Die Wächterinnen von New York (Autorin: N. K. Jemisin; Great Cities 1)
 
Zurück zur Startseite


  Platzhalter

Die Wächterinnen von New York von N. K. Jemisin

Reihe: Great Cities Band 1

 

Rezension von Matthias Hofmann

 

Man kann sich in vieles verlieben, besonders, wenn es lebt: Menschen, Tiere oder Pflanzen. Aber auch in Gegenstände, Ideen, Verhaltensweisen. Und besonders in Städte. Denn eine Stadt lebt irgendwie auch. Deshalb gibt es die Spezies »Stadtmensch«, die nicht nur gerne in einer Stadt wohnt, sondern sich gar nichts anderes vorstellen kann.

 

Im neuen Roman von N. K. Jemisin spielt eine Stadt die Hauptrolle. Nicht irgendeine Großstadt, sondern New York City. Schon oft besungen in vielen wundervollen Liedern, von Frank Sinatra über die Beastie Boys bis Alicia Keys, ist »Big Apple« nebenbei bemerkt auch meine absolute Lieblingsstadt. Ich liebe sie. Ich liebe sie sehr.

 

Seit 1988 habe ich sie schon oft besucht. Einmal, als ich nach längerer Zeit wieder dort war, musste ich mich erstmal ein paar Stunden beruhigen und sortieren, so aufregt war ich, als ich aus der Subway-Station den südlichen Broadway betrat und Richtung Greenwich Village schlenderte. Am liebsten wäre ich in alle vier Himmelrichtungen gleichzeitig gelaufen, um in die Atmosphäre dieser grandiosen und vielschichtigen Metropole einzutauchen. So wie Sinatra in seinem Song. »I want to be a part of it. New York, New York!«

 

Für Die Wächterinnen von New York hat sich Jemisin eine ganz wundervolle Idee einfallen lassen. Bei ihr hat eine Stadt wie New York City nicht nur eine eigene Atmosphäre und »lebt« im übertragenen Sinne, sondern sie lebt wirklich. Sie setzt sich zusammen aus den fünf Boroughs, den Bezirken The Bronx, Brooklyn, Manhattan, Queens und Staten Island. Diese werden jeweils verkörpert durch menschliche Avatare.

 

Die Zusammenstellung dieses Quintetts hat es in sich: Bronca, eine lesbische über 60 Jahre alte Frau vom indigenen Stamm der Lenape, die ziemlich aufbrausend ist und viel weiß, ist die Bronx. Brooklyn alias »MC Free«, die schwarze Ex-Rapperin, die inzwischen als Juristin und Stadträtin arbeitet, ist Brooklyn. Manny, ein nicht heterosexueller, afro-amerikanischer Mann Ende 20 verkörpert Manhattan. Padmini, eine junge tamilische Immigrantin, die als Doktorandin in New York City lebt, ist Queens. Und Staten Island wird verkörpert durch Aislyn, eine 30-jährige weißhäutige Frau, die noch bei ihren Eltern lebt und deren Vater ein gewalttätiger, rassistischer Polizist ist. Und dann ist da noch der Avatar der gesamten Stadt, der wie ein queerer schwarzer obdachloser Mann aussieht, der gerne Leute abzockt. Und mindestens zwei andere komplette Städte mischen ebenfalls mit: São Paulo und Hongkong.

 

Das ist natürlich ganz schön viel Diversität auf einmal. Insgesamt wirkt alles etwas arg konstruiert. Auch der Aspekt, dass die weißen Personen, bis auf Aislyn, in dem Roman eher negativ dargestellt werden, wurde bei Leserreaktionen in den USA auch schon mal als umgekehrter Rassismus kritisiert. Diese Inklusion aller Art von Menschen repräsentiert anderseits den Schmelztiegel New York City ziemlich anschaulich und macht das Werk in Teilen zu einem modernen Gesellschaftsroman.

