Ein Handbuch amerikanischer Gebete (Autor: Lucius Shepard)
 
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Ein Handbuch amerikanischer Gebete von Lucius Shepard

Rezension von Christian Endres

 

 

Der Name Lucius Shepard hat in der zeitgenössischen Literatur mittlerweile einiges an Gewicht – und das nicht nur in den Gefilden von Horror oder Science Fiction, wohlgemerkt. In Sachen Novelle oder Kurzgeschichte hat Shepard sich längst als großer Erzähler etabliert und begeistert mit seinen stets anspruchsvollen und wohlfein formulierten, hintergründigen Stories regelmäßig Leser wie Kritiker. Nun liegt mit »Ein Handbuch amerikanischer Gebete« (orig. »A Handbook of American Prayer«) nach langer Zeit wieder einmal ein ganzer Roman von ihm auf Deutsch vor, in dem Shepard zumindest für mich jedoch erst noch bzw. erst wieder beweisen musste, dass er seine phantastische Schreibe auch auf knapp über 300 Seiten gekonnt und sinnig einzusetzen versteht ...

 

Wardlin Stuart ist ein Mörder, eingesperrt hinter Gittern, gehalten von den Fesseln der Justiz und den Gesetzen unserer Zeit. Doch anscheinend braucht es genau eines solchen Menschen und seines eingesperrten Geistes, um zu erkennen, was den Menschen des 21. Jahrhunderts den Zugang zu Gebeten und dem Glauben manchmal so schwierig macht: Angestaubte Formulierungen, die nicht mehr ganz zeitgemäß sind und es ab und an erschweren, den rechten Draht zum Geschriebenen Wort Gottes zu finden. Also schreibt Wardlin irgendwann seine eigenen, modernern Verse auf, die an keinen bestimmten Gott gerichtet sind, und verinnerlicht, intensiviert die Worte wie Mantras – und tatsächlich, viele seiner kleinen, alltäglichen Wünsche gehen durch seine Gebete in Erfüllung! So etwas spricht sich in einem Gefängnis natürlich schnell herum, und so wird Wardlin immer häufiger von Mithäftlingen gebeten, ihnen ein paar Zeilen niederzuschreiben, damit auch sie durch die »neuen Gebete« einen Weg finden, ihre kleinen, persönlichen und durch und durch egoistischen Wünsche oder Hoffnungen wahr werden zu lassen. Doch auch der gute Wardlin denkt egoistisch – schließlich tun sich all seine Gebete durch einen gewissen pragmatischen Egoismus des Alltags hervor – und verbindet seine neue Fähigkeit mit einer Kontaktanzeige.

 

So findet er die Frau für’s Leben – und durch eine Hochzeit ein Jahr später auch einen Weg in die Freiheit. Und dort wiederum wartet nach Veröffentlichung des Handbuchs bei einem Verlag in New York ein Leben, von dem Wardlin während seiner zehn Jahre hinter Gittern nie und nimmer auch nur zu träumen gewagt hätte – und von dem er auch jetzt noch nicht ganz weiß, ob es wirklich ein waschechter, ein durch und durch guter und schöner Traum ist. Denn mit all dem Ruhm, all dem Prestige und vor allem all der medialen Aufmerksamkeit entwickelt sich der vermeintliche Traum schnell zu einem Albtraum voller Sorgen, Gefahren und Nöte ...

 

Geschichte ist Konfrontation – Religion (seit jeher ein bedeutungsvoller Teil der Geschichte) nicht weniger. So wundert es eigentlich auch niemanden, als mit Wardlin Stuarts Erfolg und dem Erfolg seines Handbuchs neben den vielen Anhängern und wohlwollenden Kritikern auch unzählige Neider und Opportunisten auf der Bildfläche erscheinen. Der schlimmste von ihnen ist Monroe Treat, der Führer einer sehr radikalen christlichen Vereinigung. Seit einem gemeinsamen Auftritt in einer Late Night Show steht er mit Wardlin auf Kriegsfuß – und das in einem Krieg zwischen Gut und Böse, der so alt ist wie die Menschheit. Schließlich glaubt Wardlin zu erkennen, dass sie alle nur Spielfiguren in einem kosmischen Spiel sind – und drängt ebenso wie Treat auf das Ende dieser Runde. Irgendwann muss Wardlin aber begreifen, dass er nicht der einzige Spieler in diesem Spiel ist – und er nicht weiß, welchem anderen Spieler er trauen soll, geschweige denn kann ...

