Disturbania (Herausgeber: David Grashoff)
 
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Disturbania von David Grashoff (Herausgeber)

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Disturbania ist eine von David Grashoff herausgegebene Kurzgeschichtensammlung, die sich mit düsteren Begebenheiten in Städten befassen. Es sind siebzehn Erstveröffentlichungen von deutschen Autoren.

 

Zu den einzelnen Geschichten:

Markus K. Korb, Das neugierige Herz (5 S.): Der Berliner Frank hört ein seltsames Klopfen. Ob dahinter wieder der Exstasi-Mensch steckt? Dem wird er es zeigen!

Diese Horrorgeschichte adaptiert den Kerngedanken aus E. A. Poes Das verräterische Herz für das moderne Berlin und führt ihn konsequent weiter.

Daniel Mayer, Samstag (9 S.): Jack hat seit Samstag einen Besucher, der ihn zum selbstzerstörerischen Rum-Saufen zwingt. Jack will den Besucher loswerden, doch der will noch feiern – schließlich ist Samstag. Jack und der Fremde, den kein anderer sehen kann, steuern die Voodoo-Lounge an, in der auch Jacks (ehemalige?) Freundin Beth ist.

Diese Horrorgeschichte spielt offenkundig auf den Baron Samedi des Voodoo-Kultes an. Spannungsquelle ist in erster Linie das Ekelgefühl, das bei den Schilderungen aufkommt. Nach meinem Dafürhalten wäre eine ambivalente Auseinandersetzung mit den Themen Kontrollverlust und Besessenheit durch Loa ergiebiger gewesen.

Torsten Sträter, Sportsfreund (26 S.): Der Sportsfreund hat ein Problem mit seinen Aggressionen. Seine Ex ist mit seinem Sohn zu einem Kioskheini gezogen und lässt ihn nicht zu seinem Sohn. Wohin mit der Wut? In den Fitness-Club. Dort trifft er am Abend einen merkwürdigen Muskelkoloss, der nicht nur bedrohlich wirkt, sondern auch Rabat-Marken anbietet. Doch wie soll das helfen seinen Sohn zu sehen?

Sträter liefert eine interessante Geschichte: Zwischen Horror und dunkler Phantastik balancierend fängt der Stil den Zorn des Protagonisten gut ein; das ambivalente Ende tut ein Übriges.

Fabian Mauruschat, Sendersuchlauf (8 S.): "So'ne miese Musik hören doch nur Verbrecher", denkt sich der Autofahrer noch, als ihm ein ebensolcher mit einer Schrotflinte ins Gesicht schießt. Der Täter hatte denselben Sender gehört, denn er weiß, dass Menschen (sind das überhaupt Menschen?), die solche Musik hören, die übelsten Verbrecher sind. So motiviert macht er Jagd auf Übeltäter – hören sie den Sender, dann sind sie reif für die Flinte.

Diese Horrorgeschichte greift mit bitter-sarkastischem Tonfall das Thema Intoleranz und Frustration auf. Die numinose Macht rückt die Geschichte ein wenig in Richtung todorovscher Phantastik; das Augenmerk liegt dennoch auf Splatter-Effekten. Der Plotfluss ist trotz der Kürze ein wenig zu langsam.

Christoph Marzi, Die träumende Stadt (3 S.): Hierbei handelt es sich um ein reimloses Gedicht über den mythisierten Tagesrhythmus einer Stadt. Da ich mich mit Lyrik nicht auskenne, will ich es dabei belassen.

Marcus Richter, Menschenmüll (16 S.): Aus dem Müll wird ein abstoßendes Wesen geboren. Um sich selbst ertragen zu können, schafft es schöne Dinge, an denen es andere Ausgestoßene teilhaben lässt, die es um sich scharrt. Als das Mädchen Evchen nach einem Streit mit dem gewalttätigen Vater verschwindet, macht sich ihr besorgter Freund Mattes auf die Suche.

Dieses anspielungsreiche Großstadtmärchen variiert gekonnt das Bonmot "Es ist nicht alles Gold, was glänzt."

André Wiesler, Hand drauf! (7 S.): Juraj scheint krank zu sein: Er hat nicht nur sich selbst die Hand abgehackt, sondern auch seinem kleinen Sohn entsprechend verstümmelt. Außerdem hat er den Griechen zunächst gefoltert und dann in die Luft gejagt. Jetzt ist er auf dem Weg zum Jachthafen – es ist ein Scheißjob, aber einer muss ihn ja machen!

