Druckversion: Herzen im Aufruhr (Autor: Thomas Hardy)

Herzen im Aufruhr von Thomas Hardy

Rezension von Ralf Steinberg

 

Verlagsinfo:

Der Steinmetz Juda Fawley und seine Cousine Sue Bridehead lieben sich, doch Juda ist auf dem Papier der Gatte einer Frau, die ihn kurz nach der Hochzeit verlassen hat. Sue gibt den Werbungen des alternden Lehrers Phillotson nach und entdeckt zu spät, dass die Ehe mit dem ungeliebten Mann eine körperliche und seelische Qual für sie ist …

 

Rezension:

Thomas Hardy schrieb nach dem großen Skandal und den Anfeindungen um Jude the Obscure (dt. Herzen im Aufruhr) nur noch Lyrik. Im Nachwort erwähnt Wolfgang Barthel, dass Hardy besonders der Vorwürfe des Atheismus und von Unbedarftheit trafen.

Der Roman erschien dabei schon in einer gemäßigten Zeitungsvariante und dennoch brachte er breite Kreise der Bevölkerung gegen sich auf, samt Bücherverbrennung.

 

Skandale sind Kinder ihrer Zeit und manches mag uns heute kaum noch erregenswert erscheinen. »Herzen im Aufruhr« enthält jedoch einige Themen, die auch in unseren Augen noch ein großes Erregungspotential besitzen.

 

Zu Beginn lernen wir den elfjährigen Juda kennen, der sich von seinem Schulmeister, Mr, Phillotson, verabschiedet. Den Lehrer zieht es nach Christminster, einer nahe gelegen Stadt, einem Hort der Gelehrsamkeit, um dort zu studieren. Von da an ist Juda von der Stadt und ihren Möglichkeiten begeistert. Er träumt davon, einst selbst dort zu lernen und beginnt mit einem wilden Selbststudium, dass ihn bis in seine Jugend hinein antreibt. Doch dann wirft die Metzgertochter Arabella einen Blick auf ihn und beschließt, den jungen Mann für sich zu gewinnen. Juda wird von ihren Verführungskünsten überrumpelt, das Fleisch ist willig und als sie ihm erzählt, schwanger zu sein, steht für ihn außer Frage, das Mädchen zu heiraten.

Doch Arabella war nicht schwanger und schon bald merkt sie, dass Juda mehr für Bücher schwärmt als sich darum zu kümmern, dass sie in feine Tüchern gekleidet wird. Als ihre Eltern nach Australien auswandern, zieht sie mit. Juda, inzwischen Steinmetz geworden, flieht aus seinem Dorf endlich nach Christminster, in der Hoffnung, dort zum Gelehrten zu werden, wie er es von seinem alten Lehrer erwartet.

Doch Phillotson hat es nicht geschafft. Auch Juda merkt bald, dass die Tore der Colleges für ihn nicht weit offen stehen. Einziger Trost ist ihm die Anwesenheit einer Cousine in der Stadt. Zwar gehört sie einem verfeindeten Zweig der Familie an, doch Juda ist schon im Vorfeld von einem Bild von ihr fasziniert und als er sie endlich in einem Laden sieht, verliebt er sich Hals über Kopf.

Sue ist eine ganz besondere Frau. Wissbegierig und hochintelligent. Als die beiden sich endlich kennenlernen, wird schon bald klar, dass Sue und Juda auf der selben Wellenlänge schwingen. Und obwohl er eher konservativ denkt, bringen ihre Fragen und Zweifel genau den richtigen Schwung in sein Denken. Er ist begeistert. Als sie wegziehen will, weil sie ihre Arbeit verlor, stellt er sie Phillotson als mögliche Hilfslehrerin vor. Der zwanzig Jahre ältere Mann verliebt sich prompt ebenfalls und macht ihr einen Antrag …

 

Das Beziehungsgeflecht der vier Hauptfiguren ist komplex. Im Mittelpunkt steht die seltsame Liebe zwischen Sue und Juda. Da Juda bereits verheiratet ist, als er Sue kennenlernt, sieht er keine Möglichkeit, sich ihr zu offenbaren. Sie findet ihn interessant, aber von Anfang an ist klar, dass sie vor allem seinen Geist schätzt. Von der Ehe hält sie gar nichts, findet das Eigentumwerden der Frau menschenunwürdig und noch mehr verabscheut sie den damit verbundenen Zwang, dem Ehemann sexuell willig sein zu müssen.

