Gogols Disco von Paavo Matsin
Rezension von Ralf Steinberg
Rezension:
Es ist vielleicht gar nicht so abwegig sich vorzustellen, dass ein neues russisches Zarenreich das Baltikum erobert, die EU und Nato dort besiegt, hinwegfegt und mit russischen Siedler·innen die baltischen Staaten assimiliert.
Paavo Matsin nimmt diese mögliche Entwicklung und lässt uns daran teilhaben, was aus dem estnischen Städtchen Viljandi, in dessen Nähe der Autor lebt, durch diese russische Annektion geworden wäre. Als stadtbekannter Künstler nutzt er dabei einen Blickwinkel, der uns in den kulturellen Bodensatz führt, der auf eine sehr spezielle Weise Verbindungen zur kriminellen Szene pflegt.
Das bunte Panoptikum an Figuren startet mit dem Taschendieb Konstantin Opiatowitsch, einem Veteran dieses Handwerks, der durch die harte Schule der Haftanstalten eine Reihe von Fertigkeiten und Weisheiten erlangte, die ihm nicht nur das Überleben ermöglichen, sondern auch den Ruf eines Mannes bescherten, dessen Wort Gewicht hat.
Auf seinem täglichen Raubzug durch die Straßenbahn trifft er auf eine hilflose Person. Natürlich bedient sich der Dieb und erfährt so, wen er da müffelnd und verlottert vor sich hat: Niemand Geringeres als den eigentlich lange schon verschiedenen russischen Dichter Gogol. Und der wirbelt bald das Leben einer ganzen Reihe skurriler Gestalten durcheinander. Darunter ein glückloser aber genialer Musiker, ein Rock-Fan mit Plänen für einen riesigen Beatles-Tempel, ein desillusionierter Inhaber eines Buchantiquariats, die alternde Leiterin des Stadtmuseums, die einsame Bedienstete der Stammkneipe unseres Ensembles.
Sie alle wurschteln sich durch in einer seltsamen und vor allem repressiven russischen Diktatur, die das estnische Wesen zerstören will. Estnische Bücher müssen auf der Toilette aufbewahrt werden, dürfen aber nicht gelesen werden – vielleicht auch deshalb sperrt die Gruppe den knurrigen Gogol in das Klo der Kneipe ein und ihre Mitglieder erleben während ihrer Wache reihum Visionen, die sie zu einem explosiven Finale führen …
Die Handlung wechselt zwischen absurden Szenen und Erinnerungsfragmenten der Figuren, in denen sich ihre Zerrissenheit, aber auch ihre Suche nach Liebe zeigt, denn im Grunde ist »Gogols Disco« ein Parabel über die Liebe. Paavo Matsin zelebriert sie in einem vor Fabulierlust sprühendem Stil, den der Übersetzer Maximilian Murmann für uns aus dem Estnischen übertrug. Dabei werden nicht nur Spitzen gegen Heimat und die Nachbarländer tief in den Boden der Geschichte gerammt, sie weisen dabei stets auch auf die Ecken und Kanten der realen Gegenwart, die sich in der zerbrechenden Zukunft trotz allem wieder finden lassen. Man bekommt direkt Lust, nach Estland zu reisen und sich dieses Viljandi einmal selbst anzusehen – wer weiß, ob es noch lange so vorzufinden ist.
Auch die Gestaltung und das anspringende Cover von Daniel Chernoguz belegen erneut das wunderbare Gespür des homunculus verlages für außergewöhnliche europäische Phantastik, nachdem man uns letztes Jahr bereits mit Flavius Ardeleans Der Heilige mit der roten Schnur überraschte.
Fazit:
»Gogols Disco« von Paavo Matsin entführt in ein russisch annektiertes estnisches Städtchen, dessen kulturelle Ruinenlandschaft durch einen wiederauferstandenen russischen Dichter endgültig ins Wanken gerät. Ein lebenslustiger und tieftrauriger Blick in die Zukunft, doch auch ein liebevolles Zwinkern zurück.
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