Diese Horrorgeschichte stellt dem Leser die Frage: Was ist mit Juraj los? Wer Tanz der Teufel kennt, wird es bald erraten haben. Anschließend wechselt der Fokus vom Rätsel zum Splatter.

David Grashoff, Seelenlos (11 S.): Dem Kölner Kilian wird in den Hals geschossen – er ist beinahe sofort tot. Ephraim Rabe erklärt ihm ein bisschen ungeduldig, aber mit Humor die Lage: Kilian ist jetzt ein Seelenloser, ein Streiter Gottes gegen die höllischen Horden. Rabe gibt Kilians Dasein einen Sinn.

Einige der von dieser Horrorgeschichte verwendeten Elemente erinnern mich an das Rollenspiel d20 Modern – die überraschende Wendung am Schluss verweist auf die contes cruel.

Oliver Plaschka, Solets Stimme (11 S.): Frederic Solet hasst die Einsamkeit. Vor kurzem hatte sich Yanlin von ihm getrennt. Seither führt er viele Selbstgespräche und auf der Arbeit versucht er Kraft aus dem Nichts zu schöpfen. Und dann kam die Stimme. In seinem Kopf hört er eine Stimme, die mit ihm über Yanlin reden will. Solet geht zum Therapeuten – Freunde hat er keine – um über seine außerirdische Exfrau und die Stimme in seinem Kopf zu reden.

Diese SF-Geschichte legt viele falsche Fährten aus um den Leser humorvoll in die Irre zu führen; die Geschichte ist beim zweiten Lesen noch mal so gut.

Christian Endres, Feuerteufel (10 S.): George ist ein Feuerwehrmann. In mitten eines lebhaften Brandes stehend stellt er einmal mehr fest, dass er seinen Job liebt. Diese Zufriedenheit verblasst, als er Hilfeschreie aus den oberen Etagen hört. Soll er über die Treppe hoch und sein Leben riskieren? Irrt er sich bei den Schreien auch nicht?

Eine weitere Horrorgeschichte; der psychologiesierende Anfang baut viel Spannung auf, die Auflösung will mir nicht so recht gefallen.

Tobias Bachmann, Hybris (26 S.): Treefall ist einer der besten Auftragskiller. Er wird eingeschaltet, wenn die Dinge mächtig aus dem Ruder laufen. Caracas war so ein Fall. Hat sechs Topmanager aus nicht nachvollziehbaren Gründen liquidiert. Seinen Vorgänger aus nahe liegendem vermutlich auch. Jetzt ist er untergetaucht, aber Kontaktmann Bischof hat interessante Informationen parat – und erzählt die Legende von Sagunth: Die Stadt wurde aus dem Blut der Gründer geschaffen – oder vielmehr: Die Stadtgöttin Hybris. Eines Tages werde sie gezähmt und dann gehe die ganze Chose den Bach herunter. Bischof glaubt, dass Caracas der betreffende Mann sei.

Dieser Horror-Thriller verwendet ein 'proto-Shadowrun'-Setting und erzeugt eine ganz ähnliche Stimmung von humoriger Härte. Weiterhin gibt es einige Anspielungen: Des Rätsels Lösung findet sich in Hausnummer 23.

Nina Horvath, Zukunftsauge (10 S.): Rika findet einen Schlafenden in den Trümmern. Er liegt ganz friedlich da, sie kann nicht einmal die Atembewegungen seines Brustkorbs sehen. Sie geht zu ihm und drischt mit einem Stein auf seinen Kopf – Mitleid können sich nur die Starken erlauben – und beginnt ihr Opfer zu filzen. Aber die Dinge sind nicht immer, was sie zu sein scheinen.

Diese Postapokalypse-Geschichte schildert eine zynische Queste. Sie thematisiert die Interpretierbarkeit von Bildern – wozu überraschende Wendungen genutzt werden.

Christoph Hardebusch, Zeitenwechsel (5 S.): Ein armenischer Christ flüchtet vor einem Neonazi-Mob durch die nächtliche Stadt. Bald kann er nicht mehr. Dann werden sie – Er nimmt Feuer wahr, doch da ist keines! Die Straßen sind glitschig, Männer massakrieren ihre Opfer mit Schwertern – werden die Skins gleich einen Wahnsinnigen lynchen?

Eine Horrorgeschichte über den Kreislauf der Gewalt, Schuld und Vergebung und die Macht des Glaubens – nach meinem Dafürhalten werden auf den fünf Seiten zu viele Themen angeschnitten.