Und doch lässt sie sich in die Ehe mit Phillotson treiben, denn ihre Beziehung zu Juda löst einen mittleren Skandal aus, obwohl sich die beiden nur zum Reden und Spazierengehen treffen. Aber als es dann nach der Hochzeit soweit ist, und Phillotson die Ehe vollziehen will, stürzt sich Sue aus dem Fenster, verletzt sich dabei aber nur leicht. Das reicht dem alten Mann jedoch aus um zu erkennen, dass er Sue nicht wirklich an sich gebunden hat. Im Wissen, seine Karriere zu ruinieren, lässt er seine Frau ziehen. Nicht nur Sue wird von der Gesellschaft geächtet, auch die schwache Ehemann, der seine Frau nicht im Griff hat, ist in der viktorianischen Gesellschaft eine Unmöglichkeit.

 

Nun könnte es eigentlich etwas werden mit Sue und Juda. Doch Sue liebt ihre Unabhängigkeit. Selbst nachdem sie beide schuldig geschieden werden, und somit frei sind, lebt sie zwar gern mit ihrem Geliebten zusammen, aber schlafen will sie nicht mit ihm.

Bis Arabella wieder auftaucht. Aus Angst, Juda würde sich bei der properen Arabella das holen, was sie ihm verweigert, lässt sie nun auch Sex zu. Hardy geht auf diesen fundamentalen Bruch in Sues Leben nicht weiter ein. Vermutlich konnte er sich gar nicht wirklich vorstellen, was diese Situation für seine Figur tatsächlich bedeutet. Dieses Loch im Roman wirkt sich im weiteren Verlauf verheerend auf das Verständnis für Sues Handlungsmotivation aus. Denn der dramatische Höhepunkt des Roman beginnt im letzten Viertel, sehr sehr spät.

Denn Arabella hat noch ein ›Geschenk‹ für das Paar. Sie wurde doch noch schwanger von Juda, das Kind kam in Australien zur Welt. Nun wurde ihr der Junge nach England geschickt, doch als Wirtsfrau hat sie für das Kind keinen Platz. Juda nimmt es ohne zu zögern auf. Dabei lebt die inzwischen vierköpfige Familie, ein drittes Kind ist unterwegs, halbwegs glücklich, bis wieder einmal die nicht legitimierte Art ihrer Beziehung zum Thema in ihrer Umgebung wird. Die gesellschaftliche Ächtung führt zum Verlust der Arbeit, zur Armut. Nach einem Umzug finden sie keine Unterkunft. Der stille und in sich gekehrte, vom Leben bisher nie gut behandelte Junge, bezieht das Unglück auf sich. Die Katastrophe ist schrecklich. Er bringt sich und die beiden anderen Kinder um.

Die Geschichte dreht sich abrupt ins Drama.

Was jetzt passiert, ist die Umkehrung der Weltanschauungen von Sue und Juda, das Zerstören ihrer Lebenspläne und der scheinbare Sieg der Konventionen. Für einen kurzen Augenblick können sich sowohl Phillotson als auch Arabella als Siegerin und Sieger fühlen. Sue kehrt zu ihm, Juda zu ihr zurück. Doch diese Rückkehr betrifft nur noch Hüllen. Die beiden großen Liebenden haben die Welt hinter sich gelassen. Das Ende ist unabwendbar.

 

Thomas Hardy seziert in »Herzen im Aufruhr« nicht einfach nur die moralischen Zwänge im viktorianischen England, er skizziert zugleich eine mögliche Weiterentwicklung der Beziehung zwischen den Geschlechtern. 50 Jahre voraus sei das Denken von Sue, stellt Juda fest und was sie sich für eine zukünftige Form der Ehe vorstellen, ist auch tatsächlich eine revolutionäre Weiterentwicklung. Ihr zugrunde liegt nicht nur eine weitgehende Angleichung der Rechte von Mann und Frau sondern auch ihrer sexuellen Freiheit.