 

Das Ende des Romans, das wieder einmal an die Grenzen des Bewusstseins stößt und sie selbstverständlich auch hie und da bereitwillig überschreitet, mag nicht jedem gefallen, fügt sich aber nahtlos an den Rest der Geschichte an und wirkt lediglich wie die schlüssige, unvermeidliche Konsequenz des ganzen bisher abgehandelten. Zwar gibt es – wie so oft bei Shepard – keine eindeutige, leichte und gut verdauliche Auflösung, sondern Raum, sein persönliches Fazit zu ziehen, doch muss das ja bei Weitem nichts schlechtes sein, im Gegenteil. Ganz am Ende ist es sogar nur ein allerletzter Abgesang auf die menschliche Phantasie und die dem Menschen eigene Gabe, zu verdrängen und zu verleugnen. Man könnte also von einem durch und durch, ja einem buchstäblichen humanen Ende sprechen.

 

Lucius Shepard ist nicht nur ein Stilist, wie er im Buche steht, sondern auch ein enorm aufmerksamer Beobachter und Kritiker, der unserer Kultur, aber auch unserer Gesellschaft und den Rädchen, die diese am Laufen halten, ungeniert einen Spiegel vor Augen hält. Dabei kommt ihm und seiner Geschichte vor allem zu Gute, dass er seinem nachdenklichen, im rechten Moment aber auch ziemlich impulsiven Protagonisten Wardlin Stuart eine gehörige Portion Zynismus mit auf den Weg gegeben hat, was in der Ich-Perspektive der Erzählung natürlich doppelt so deutlich – und doppelt so gut – zum Tragen kommt und Shepards Absichten vorzüglich zu Gesicht steht. Dabei kommt es ebenfalls nicht ganz ungelegen, dass unser lieber Herr Stuart – immerhin Autor des Megabestsellers Ein Handbuch amerikanischer Gebete – gut mit Worten umgehen kann – und es so keinesfalls künstlich oder verklärt wirkt, wenn Shepard mit Schachtelsätzen aufwartet, die fast über eine halbe Seite gehen. So etwas traut man Wardlin Stuart, dem Erfinder der neuen, beliebtesten Gebetskultur der Welt, durchaus zu und stört sich in keinster Weise daran.

 

Gewohnt stilsicher, manchmal fast ein klein wenig verspielt, steuert Shepard seinen Protagonisten durch die Anfangsphase seines Ruhms, die daraus resultierenden Schwierigkeiten und schließlich skrupellos in den Glaubenskrieg – zwischen Stuart und Treat, aber auch Stuart und seinen eigenen Ängsten und Zweifeln bezüglich seiner fragwürdigen Macht, Dinge geschehen, Dinge passieren oder gar entstehen zu lassen – hinein. Auf dem Weg zum großen Finale schafft Shepard dabei unzählige Verknüpfungen und Anspielungen auf unsere Gesellschaft oder den Umgang mit dem Glauben [an Gott] oder den Medien. Diese Vergleiche und Anspielungen sind dann auch nicht immer sonderlich zimperlich, gehen alles andere als zaghaft mit dem Zeitgeist und dessen ach so (schein-)heiligen Auswüchsen um und treffen oftmals dennoch genau ins Schwarze. Diese Nähe zur und dieser teilweise schonungslose Umgang mit der Realität machen aber mitunter den Reiz von Shepards Geschichte aus, die übrigens auch diesmal wieder kleine Ausflüge in Richtung bewusstseinserweiternder Drogen oder Südamerika bzw. der Wüste unternimmt und Shepards Affinität zu diesen Elementen einmal mehr Tribut zollt.

