Freier Fall von Hans Jürgen Kugler
Rezension von Ralf Steinberg
Rezension:
Die Idee, dass der Mensch sich zurück in den Uterus sehnt, geht auf den Psychologen Otto Rank zurück. Seiner These nach stellt die Geburt ein Trauma dar, weil das frisch geborene Kind in eine fremde Umwelt gestoßen wird und die Sicherheit der Gebärmutter des Mutterkörpers verlässt. Nach dieser Sicherheit sehnt sich der Mensch zurück, solange er sie nicht zurückerhält, fühlt er sich unvollständig und ein unbewusstes Treiben will ihn in diesen Zustand zurückführen.
Das bildet den Rahmen des Romans Freier Fall von Hans Jürgen Kugler. Wir starten im Weltall. Ein Mensch treibt in der Unendlichkeit des Weltalls und es erinnert an den Anfang, an seine Geburt, an das Treiben im Dunklen der Gebärmutter. Im Folgenden begleiten wir unseren Protagonisten in 6 Phasen durch sein Leben, geprägt von diesem Trauma. So lernen wir, dass er recht früh als Außenseiter von seinen Klassenkameraden verprügelt wird und die Menschen zu hassen beginnt, ohne sich ihnen gegenüber je aggressiv zu verhalten. Sein Elternhaus ist ein Hasshaus aus dem er in die Welt hinaustritt und empfindet ihre Weite als Freiheit.
Als ihn diese Freiheit zu eng wird, seht er sich weiter, will in den Himmel fliegen und wird letztlich Astronaut einer Mission, die nicht näher erläutert wird. Seine Gefährten sterben, nur er überlebt und begreift nach und nach was es bedeutet, im Nichts dahin zu treiben und sein Leben so zu beenden, wie es begann.
»Freier Fall« ist nicht dick, nur 156 Seiten, besonders wird es durch die verschiedene Farbgebung der Schrift, wie sie auch aus der Unendlichen Geschichte bekannt ist. Schwarz dient dem Erzähler, der auch die Gedanken des Protagonisten beleuchtet, darüber hinaus gibt es blau für die direkte Innensicht, für sich erinnern, fühlen – ganz konsequent aber scheint die Trennung hier nicht zu sein. Und wir haben in Rot Ameisengeschichten, die so erfahren wir am Ende, einer der toten Mitreisenden der Mission in die Bordbibliothek eingespeist hatte und die unser Astronaut zur Erbauung ließt. In ihnen geht es um eine etwas sonderliche Ameise die von ihrem Bau getrennt wird und zunächst als Lebewesen, das ohne andere Artgenossen gar nicht existieren sollte, je länger ihre Reise dauert erkennt, wie sich ihre Grenzen erweitern, dass sie Dinge kennenlernt die sie vorher nicht für denkbar hielt und dass es ihr irgendwann tatsächlich genügt, für sich selbst zu sein.
Diese Reise innerhalb der Lebensreise des Protagonisten unterstreicht die Verbindungen von Makro- und Mikroleben, stellt durch den Perspektivwechsel weitere Fragen, etwa, ob unser Leben nicht auf den Hinterlassenschaften von Aliens beruht, wie es schon die Strugatzkis in Picknick am Wegesrand überlegten. Das Buch ist eine große Reise ins Innere. Nicht wie in Der Marsianer von Andy Weir ein Überlebensepos, nein wir erleben eigentlich nur, wie unser Protagonist lebt, wie er die Katastrophe erlebt, wie sie überlebt und letztlich, wie er mit ihr endet. Im freien Fall des Nichts, eingerollt im Innern des Raumschiffs, im Uterus der Kapsel.
Eine weitere Besonderheit ist die Vorliebe Hans Jürgen Kuglers mit Sprache zu arbeiten, er nimmt Wörter und Begriffe immer wieder auf und erweitert ihre Bedeutung, verändert sie und lässt uns dadurch darüber nachdenken, was einzelne Worte bedeuten. Es finden sich immer wieder Stellen, die wie Merksätze klingen, nach Aphorismen nach Lebensweisheiten und die in dem Augenblick, in dem sie ausgesprochen oder gedacht werden, auch tatsächlich etwas bedeuten. Sie sind nicht daher gesagt, sondern geben uns Anlass, die Situationen, in denen sich der Protagonist gerade befindet, neu zu überdenken, zu verstehen, wie tief er seine Verinnerlichung betreibt.
»Das Leben spielt sich nicht, es läuft einfach ab, wie Wasser, das aus einem Hahn fließt, gurgelnd ins Nichts.«
(S. 133)
Fazit:
»Freier Fall« ist ein freier Fall in sich selbst. Weniger eine Science-Fiction-Geschichte, SF bildet hier nur das Setting. Hans Jürger Kugler erforscht vielmehr die Psyche eines Menschen, der das All, den Kosmos, das Nichts in sich selbst erforscht. Eine mit lyrischer Kraft erzählte Lebensgeschichte, die aus den Neuerscheinungen heraussticht.
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