Druckversion: Evil (Autor: Jack Ketchum)

Evil von Jack Ketchum

Rezension von Christian Endres

 

Die Handlung von Evil lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Zwei Schwestern verlieren bei einem Autounfall ihre Eltern und kommen zu ihrer Tante in eine idyllisch-ruhige Kleinstadt des Amerikas der 50er Jahre und leben fortan mit der alleinerziehenden Frau und deren Söhnen in einem Haus zusammen. Und damit, so meint man, haben die beiden im Grunde dann ja doch noch einmal halbwegs Glück gehabt – aber auch nur, bis man von Ketchum, einem Sadisten wie er im Buche steht, Seite um Seite dazu gezwungen wird, immer weiter in die Welt jenseits der sommerlichen Kleinstadt-Fassade zu blicken und in einen Keller, ja einen wahren Abgrund des menschlichen Seins zu blicken, wo Schrecken lauern, die weitaus weltlicher und bedrohlicher sind, als alle Schöpfungen Stokers, Poes und Lovecraft es zusammen jemals sein könnten. Denn viele dieser Schrecken gehen von Kindern aus, denen niemand Einhalt gebietet ...

 

Jack Ketchum braucht keine überirdischen Monster, keine schleimigen Ungeheuer und auch keine kreischenden Dämonen, um seinen Lesern das Grauen zu lehren. Er spielt mit Ekel, aber auch mit einer stets vorhandenen und mit jeder Seite weiter voran getriebenen Hoffnung – und mit allen anderen Gefühlen, derer man beim Lesen eines Horrorthrillers fähig sein kann. Selbst sein fadenscheiniges Happy End hat eine Qualität, die ihres gleichen sucht, eine bittere Note, die lediglich den Kreis von Rache und Gewalt schließt und das beendet, was Ketchum die letzten 300 Seiten aufgebaut hat, als er seine Geschichte vom ruhigen Nachmittag im Sommer an einem leise dahin plätschernden Flüsschen Stück für Stück in einen Albtraum verwandelt hat – wie eine getönte Glasscheibe, durch die man auf das labile Idyll geblickt hatte, und die erst ein paar Risse bekommen hat, ehe Ketchum sie mit einem Baseballschläger plötzlich einfach geradeheraus eingeschlagen hat und auf den Scherben herumgetrampelt ist. Nein, das Ende von Evil ist kein Happy End. Es ist einfach nur ein Ende: Beklemmend düster, ein bisschen zynisch und mit Sicherheit ohne jeden Hauch von Siegesstimmung, dadurch aber in gewisser Weise auch wieder mehr als nur bezeichnend für diesen Roman, der zu keinem Zeitpunkt die Aussicht auf Besserung oder einen strahlenden Helden bereit hält; es ist ein mit der Axt und roher Gewalt aus dem Stein gehauenes Ende, um wenigstens einen letzten Rest von Anstand und Würde zu zeigen und die Sache einfach sauber zu beenden. Ein Hieb. Ein Schnitt. Ein Gnadenschuss.

 

Und Ketchums Leser bleibt in dem Trümmerhaufen mit scharfen Splittern und Scherben zurück und stellt sich einige Fragen über das Buch, aber auch sich selbst und seine Funktion als Leser eben jenes Buches. Wieso habe ich die dreihundert Seiten am Stück gelesen? Wo war die Faszination? War es die plastisch dargestellte Gewalt? Die Faszination des Bösen, des Sündhaften? Oder war es das unterschwellige Winseln um Gnade? Das vehemente Pochen darauf, dass irgendwann die allgegenwärtige Hoffnungen auf den Sieg des Guten erfüllt und der Gerechtigkeit irgendwie auf den letzten einhundert Seiten dieses verdammten Buches doch verdammt noch mal Genüge getan werden muss? Nein. Die Faszination, der Motor hinter der Bewegung des ständigen Blätterns, sozusagen der Indikator des Pageturner-Faktors von Evil, das ist Ketchums Schonungslosigkeit und sein boshaftes Locken des Lesers, das aber lediglich in einer dunklen, amoralischen und manchmal regelrecht vulgären Sackgasse endet ...

 

Optisch und technisch erscheint das Buch in gewohnter Heyne-Qualität. Das Vorwort von Horror-Altmeister Stephen King verspricht nicht zuviel und weiß auch inhaltlich zu gefallen, und die Klassifizierung des Buches als Hardcore gilt nach Beenden der Lektüre fast schon als Pflicht – fast so wie der Hinweis, dass der Film erst ab Achtzehn, aber auch nichts für Menschen mit schwachen Nerven oder einer niedrigen Ekel- oder Hemmschwelle ist.

 

Dennoch gilt auch im Fall von Evil: Nicht alles, was in Verlagsgebäuden hinter verschlossenen Türen von Statten geht und beschlossen wird, will, soll oder kann verstanden werden. Wieso man also einem englischsprachigen Buch mit einem entsprechenden Originaltitel (»The Girl Next Door«) für den deutschen Markt einen ebenfalls englischsprachigen, aber anderen Titel (»Evil«, sollte das jemandem entgangen sein) verpasst, wird mir daher immer ein Rätsel bleiben. Ich meine: Das Buch hat ein Vorwort von Stephen King sowie das mitunter verkaufsfördernde Hardcore-Signet und das reißerische Pseudonym des Autors, Jack Ketchum – braucht es da wirklich noch den im Titel gegebenen Beweis, dass es böse ist? Meines Erachtens hätte es hier auch ein schlichtes, aber schickes »Nebenan« als deutscher Titel getan, auch wenn das nun sicherlich Geschmackssache sein mag ...

 

Fazit: Böser Titel hin, böser Titel her – Ketchums etwas andere Geschichte vom Mädchen von nebenan, die sich auf fragwürdige Art und Weise sowohl psychischem, als auch physischen Schmerzes rühmt, weiß trotz ihrer Brutalität und ihrer Intensität zu gefallen, wenngleich sie wirklich nichts für schwache Nerven ist und auch noch einige Zeit lang nach klingt.

 

Stilistisch ohne Schnörkel legt Ketchum hier einen Horrorthriller mit einem sich in Etappen steigernden Grauen vor, der sich langsam zum Höhepunkt empor schraubt und ohne Zombies, ohne Vampire und ohne andere Schrecken jenseits dieser Welt eine beklemmende Atmosphäre schafft – vielleicht, aber womöglich auch gerade weil man nicht weiß, was die Nachbarn nebenan gerade im Keller treiben ...

 

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404190526332b9f68f3

Titel: Evil

Autor: Jack Ketchum

Broschiert - 335 Seiten - Heyne

Erscheinungsdatum: Januar 2006

ISBN: 3453675029

Erhältlich bei: Amazon

 

, zuletzt aktualisiert: 25.07.2022 18:56