 

Der eigentliche Plot dreht sich um eine übernatürliche, fast schon kosmische Bedrohung im Geiste von H. P. Lovecraft, was innerhalb der eigentlichen Handlung sogar vergleichend erwähnt wird. Die Handlung basiert auf einer Kurzgeschichte mit dem Titel The City Born Great aus dem Jahr 2016, die für den Hugo- und Locus-Award nominiert war und dem Buch als »Prolog« vorangestellt ist.

 

Alle großartigen Städte nehmen, wenn sie eine bestimmte Größe erreicht haben, eine menschenähnliche Gestalt hat. Im Fall von New York City sind es jene zuvor beschriebene fünf Avatare, die in der deutschen Übersetzung zu »Wächterinnen« geworden sind. (Etwas schräg, da Manny eigentlich männlich ist.) Böse Mächte bedrohen New York, das im Koma zu liegen scheint. Ganz wie bei klassischer Fantasy müssen sich ihre fünf Avatare im Verlauf der Geschichte erst finden und erfinden, denn sie entwickeln eigene Superkräfte, um danach gerüstet zu sein, ganz New York City zu retten. Die bösen Mächte, die die Stadt bedrohen, könnten wahrlich aus Lovecrafts Geschichten stammen. So tauchen immer wieder bedrohliche Tentakel aus dem Nichts auf oder spinnenartige Monster. Oder die Realität bekommt Risse und bricht auf, um eine temporäre Verbindung zu einer anderen Welt herzustellen. Das Böse hat verschiedene Gestalt und Namen, aber die meiste Zeit nimmt es die Form einer »Frau in Weiß« an.

 

»Die Wächterinnen von New York« ist ganz anders als die preisgekrönte Broken-Earth-Trilogie, die auf Deutsch bei Knaur vorliegt und drei Mal hintereinander den Hugo in der Kategorie »Bester Roman« abräumte. Es ist eine Urban-Fantasy-Geschichte, die sich nicht von Beginn an erschließt und etwas mehr Aufmerksamkeit beim Lesen erfordert als der Durchschnitt. Mindestens 150 Seiten muss man schon durchhalten, um den roten Faden zu finden. Aber es lohnt sich. Die Figuren sind kontrovers, sie streiten, sie sind mitunter vulgär. Aber sie sind auch mitreißend, emphatisch und faszinierend. Alles in allem sind sie eben so wie wie New York.

 

Denn größten Gewinn erzielt man beim Lesen, wenn man sich in New York gut auskennt, da sehr genau auf die örtlichen Gegebenheiten eingegangen wird, aber eben nicht auf die altbekannten Touristen-Hot-Spots in Manhattan, sondern auf die diversen Örtlichkeiten der fünf Stadtbezirke.

 

Dieses Buch ist der Auftakt einer neuen Trilogie, was der deutsche Verlag in keiner Weise erwähnt. Es ist gut geschrieben und kann mit vielschichtigen, frischen und interessanten Charakteren punkten. Das macht Lust auf mehr.

 

N. K. Jemisin hat sich innerhalb gerade mal einer Dekade, die seit der Veröffentlichung ihres Romandebüts Die Erbin der Welt (deutsch bei Blanvalet) vergangen ist, in die internationale Top-Riege der SF-Fantasy-Autorinnen geschrieben. Schön, dass ihre neuen Bücher weiterhin zeitnah auf Deutsch veröffentlicht werden.

Nach oben

Platzhalter

Buch:

Die Wächterinnen von New York

Reihe: Great Cities Band 1

Original: The City We Became, 2020

Autorin: N. K. Jemisin

Gebundene Ausgabe, 544 Seiten

Klett-Cotta Tropen, 19. März 2022

Übersetzung: Benjamin Mildner

Titelillustration: David Paire / Arcangel

 

ISBN-10: 3608500189

ISBN-13: 978-3608500189

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B09MJGKX9K

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


Platzhalter
Platzhalter
Erstellt: 20.03.2022, zuletzt aktualisiert: 25.03.2024 16:30, 20685