Torsten Scheib, Gute Ansätze (9 S.): Gemeinsam überlegt man, wie gegen die Tierquäler vorgegangen werden soll. Tobias macht Sonja, Leo und Sebastian einen seltsamen Vorschlag: Mit Hilfe des magischen Buchs eines Voodoopriesters die Tiere wieder beleben! Tobias führt den Zauber an einer toten Kröte vor – sie wird quicklebendig und sehr aggressiv. Das Verhalten verstört die vier ein wenig, aber man hält am Plan fest.

Dieser Öko-Horror greift das Kernthema von Goethes Zauberlehrling auf: Die Geister, die ich rief…

Aino Laos, Tranquil Gardens (15 S.): Die Archers wollen sich ein Haus in Tranquil Gardens kaufen. Während es den beiden Alten gefällt, stößt Schwiegertochter Rachel die totale Künstlichkeit des Ortes ab. Aber bald kann man ja zurück in die Stadt. Am Abend sieht man sich eine hoffnungslos veraltete Unterhaltungsshow an. Rachel fällt auf, dass dem Androiden Darius ein Fehler unterläuft. Später hört sie zufällig mit an, dass Darius deswegen log und verurteilt wird – auf Lügen steht für Androiden seit dem Krieg von 2086 die Auslöschung. Ist das gerechtfertigt?

Diese gemäßigte SF-Dystopie greift ein Motiv aus Philip K. Dicks Träumen Androiden von elektrischen Schafen? auf und variiert es gekonnt. Vor allem die vielen zurückhaltenden Vorausdeutungen sind eine Stärke der Geschichte.

Andreas Melhorn, Ansichtssache (13 S.): Martin hält sich in einer geschlossenen Anstalt für kriminelle Geistesgestörte auf – er hat seine Mutter und ihren Ehemann ermordet. Martin führt eine Art Tagebuch: Er glaubt die Gedanken anderer Menschen lesen zu können. Nimmt seine Schizophrenie zu? Wenn nicht: Was soll er mit diesem Talent anfangen?

Vielleicht wäre mehr stilistischer Wagemut eine Bereicherung für diese nicht uninteressante Horrorgeschichte.

Michael Schmidt, Silbermond-Oststadt (14 S.): Vor drei Jahren hatte Schwarzer Luchs den Moloch Silbermond verlassen müssen. Er, ein einfacher Revolvermann, hatte mit Marlene, der Tochter des großen Rosenberg, herumgemacht. Sein Kumpel Phönix hatte es das Leben gekostet und Luchs selbst war nur mit dem nackten Leben davon gekommen. Jetzt ist er wieder da und erlebt gleich eine doppelte Überraschung: Phönix lebt und erzählt Lügen über den Vorfall. Dabei soll es nicht bleiben.

Ein SF-Thriller mit vielen überraschenden Wendungen – meines Erachtens einer zuviel.

 

Fazit:

Siebzehn Kurzgeschichten mit urbanem Schauplatz – klar, dass nicht alle gleich gut gefallen. Positiv fällt das Handwerkliche auf: Keine der Geschichten hat schwerwiegende Schwächen, alle sind solide, die meisten sind gut, ja tatsächlich sind Sportsfreund und Tranquil Gardens in dieser Hinsicht besonders gut gelungen. Auch inhaltlich sind keine Ausfälle zu verzeichnen; es gibt zwar nichts wirklich Originelles, aber es werden auch keine Klischees präsentiert. Das meiste Potential in dieser Hinsicht hat Sendersuchlauf, aber Menschenmüll und Solets Stimme stehen dem kaum nach. Ein wenig überrascht war ich vom Mangel an modernen Signaturthemen: Nichts über das Fernsehen, das Handy, das Internet oder die negativen Auswirkungen der Globalisierung, wie sie in Ciudad Juárez, der Stadt der toten Frauen, zu sehen sind. (Dieser Artikel ist veraltet – seit die staatliche Zentralgewalt zusammenbricht, ist es nicht wirklich besser geworden.) Übrigens geht auch keine der Horrorgeschichten so sehr an die Substanz, wie diese Reportage – wie auch immer man das werten mag. Unterm Strich bleibt eine Sammlung, die gut unterhält, aber nichts Revolutionäres enthält.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240329041953ef4345a5
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Titel: Disturbania. Phantastische Kurzgeschichten aus der Großstadt

Reihe: -

Original: -

Herausgeber: David Grashoff

Übersetzer: -

Verlag: Atlantis (Mai 2008)

Seiten: 218-Broschiert

Titelbild: Manfred Fischer

ISBN-13: 978-3-936742-46-6

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 13.06.2008, zuletzt aktualisiert: 17.04.2023 20:56, 6693