Hundert Augen (Autorin: Samanta Schweblin)
 
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Hundert Augen von Samanta Schweblin

Rezension von Matthias Hofmann

 

Hundert Augen ist einer dieser Near-Future-Romane, die eigentlich schon heute spielen könnten. Oder gar gestern. Was da dystopisch beschrieben wird, wäre technisch längst denkbar.

 

Es geht um sogenannte »Kentukis«: interaktives Spielzeug, das aus einem Plüschtier, einer Kamera, einem Modem und einer mechanisch beweglichen Basis besteht. Diese Bären, Hasen, Krähen oder auch Drachen, sind nichts Anderes als »Maulwürfe«, mit denen man in die Privatsphäre von anderen Menschen hineinspähen kann.

 

Grundsätzlich wird unterschieden zwischen den Kentuki-Besitzern, die sich so ein künstliches haustierähnliches Spielzeug kaufen, und den Menschen, die es steuern. Ist ein Kentuki einmal aktiviert und mit einem zentralen Server verbunden, muss sein Akku von seinem Besitzer regelmäßig aufgeladen werden, sonst verliert er nicht nur die Verbindung zum Steuerer, sondern auch zum Server. Und zwar für immer. Ein weiterer Clou ist die Tatsache, dass ein Besitzer nicht weiß, wer sein Kentuki bedient und eine vernünftige Kommunikation ist ebenfalls nicht möglich. Es geht nur darüber, was die Kamera des Kentukis sieht, wie erfindungsreich Besitzer und Bediener sind, und was mit mechanischen Bewegungen des Geräts realisierbar ist, wie z. B. Augenzwinkern des Plüschtiers oder ruckhaftes Hin- und Herfahren. Da alles in Echtzeit passiert, kann es also vorkommen, dass im südamerikanischen Peru ein kleines Kind über viele Zeitzonen hinweg den Haushalt einer alten Großmutter in Europa beobachtet.

 

Samanta Schweblin, die zuvor Kurzgeschichten und eine Novelle veröffentlicht hat, legt mit »Hundert Augen« ihren ersten Roman vor. Dieser ist jedoch eher eine Art Episodensammlung mit verschiedenen Charakteren, die Erfahrungen im Umgang mit einem Kentuki sammeln. Zwar treten einige Handlungsstränge und Personen mehrfach auf und entwickeln sich auch weiter, aber die in Berlin lebende Argentinierin hat ihr Werk zusätzlich mit einigen Sequenzen angereichert, die singulär weitere Facetten der Auswirkungen dieses interaktiven Spielzeugs zeigen. So zeigen gleich zu Beginn von »Hundert Augen« drei junge Mädchen aus Jux und Tollerei ihrem Kentuki ihre nackten Brüste. Und damit auch einer völlig unbekannten Person, die irgendwo auf der Welt zu schaut. Eine aufregende Sache, aber irgendwie auch gruselig.

 

»Hundert Augen« ist kein Science-Fiction-Roman, wie ihn Genre-Autoren schreiben würden. Er ist aber typisch für eine SF, wie sie immer öfter aus Richtung der allgemeinen Literatur kommt. Dystopien sind schwer im Kommen, eigentlich schon seit einigen Jahren. Immer mehr Romane werden weltweit geschrieben, die unter dem unsichtbaren Mäntelchen der Science-Fiction die Auswüchse der modernen Gesellschaft reflektieren und extrapolieren. Natürlich, ohne dass das Label »SF« draufklebt. Das ist eine bewusste Entscheidung, denn diese Etikett ist im Zusammenhang mit der seriösen Literatur offiziell nicht en vogue. Was man auch an Reaktionen wie z. B. der des Briten Ian McEwan ablesen kann, der in Interviews über seinen 2019 erschienenen Roboterroman Maschinen wie ich stets zu Protokoll gab, dass es sich bei seinem Roman auf gar keinen Fall um SF handele.

 

Schweblin greift mit ihren Kentukis eine Entwicklung auf, die auf der Faszination von interaktivem Spielzeug fußt. Schon 1997 wurde das Tamagotchi, eine Art virtuelles Küken, als Zeitfresser von Jung und Alt geliebt und gehasst. Wem das Plastikding zu abstrakt war, konnte sich wenig später ein sogenanntes Furby zulegen. Dieses Plüschspielzeug konnte man nicht nur streicheln wie einen Teddybären oder eine Puppe, sondern auch kitzeln und dann beobachten, wie es mit den Ohren wackelte oder die Augen schloss.

 

Geht es um einen direkten Einfluss der Privatsphäre, so ist man heutzutage schnell bei Alexa, Siri und Co. Ein intelligenter Lautsprecher wie Amazon Echo wird auch in deutschen Haushalten immer beliebter, auch wenn den Besitzern bewusst sein dürfte, dass sie sich eine Art Abhörgerät in die Wohnung geholt haben, das ausspioniert was gesagt wird und obendrein mit Servern außerhalb des Haushalts kommuniziert.

 

All die Geschichten von Menschen, die sich einen Kentuki gekauft haben oder durch die Steuerung quasi selbst zum Kentuki werden, machen nachdenklich. So ist es weniger eine schräge Liebe zu verrückten Gadgets, die Kentukis immer beliebter werden lässt, sondern Einsamkeit und Kommunikationsmangel, aber auch Voyeurismus.

 

Samanta Schweblin zeigt in »Hundert Augen« Missstände der modernen Gesellschaft, prangert diese aber nicht an. Sie überlässt es ihren Lesern, ob das gut, schlecht oder tolerierbar ist. Sie beleuchtet zwar die Schattenseiten, erzählt aber auch von Personen, denen die Beziehung zu einem Kentuki hilft. Fast möchte man dem etwas zu reißerisch geratenen Klappentext zustimmen: »Hundert Augen ist ein visionärer Roman über unsere vernetzte Gegenwart und über den Zusammenprall von Humanität und Horror.«

 

Ein Aspekt wird im Roman jedoch nicht wirklich geklärt. Dass viele gerne in anderen Haushalten Mäuschen spielen würden, klingt plausibel. Aber wieso sollte ein durchschnittlicher, »normaler« Mensch (was immer das auch sein mag), sich einen anonymen Spion in die Wohnung holen, von dem man nicht einmal weiß, um wen es sich dabei handelt?

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Buch:

Hundert Augen

Original: Kentukis, 2018

Autorin: Samanta Schweblin

Übersetzung: Marianne Gareis

Hardcover, 252 Seiten

Suhrkamp, 17. August 2020

 

ISBN-10: 3518429663

ISBN-13: 978-3518429662

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B086Q19FM1

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 13.10.2020, zuletzt aktualisiert: 05.04.2024 13:00, 19074