Die Umarmung des Todes von Natsuo Kirino
Reihe: Die 7 Todsünden
Rezension von Ramona Schroller
Klappentext:
Yayoi Yamamoto arbeitet Nacht für Nacht in einer Lunchpaket-Fabrik am
Rande Tokios, um endlich Geld für eine eigene Wohnung aufbringen zu
können. Als sie aber eines Abends herausfindet, daß ihr Mann Kenji
ihre gesamten Ersparnisse verspielt hat, verliert sie die Nerven und
bringt ihn im Affekt um. Verzweifelt versucht Yayoi zusammen mit drei
Kolleginnen die Tat zu vertuschen, doch mit jedem Schritt geraten die
Frauen tiefer in einen unentrinnbaren Sog des Verderbens ...
Inhalt:
Yayoi Yamamoto arbeitet zusammen mit Masako Katori und zwei anderen
Frauen in der Nachtschicht. Nacht für Nacht rackern die Frauen sich
für einen Hungerlohn ab, um zumindest etwas sparen oder sich einigen
Luxus leisten zu können.
Doch dann erfährt Yayoi, daß ihr Mann Kenji all ihr mühsam verdientes
Geld beim Spielen verloren hat. Es kommt zu einem heftigen Streit
zwischen den Eheleuten, bei dem Kenji seine Frau schließlich
mißhandelt.
Am nächsten Abend rastet Yayoi bei der Ankunft ihres Mannes aus und
stranguliert ihn mit ihrem eigenen Gürtel. Nach der Tat aber weiß sie
nicht weiter und wendet sich an Masako. Die erklärt sich hilfsbereit
und kommt vorbei, um die Leiche Kenjis in ihr Auto zu laden. Am
nächsten Morgen zerstückelt Masako den Toten gemeinsam mit ihrer
anderen Arbeitskollegin Yoshie und wirft die einzelnen Teile des
Körpers in den Hausmüll. Fünfzehn Mülltüten allerdings, die der
vierten Kollegin Yayois anvertraut wurden, werden von dieser in einem
Park entsorgt und am nächsten Tag gefunden.
Daraufhin beginnt ein Alptraum für die vier Frauen: Die Polizei
verhört sie mehrmals, sie sind sich untereinander uneins, und
schließlich plappert Kuniko, die vierte Frau, alles aus. Eine Hetzjagd
auf die Verschwörerinnen beginnt - doch nicht die Polizei ist ihnen
auf den Fersen, sondern die Gefahr kommt aus einer anderen Richtung
...
Rezension:
Ein weiterer Band der Goldmann-Reihe „die 7 Todsünden". Diesmal soll
der Roman sich mit dem Thema „Wollust" beschäftigen. Dabei bereitete
mir gerade diese Todsünde einiges Kopfzerbrechen und die dezente
Frage, was denn nun schon Wollust sei. Eine etwas unglückliche Lösung
des Verlages, diesen Roman zu wählen, andererseits würden manche
vielleicht gar nicht auf dieses spannende und interessante Buch
aufmerksam werden, würde vorn auf dem Titel nicht so groß die
entsprechende Todsünde prangen.
Rezession in Japan. Der Boom, der das Land der aufgehenden Sonne so
lange im Griff hatte, erweist sich als hohle Seifenblase und
zerplatzt. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Löhne und Gehälter
fallen, mehr als ein Manager, ja sogar Politiker, sieht sich selbst in
der Pflicht und nimmt sich, in ehrbarer Pflichterfüllung, selbst das
Leben.
Frauen nehmen im modernen Japan noch immer eine Sonderposition ein.
Zwar sind sie gern gesehene Arbeiterinnen, doch nur den wenigsten
gelingt es, die Karriereleiter zu erklimmen. Dabei geht es ihnen nicht
viel anders als im Westen, im Gegenteil, meist sogar noch schlechter.
Frauen sind im modernen Japan noch immer von den Männern abhängig, sie
bekommen weniger Lohn oder Gehalt, müssen sich nebenbei noch um
Kinder, Haushalt und ihre Karriere kümmern. Geschiedene oder
verlassene Frauen werden von ihren Nachbarn aus der Gemeinschaft
ausgestoßen, an der Arbeit werden sie gemobbt - kein leichtes Leben,
beileibe nicht!