Die durch die Religion definierte Rolle der Frau als Gebärmaschine, was notwendigerweise Sex bedeutet, in Verbindung mit der heiligen Aufgabe der Ehe, für Nachwuchs zu sorgen, führt zu einer gesellschaftlich akzeptierten sexuellen Ausbeutung. Sue wehrt sich gerade gegen diese Verpflichtung. Hardy stellt Sue als eine Frau dar, die völlig vergeistigt ist und überhaupt keinen Sinn für Leidenschaft hat, die über Küsse hinausgeht. Den sinnlichen Part überlässt er der Bäuerin Arabella, die allen fleischlichen Genüssen zugetan ist. Hardy koppelt das aber sofort an negativ besetzte Eigenschaften, wie Flatterhaftigkeit, Eitelkeit und Intrigantentum. Seine Frauen sind entweder asexuelle Engel oder Männerverführende Vamps.

 

Sein Juda hingegen ist wesentlich vollständiger. Er mag die Wissenschaft, aber auch die Genüsse. Er kann asketisch leben und sich dennoch bei Gelegenheit hingeben. Oder anders betrachtet: Hardy erlaubt ihm, beides zu können. Auch für Phillotson stellt es kein Problem dar, einem jungen Mädchen nachzusteigen. Aber mit Gewalt will er es auch nicht erreichen, vielmehr lebt er tief nach seinem inneren Humanismus und verzichtet bewusst auf Sue. Ähnliches vollbringt auch Juda. Die Männer folgen einerseits ihrem Herzen, beugen sich andererseits auch der Vernunft. Ihre Opfer werden ein Stück weit zelebriert, während die Frauen ganz in ihren eigenem Willen aufgehen.

Das wird umso deutlicher, je öfter wir den Diskussionen zwischen Juda und Sue über das Heiraten verfolgen. Die Wiederholungen nerven zunehmend und unterstützen den Eindruck, Sue reite auf etwas herum, dass längst klar und gar nicht mehr von Interesse sei. Versuchte Hardy ihre Argumente dadurch abzuwerten? Die Antwort mag für Zeitgenossen anders zu beantworten gewesen sein als für uns heute. Wenn man seine Reaktion auf die vernichtende Kritik betrachtet, mag manche heute extrem erscheinende Formulierung nur mangels Kenntnisse der damals bekannte Werke und Autoren derart in uns explodieren. War Sue wirklich asexuell und nichtreligiös? Oder galt sie für Hardy nur als extrovertiert und hysterisch? Hysterie bei Frauen wurde einst diagnostiziert, wenn die Probandinnen eigentlich nur sexuell unbefriedigt waren. Es wurde sogar von der männlich geprägten Öffentlichkeit davon ausgegangen, dass weibliche Sexualität mit Lust oder gar einem Orgasmus überhaupt nichts zu tun hätte. Hardys Werk merkt man diese Kenntnislücken an einigen Stellen an.

 

Aber trotz dieser Abstriche an vermutbarer feministischer Power bleibt »Herzen im Aufruhr« ein sozial- und religionskritischer Roman, der sich nicht scheute, Licht in die Schlafzimmer eines zugeknöpften Zeitalters zu bringen.

 

Fazit:

»Herzen im Aufruhr« von Thomas Hardy lieferte zu seiner Zeit nicht nur einen ausgewachsenen Skandal sondern auch eine tragische Liebesgeschichte und das Porträt einer Frau, die sich nicht in die engen Fesseln einer männlich dominierten Abhängigkeit namens Ehe begeben wollte. Hardys letzte Prosa-Arbeit ist eine fordernde Lektüre selbst für uns, die wir davon träumen, der Gleichberechtigung gerecht geworden zu sein.

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Buch:

Herzen im Aufruhr

Original: Jude the Obscure, 1895

Autor: Thomas Hardy

Übersetzerin: Eva Schumann

Nachwort: Wolfgang Barthel

Cover: Pal Szinyei Merse

Anaconda Verlag, 2008

gebundene Ausgabe, 559 Seiten

 

ISBN-10: 3866477686

ISBN-13: 978-3866477681

 

Erhältlich bei: Amazon

, zuletzt aktualisiert: 05.08.2023 15:12