieg und das Blutvergießen nicht als gegeben hin nehmen und ihre Gefühle erkalten zu lassen.
Sie zeigt Mitgefühl und wird dadurch zu einer Gefahr für ihren Stamm. Denn ist das nicht eine Schwäche, die im falschen Moment zögern lässt und den ganzen Untergang des Stammes herbei führen könnte?
"Tochter der Amazone" ist mit weniger als 130 Seiten auch für ein Jugendbuch ungewöhnlich dünn. Das Buch thematisiert Gewalt ohne sie auszuwalzen, auch Schilderungen des Alltags bleiben ziemlich an der Oberfläche, denn der Autorin geht es nicht darum eine mythische Kultur zum Leben zu erwecken.
Sie nutzt die Geschichte, um die Entwicklung ihrer Heldin darzustellen, die nach und nach Aspekte ihres Lebens in Frage stellt und nach Alternativen sucht, weil sie das Gegebene nicht länger nur hinnehmen will. Sie spürt, dass es noch etwas anderes als Gewalt und Blutvergießen gibt, und lernt durch positive Erfahrungen, dass jede Wahrheit zwei Seiten hat. Und sie spürt, dass diese Veränderung auch wichtig für ihr Volk wird, damit es nicht untergeht.
Das sind Erkenntnisse, die sich eher an ältere Jugendliche und Erwachsene richten - vor allem Mädchen, die anfangen, nach ihrem Platz in der Welt zu suchen. Wie sie entwickelt sich auch die Heldin und macht sich eine eigene Meinung. Damit ist das Buch weit davon entfernt, ein oberflächliches Abenteuer zu sein.
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