Es passiert nicht oft, dass die deutsche Übersetzung eines Genreromans fast zeitgleich mit dem Original erscheint. Insbesondere, wenn es sich um einen Debütroman handelt. Der Romanerstling der Britin Sarah Brooks landete mit sehr vielen Vorschusslorbeeren im deutschen Buchhandel und so konnte man gespannt sein, ob das Werk dem Hype wirklich gerecht wird.
Die Grundvoraussetzungen sind gut. Zum einen verspricht der Plot eine spannende, atmosphärische Geschichte, zum anderen ist die Aufmachung des Buch im schmucken Hardcoverformat mit Lesebändchen, Schutzumschlag und goldenem Spotlack ansprechend.
Brooks, die bereits 2012 am Clarion West Writers’ Workshop für Science Fiction und Fantasy teilgenommen und bis dato Kurzgeschichten in SF-Magazinen wie Interzone veröffentlichte, hat mit Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland einen interessante Genremischung vorgelegt, die sich anders als erwartet verhält.
Zunächst handelt es sich hierbei nicht um ein Handbuch im eigentlichen Sinne, sondern um den Roman einer Reise, die zunehmend ins Fantastische abdriftet, aber ein Reiseroman ist klassischen Sinne ist das Werk auch nicht. Aus dem (fiktiven) Handbuch von 1880, geschrieben von Valentin Rostow, erschienen im Mirski Verlag, Moskau, wird immer mal wieder zitiert. Ansonsten geht es über sechs Teile und in insgesamt 20 Tagen durch das sogenannte Ödland.
Wir befinden uns im Jahr 1899. In dieser Alternativwelt geht es von China nach Russland im einzigartigen Transsibirien-Express. Der Zug besteht neben der Dampflok aus zwei Tendern, einem für Kohle und einem für Wasser, sowie 20 Wagen. Sie werden in einer schönen Risszeichnung von Emily Faccini auf den Umschlaginnenseiten anschaulich dargestellt. Es gibt verschiedene Waggons für die erste und dritte Klasse, aber auch einen Gartenwagen, einen Bibliothekswagen, einen Aussichtswagen oder einen Wagen mit dem Labor des Kartografen.
Das zu durchquerende Ödland ist keine normale Landschaft, sondern oszilliert zwischen faszinierend, mysteriös und beängstigend. Eine Reise durch dieses Terrain bedeutet, dass man neben einer großen Portion Abenteuerlust auch jede Menge Mut mitbringen sollte. Der Zug muss da durch und die Eisenbahngesellschaft hat alle nötigen Vorkehrungen geschaffen, um eine möglichst reibungslose Fahrt von Peking nach Moskau zu gewährleisten, allerdings müssen alle Reisenden eine Verzichtserklärung unterzeichnen, die das Unternehmen im Falle einer Verletzung oder eines Todes entlasten. Was passieren könnte und wie man sich am besten verhält, kann man ins Rostows Ödland-Handbuch nachlesen. Der Autor selbst kann nicht mehr befragt werden, denn er ist nach Veröffentlichung des Buchs unter mysteriösen Umständen verschwunden.
Auf die Reise begibt sich ein illustres Figurenensemble: eine russische Gräfin, die mit ihrem Dienstmädchen nach Hause will, Maria Petrowna, eine trauernde Frau, die unter fremdem Namen reist, ein überheblicher Naturforscher, ein griesgrämiger Geistlicher und weitere. Und dann ist da noch das16-jährige Mädchen Weiwei, eine Waise, die im Zug geboren wurde, sich zwischen Waggons und Klassen bewegt und mit den Passagieren interagiert, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
Alle Passagiere sind sich bewusst, dass die letzte Passage in einer Katastrophe endete. Das mehrfach verstärkte Fensterglas soll auf ungeklärte Weise kaputt gegangen sein. Nach wenigen Tagen kommt es zu Problemen, als der Zug an Energie verliert auf der Suche nach Wasser auf eine stillgelegte Strecke umgeleitet wird. Der Naturforscher nutzt die Chance, um von Bord zu gehen und Proben zu sammeln. Für ihn nichts Besonderes, allerdings gefährden seine Eskapaden die gesamte Reise, denn dadurch gelangt ein schattenhafter blinder Passagier an Bord des Zuges und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Ich verrate nicht zu viel, wenn ich erwähne, dass der Plot nach und nach ins Fantastische abdriftet. Eine große Rolle spielt die Darstellung einer zunehmend phantasmagorischen Landschaft, die allmählich ein Eigenleben entwickelt. Schauen die Passagiere aus dem Fenster, wirkt es, als würden sie durch eine Laterna Magica schauen und sich Realität mit traumartigen Darstellungen verbinden. Die Reisenden fahren mit ihrem vermeintlich sicheren Gefährt, der Eisenbahn, direkt in eine Art Entropie, in der Sicherheit und Ordnung in Gefahr sind.
Der Roman von Sarah Brooks vereint eine Reihe von Eigenschaften von Subgenres wie dem viktorianisch angehauchten Steampunk oder dystopischen Klimafiktionen. In Teilen erinnert die Atmosphäre in der zweiten Hälfte des Buchs auch an Jeff VanderMeers Southern-Reach-Trilogie. Wenn man sich für nur ein einziges Label entscheiden müsste, wäre das für mich das Etikett »Weird«.
»Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland« von Sarah Brooks ist stilistisch hochwertig geschriebene Weird Fiction, die mitunter einige Längen hat, aber unter dem Strich dem Hype gerecht wird. Wenn es ein Buch gibt, dass gleichzeitig sowohl unaufgeregt als auch unheimlich erzählt, dann ist es dieses.