 

Bücher, die sich mit Religion befassen, müssen natürlich auch einer gewissen moralischen und ethischen Prüfung standhalten. Shepards Geschichte meistert diese Prüfung ohne nennenswerte Schwierigkeiten – das liegt zum einem an aktuellen Kontext (das Buch ist im Original 2004 erschienen und geizt nicht mit Namen und Anspielungen, die es stets direkt in unseren/den Alltag setzen), zum anderen aber auch einfach an seiner Sichtweise. Eine Religion ohne Jesus oder einen direkten Gott, die sich durch Gebete und den Glauben an die Worte definiert? Natürlich! Aber nur, wenn man sie eben ausschließlich als Religion der Worte betrachtet, nicht als Konkurrenz oder Alternative – eher als Zugang und Portal, vielleicht noch als Indikator. Die Gebete aus Stuarts Handbuch sollen im Alltag, bei den kleinen, aber gemeinen oder schwierigen Dingen helfen – und nebenbei die Kommunikation mit den himmlischen Mächten oder der himmlischen Macht erleichtern, an die man glaubt.

 

Kritik, Anleitung, Persiflage, Information – Shepard liefert von allem ein bisschen, ohne sich oder sein Modell aufzudrängen. Ein äußerst subtiles, hintergründiges Gedankenspielchen also, das auf mehreren Ebenen funktioniert, aber auch aus theologischer Sicht einiges an Gesprächsstoff oder Potential zum Nachdenken bieten dürfte. Nebenbei trägt es sein Science Fiction Etikett, ohne auch nur eine Stereotype dieses Genres aufzugreifen – den einen wird es, so wie mich, freuen, den anderen vielleicht enttäuschen. Doch Shepard ist eben auch in dieser Hinsicht alles andere als typisch ...

 

Die Aufmachung des Paperbacks mit der obligatorischen Klappenbroschur lässt wieder keine Wünsche offen. Sehr schön auch das Cover, eine Collage aus Dürers Händen des Apostels und der Fotoaufnahme einer Gefängniszelle. Bis auf ein paar ungewohnte Flüchtigkeitsfehler im Satz (nicht mehr als eine Hand voll im gesamten Buch) einmal mehr eine tolle Erweiterung der Paperback-Sammlung der Edition Phantasia und ihrer blaugewandeten Science-Fiction-Reihe, wo die Stunden der Lektüre sich nicht nur dank des Inhalts, sondern auch dank der Aufmachung als besonderes Erlebnis in den (Lese-)Alltag eingliedert.

 

Fazit: Superlative jedweder Art werden Shepards Geschichten meistens nicht gerecht. Dennoch liegt es nahe, im Falle von »Ein Handbuch amerikanischer Gebete« nach ihnen zu greifen, so wie Wardlins Anhänger nach dessen Gebeten oder seinem Verständnis von und für Religion und dem Beten an sich greifen: Bombastisch, sensationell, großartig, herausragend, innovativ, berauschend, sprachlich opulent – wenn wir nun noch shepardnesque in die nächste Auflage des Dudens reinbekommen, ist unsere ganz persönliche »Glaubens-Mission« erfüllt.

 

Edelstilist Shepard legt hier ein Buch vor, das nicht nur beweist, dass er auch in der längeren Erzählform des Romans zu begeistern und mitzureißen versteht – hier geben sich obendrein auch noch Anspruch, Ideenreichtum und eine subtile, aber ungemein scharfe Gesellschaftskritik die Klinke in die Hand. Unsere Gebete wurden scheinbar erhört. Zugreifen!

 

Amen.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404251115126ea34707
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Ein Handbuch amerikanischer Gebete

Autor: Lucius Shepard

Reihe: Phantasia Science Fiction 1006

Klappenbroschur, 304 Seiten

Heyne, Oktober 2006

ISBN: 3937897194

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 09.11.2006, zuletzt aktualisiert: 17.08.2023 13:46, 3035