Dr. Siri sieht Gespenster (Autor: Colin Cotterill; Dr. Siri Paiboun Bd. 2)
 
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Dr. Siri sieht Gespenster von Colin Cotterill

Reihe: Dr. Siri Paiboun Bd. 2

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Dr. Siri ist der Leichenbeschauer von Laos – mehr Genossen mit medizinischem Hintergrund stehen der Partei nicht zur Verfügung. In dieser Eigenschaft werden ihm zwei Leichen ins Kühlfach gelegt – sein mongoloider Gehilfe Herr Geung, eine Koryphäe an der Knochensäge, musste ein Regal aus Bambus bauen, da es nur ein Kühlfach gibt; andernfalls hätte man die beiden nicht hineinbekommen. Auch die Umstände des Todes sind bizarr: Zwei tote Männer auf einem Fahrrad, mitten auf der Straße nahe des Nam-Phou-Brunnens – da wird normalerweise um zwei Uhr morgens niemand überfahren. Kein Soziussitz, kein Gepäckträger, kein Blut. Der eine starb an inneren Blutungen, der andere an einem Genickbruch. Siris Assistentin Dtui, eine Krankenschwester, glaubt, dass es ein Fall für – ta-ta-ta-tah! – Supergeisterdoc sei, denn der Pathologe kann seit Kurzem mit der Geisterwelt kommunizieren. Und Dtui soll recht behalten. Zu den zwei toten Fahrradfahrern kommen aber bald noch grausig verstümmelte Frauenleichen hinzu. Es sieht so aus, als sei es ein großes Raubtier, doch auch hier regen sich Zweifel.

 

Der Leichenbeschauer von Laos sitzt selbstverständlich in der Hauptstadt Vientiane. Die Zustände sind reichlich chaotisch: Es ist März 1977, die Kommunisten haben erst vor etwa anderthalb Jahren die Macht übernommen und aus dem Königreich eine Demokratische Volksrepublik gemacht. Nach zwanzig Jahren Guerilla-Dasein im Dschungel waren die Genossen darauf nicht vorbereitet. Die Bevölkerung leidet seither doppelt – einerseits war die wirtschaftliche Grundlage schon vor der Machtübernahme nicht gut und die verwaltungstechnisch unerfahrenen Revolutionäre haben die Sache nicht besser gemacht, andererseits versuchen sie das Land lehrbuchmäßig umzukrempeln und alle an den Feudalismus erinnernden reaktionären Traditionen abzuschaffen – was beinahe alle Traditionen sind. Viele Laoten entziehen sich dem, indem sie über den Fluss Mekong ins kapitalistische Thailand rübermachen. Nun muss der Leser aber kein tragisches Sittengemälde befürchten. Die Situation wird mit viel (Galgen-)Humor genommen: Ist kein Gips da, um Zahnabdrücke von den verstümmelten Leichen zu nehmen, dann werden die Wunden mit Agar-Agar (eine Art Wackelpudding) ausgefüllt. Wer etwas zu erledigen hat, wird schon einen Weg finden, auch wenn es einige Zeit brauchen mag, bis man den Archivleiter gefunden hat, der auf dem Markt Fische verkauft um sein mageres Gehalt aufzubessern. Das Setting ist exotisch und farbenfroh, aber nur gemäßigt detailliert entwickelt; es schwankt zwischen Ambiente und Milieu.

Streng genommen gibt es nur ein phantastisches Element, dieses aber in allerlei Variationen: Die Welt ist beseelt von Geistern. Alles Lebende kann von Geistern in Besitz genommen werden, das reicht vom Menschen hinzu hölzernen Artefakten. Die Geister sind nicht ausschließlich die Seelen verstorbener Menschen, es können auch Tiergeister, Elementargeister oder Ähnliches sein. Aber nur wenige Menschen können mit ihnen in Kontakt treten wie etwa die vermittelnden Schamanen. Dr. Siri, obschon er seine Kräfte kaum kontrollieren kann, gehört seit Neuestem zu ihnen. Geister und Schamanen entstammen selbstverständlich der laotischen Folklore.

 

Die Anzahl der auftretenden Figuren ist unauffällig. In der Ausprägung sind sie allesamt exzentrisch; sie sind recht einfach gestrickt, zumeist stehen sie in einem einfachen Spannungsfeld – soll Siri seiner Furcht und Vernunft nachgeben oder loyal bleiben und etwas Törichtes tun? Dennoch gelingt es dem Autor mit so viel Elan zu erzählen, dass diese Schlichtheit kaum auffällt – die Figuren wirken durchaus rund.

Die wichtigsten Figuren sind Dr. Siri und Dtui. Siri heißt mit vollem Namen Siri Paiboun. Er ist ein eher passiver Typ: Als junger Mann zog er nach Frankreich, um Medizin zu studieren. Dort lernte er seine mittlerweile verstorbene Frau kennen, eine glühende Kommunistin, die ihn in entsprechende Kreise einführte. Die beiden kehrten zurück nach Laos und kämpften lange Jahre gegen das königliche Regime. Jetzt ist Siri über siebzig und einigermaßen enttäuscht – seine Seite hat kaum gewonnen, da beginnen seine Parteigenossen rapide zu korrumpieren. Es sind wohl vor allem seine Passivität und die Loyalität zu den alten und neuen Freunden, die ihn weitermachen lassen. Dtui ist seine Assistentin in der Pathologie. Eigentlich heißt sie Chundee Chantavongheuan, doch um die bösen Geister zu verscheuchen, erhalten Kinder einen Spitznamen, der Schlechtes verheißt. "Dtui" bedeutet "Dickerchen". Anders als die vielen anderen Dtuis ist Siris junge Assistentin tatsächlich reichlich übergewichtig. Dafür ist sie ausgesprochen clever – Siri sagt, sie habe dreimal soviel Grips wie er und er könnte damit recht haben. Hinzu kommt, dass sie stets hilfsbereit, wenn auch ein wenig sarkastisch, neugierig und ehrgeizig ist.