Natsuo Kirino läßt ihren Krimi in genau diesem Millieu spielen. Ihre
„Heldinnen" sind Hausfrauen, die sich etwas nebenher verdienen und für
ihren mageren Lohn hart arbeiten müssen. Zwar läßt die Autorin drei
der vier Frauen blaß und auf wenige, meist nicht sehr schmeichelhafte
Charakterzüge rduziert auftreten, dennoch gelingt ihr ein stimmiges
und nicht gerade nachahmungswürdiges Bild der heutigen Gesellschaft in
Japan. Da muß der westliche Leser teils ziemlich viel schlucken.
Am Ende ist es Masako, die von vorn herein als die starke auftritt,
die überlebt und an ihrem düsteren Abenteur sogar noch gewinnt und
wächst. Ob zum guten oder zum schlecht, das läßt Kirino offen. Dem
Leser wird nur klar, daß es einen Neuanfang gibt, so bitter er sein
mag. Masako, die die wahre Liebe gefunden und wieder verloren hat,
sucht sich einen neuen Weg, stößt, um mit ihren eigenen Worten zu
sprechen, „neue Türen auf". Ein Hoffnungsschimmer?
Japan verändert sich. Doch ist diese Veränderung gut? Japan hat in den
letzten mehr als einhundert Jahren einen Spagat hingelegt, sich
verbogen und verdreht, um Tradition und den Erfolg zu haben. Doch
letzten Endes wurde der einstige Erfolg, der sich nur zu schnell in
Luft auflöste, auf dem Rücken der Frauen gemacht. Und urplötzlich
entdeckt der Leser die Gefahr der freien Marktwirtschaft anhand der im
Roman genannten Beispiele: Das Wort „sozial" scheint vollständig aus
dem Wortschatz gestrichen worden zu sein. Sozialhilfe, wie sie in
Deutschland bis vor kurzem noch bezahlt wurde, reicht nicht einmal für
das Existenzminimum, Pflegehilfe gibt es, wenn überhaupt, nur äußerst
sporadisch. Wer Pflege braucht, der fällt aus der Gesellschaft heraus.
Alles ist eine Ware, von der Arbeitskraft des einzelnen, bis zur
Unschuld der Kinder. Alles hat seinen Preis. Eine Frau über 30 ist
alt, junge Mädchen, je jünger, desto besser, lassen sich aushalten von
ihren wesentlich älteren Verehrern, denken von ihren Eltern als dumm
und altmodisch.
Soll der freie Markt denn wirklich so weit gehen? Muß der schwächere
einzelne untergehen, damit die schwächelnde Masse noch einmal Wasser
treten kann und die Reichen immer noch mehr Geld scheffeln und sich an
Minderjährigen vergreifen, weil die eigene Frau gerade noch gut genug
ist, um Kinder in die Welt zu setzen? Wo liegt der Wert eines
Menschen? In seiner Produktivität oder in seinem Wesen?
Kirino gibt in ihrem Roman eine Antwort auf diese Fragen und hält der
modernen Gesellschaft, nicht nur in Japan, den Spiegel vor. „Seht her
und schaut, so kann es euch auch ergehen!" scheint sie zu rufen. Und
selbst, wenn sie übertrieben haben sollte, was nicht unbedingt der
Fall ist, geht der Trend doch eindeutig in die Richtung, die sie
vorgibt. Eine Richtung des Konsumdenkens, der Produktivität auf Kosten
der Individualität und der Schwächeren, der Alten, der Kranken ... und
der Frauen. Kinder, die von kleinauf gedrillt werden, ihren eigenen
Wert einschätzen zu können, die unter fadenscheinigen Gründen von der
Schule fliegen und sich ihr Geld bei mühsamer Hilfsarbeit verdienen
müssen.
Natsuo Kirinos Roman ist mehr als ein spannender Krimi, er ist eine
Gesellschaftsstudie, die viel zu schnell global werden könnte. Durch
die spannende Handlung macht es zwar Spaß, das Buch zu lesen, doch
bleibt immer ein bitterer Geschmack zurück, nach jedem einzelnen
Kapitel. Keine leichte Lektüre, doch unbedingt empfehlenswert für die,
die es etwas anspruchsvoller mögen.
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