 

Der Plot vereint Krimi bzw. Rätselgeschichte und Entwicklungsgeschichte. Im Vordergrund stehen natürlich die Todesfälle – die zwei Radfahrer, die zerfleischte Frau und bei den Dreien wird es nicht bleiben. Für die Pathologen – und den Leser – stellt sich die Frage, warum sie sterben mussten. Bei den Ermittlungen stellt sich bald heraus, dass die Gefahr nicht immer vom Mörder ausgeht (was an dieser Stelle kein Hinweis auf Geschlecht oder Anzahl sein soll), sondern oft genug von eitlen oder paranoiden Genossen, die vielleicht noch eine Rechnung offen haben oder fürchten, ein anderer könnte eine begleichen wollen. Spannungsquellen sind hier natürlich die Rätsel und direkten Bedrohungen, die auf sehr unterschiedliche Art gelöst werden. Hinzu kommt Siris Entwicklung, obwohl der Begriff nur bedingt zu treffend ist, da es eher um Siris Vergangenheit und besonders die Vergangenheit seiner Seele geht. Das mag bisweilen ein wenig digresshaft wirken, aber aufgrund der vielen Absonderlichkeiten, Wunder und Gags nimmt der Leser dieses nicht übel. Daraus resultiert allerdings auch ein relativ langsamer Plotfluss.

Als Roman des 21. Jh. kann Dr. Siri sieht Gespenster schwerlich der Intertextualität entgehen und so findet sie sich auch hier. Es gibt ein paar eindeutige Bezüge, etwa auf George Orwells Farm der Tiere, und weniger eindeutige, etwa auf Robert van Guliks Richter Di-Geschichten. Ein Bezug will mir aber nicht gefallen: In einem Schlüsselmoment erinnert mich der Roman an ein wichtiges Element aus Fred Vargas Bei Einbruch der Nacht – hier verliert die Szene aufgrund des Mangels an Originalität.

Die Geschichte ist der zweite Teil der Dr. Siri Paiboun-Reihe. Zwar sind die Geschichten im Wesentlichen in sich geschlossen, doch die Charakterisierung der Figuren wird von Geschichte zu Geschichte vorangetrieben, d. h., der zweite Band ist ohne Weiteres verständlich, gewinnt aber deutlich, wenn man zuvor den ersten gelesen hat.

 

Erzähltechnisch ist der Roman recht konservativ. Es gibt zwei Erzählstränge – Siris und Dtuis – die für einige Zeit nicht zusammenlaufen. Sie werden aus einer Mischung aus auktorialer und personaler Perspektive (natürlich der Sicht der beiden Hauptakteure) erzählt, wobei es einige Einsprengsel rein auktorialer Perspektive gibt, wenn keine der Hauptfiguren anwesend ist. Üblich für Kriminal- bzw. Rätselgeschichten, aber unüblich für Entwicklungsgeschichten ist der stark zum Regressiven neigende Handlungsaufbau.

Der Stil ist sehr locker und flüssig, er ist recht leicht zugänglich, sieht man von einigen exzentrischen Wörtern ab, die sich allerdings nahtlos ins insgesamt salopp klingende Wortgeflecht einfügen. Der Satzbau ist recht variantenreich, da wechseln sich atomare Sätze, zweigliedrige 'Kettensätze' und Schachtelsätze ab, doch da sie zumeist nur mittellang sind, werden sie nie übermäßig kompliziert.

 

Fazit:

Dr. Siri und Assistentin Dtui müssen sich mit seltsamen Leichen befassen – zwei tote Radfahrer und eine zerfleischte Obsthändlerin – wobei sie feststellen, dass Gefahren auch von scheinbar Verbündeten ausgehen können. Colin Cotterill hat einen eigenwilligen Krimi verfasst: Ob der phantastischen Elemente gehört er eigentlich zum Magischen Realismus, doch dank des flotten Stils und exotischen Settings liest er sich wie eine ungewöhnliche Urban Fantasy. Gleichwie, Dr. Siri sieht Gespenster ist humorvoll und spannend – ein schöner Unterhaltungsroman.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024032908055474166bdc
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Roman:

Titel: Dr. Siri sieht Gespenster

Reihe: Dr. Siri Paiboun Bd. 2

Original: Thirty Three Teeth (2005)

Autor: Colin Cotterill

Übersetzer: Thomas Mohr

Verlag: Manhattan Bücher/ Goldmann (Mai 2009)

Seiten: 319 - Gebunden

Titelbild: Lucy Davey

ISBN-13: 978-3-442-54644-2

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 01.10.2009, zuletzt aktualisiert: 17.04.2023 20:56, 9281